13. Dezember 2021

Das Moor, die Schuldigkeit

Torf, für gesunde Ernährung und gesunde Umwelt - so wirbt der lettische Torfverband (Latvijas Kūdras asociācija LKA) heute noch für seine Produkte. Laut einer Informationsbroschüre des Lettischen Naturschutzfonds nahmen 1997 Torfmoore 316 ha oder 4,9% der Landesfläche Lettlands ein ("Dzīvība purvā") - 1980 sollen es noch 9,9% gewesen sein (LVGMC). 1995 hatte Lettland die auf dem Umweltgipfeltreffen von Rio de Janeiro 1992 beschlossene "Klimakonvention" ratifiziert. Bereits 1982 war Teiči, mit fast 20.000 ha Lettlands größtes Hochmoor, unter Naturschutz gestellt worden. 

Nach Angaben des lettischen Zentrums für Umwelt, Geologie und Meteorologie (Latvijas Vides, ģeoloģijas un meteoroloģijas centrs) wurden Ende der 1980er Jahre in Lettland noch mehr als 2,5 Millionen Tonnen pro Jahr an Torf abgebaut. In den 1990er Jahren ging der Abbau allmählich zurück, 1998 waren es noch 209.000 Tonnen. Torf wurde in Lettland vielfach genutzt - unter anderem auch für Torf-Heizkraftwerke (ab 2003 eingestellt). 

Nun gibt es die neue EU Strategie "Green Deal", der zufolge die Verwendung von Torf im Gartenbau bis 2030 oder spätestens bis 2035 auslaufen sollte, wenn alternative Materialien zur Verfügung stehen. Deshalb befindet sich der Torfabbauverband LKA, zusammen mit dem Verband der lettischen Gartenbaubetriebe (biedriba “Latvijas dārznieks”) und dem Wirtschaftsmininsterium Lettlands gegenwärtig in Gesprächen mit der Europäischen Union, welche Auswirkungen die neue EU-Strategie auf Lettland haben könnte (LKA-Bericht). Wird also die Torfproduktion bald von Lettland nach Belarus oder Russland abwandern, wie es die lettische "Dienas bizness" befürchtet?

In einem Informationsblatt der Europäischen Union ist Folgendes zu lesen: "Es wurde festgestellt, dass Ersparnisse in der Größenordnung von 183 kg CO2-eq je Tonne Kompost erzielt werden, wenn Torf durch Kompost ersetzt wird." Und weiterhin auch: "Torf ist ein nicht erneuerbares Material, das aus dem Boden gestochen wird. Dieser Abbau führt zu einem Verlust natürlicher Ökosysteme und dem daraus resultierenden Rückgang der biologischen Vielfalt und der Arten."

Längerfristig geht es also um die Einstellung der Torfnutzung sowohl im Energiesektor, um Rekultivierung degradierter Torfmoore und "Öko-Wirtschaft" auch im Torfsektor. Journalistin Ingūna Mieze berichtete kürzlich für die "Latvijas Avize" aus Irland: Lettland hatte 3600 t Torf dorthin exportiert, nachdem die irische Regierung den einheimischen Torfabbau gestoppt hatte - nun protestierten irische Gartenbaufachleute und Pilzzüchter mit dem Argument, nur frischer Torf sei vollwertig zu gebrauchen, ein Import von Torf sei also inakzeptabel. 

Das deutsche Umweltbundesamt sieht es so: "Es wird ferner angenommen, dass bis 2030 ein Viertel der inländisch produzierten Torfmenge durch Komposte ersetzt werden kann. Bis 2040 wird der Abbau vollständig eingestellt. Entscheidend ist dabei, dass die Substitution der inländischen Torfe nicht durch importierten Torf (z.B. aus dem Baltikum) erfolgt." 

Werbeseite der Firma
"Erden-Lensing", Dorsten

"Es gibt 60 Millionen Gründe, den Gebrauch von Torf auch nach 2030 weiter zu erlauben!", meint dagegen Laima Zvejeniece, Produktionsleiterin bei der lettischen Staatsforsten von "AS Latvijas valsts meži" (LVM). Von den 56 Millionen Jungpflanzen, die LVM jedes Jahr verkaufe, würden 80% zur Wiederaufforstung der Wälder verwendet, zählt sie auf. 94% der in Lettland erzeugten Setzlinge werden in Containerpflanztechnik angebaut - dafür kauft LVM jährlich bis zu 14.000 m3 Torfsubstrat und bis zu 25.000 m3 Mahltorf zu.
20% des in Lettland abgebauten Torfs gehen in den Export - meist im Rahmen langfristiger Lieferverträge nach Skandinavien. All dies sei durch den neuen "Grünen Kurs" der Europäischen Union nun gefährdet. (delfi)

Die EU solle nicht pauschal für ganz Europa urteilen, sondern die Situation in jedem Land einzeln bewerten, meint Zvejeniece. In Lettland beispielsweise sei die Situation im Bereich der Moore um ein Vielfaches besser. "Etwa 70 % der lettischen Moore sind unberührt und etwa 40 % befinden sich in besonders geschützten Naturgebieten. Nur in vier Prozent der Moore findet eine wirtschaftliche Aktivität, also der Torfabbau statt." 

Bei solchen Zahlen wird allerdings unterschlagen, dass Lettland viel zu viel Waldfläche per Kahlschlag vernichtet ("aberntet") - Holz bringt derzeit seht gute Verkaufspreise. Wo nichts mehr wächst und mit großen Maschinen der Waldboden geschädigt wird - da muss dann Ersatz her: sehr viel auf einmal, und sehr viel Torf. 

Die sogenannte "Plattform für einen gerechten Übergang" bietet den EU-Mitgliedsländern Hilfestellung bei erforderlichen Umstellungen an. Genau dazu hat die lettische Torfindustrie bereits ihre Planungen vorgestellt - es geht natürlich um Geld (Territorial just transition plan). 

Lettische Torfabbaufirmen wie ZIBU (Ventspils), Torfo oder Kudras (Valle, bei Bauska) bezeichnen, offenbar unangefochten von solchen Diskussionen, Torf immer noch als "wichtigste natürliche Ressource Lettlands" - im Sinne ihrer Nutzung, natürlich. Deutsche Firmen importieren und vermarkten eifrig Torf aus Lettland, so zum Beispiel: "Ziegler Erden", "Hawita" (Bericht), Klasmann-Deilmann (Osnabrücker Zeitung), "Erden-Lensíng" (Dorsten), Neuland-Hum (Wachenroth-Buchfeld), Mygreenhorizon (Moormerland), TerraCult (Oldenburg), Plantaflor (Vechta), SvenMagnussen (Elmshorn), oder auch die niederländische LEGRO aus den Niederlanden, die auch eine Niederlassung in Worpswede unterhalten. Im hessischen Bad Hersfeld wurde auch schon mal eine Torfladung bestoppt, die schlecht gesichert in losen Ballen auf dem LKW gestapelt war (Osthessen-News)

Was ist der größere Reichtum - der Torf oder die Natur? So fragte Artūrs Jansons schon vor Jahren in der lettischen Umweltzeitschrift "Vides Vestis". Er kritisiert unter anderem, die Zahlen über die Torfvorkommen in Lettland seien hoffnungslos veraltet und stammten teilweise noch aus Sowjetzeiten. In Lettland gäbe es kein Datenbank, wo alle Daten zu diesem Bereich zusammengefährt und ausgewertet werden könnten. 

Biologin Māra Pakalne, eine der bekanntesten Moorschutz-Expertinnen Lettlands, schreibt in einem Vorwort zu einem Naturschutzprojekt: "Verglichen mit anderen Staaten Westeuropas haben sich lettische Moore noch viel Ursprüngliches erhalten. Biologische Vielfalt, die in anderen Staaten durch menschliche Aktivitäten längst verloren gegangen ist, können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hier noch in der Realität erforschen." 

15. November 2021

Herr der Krimis

Wenn im deutschsprachigen Raum nach Kriminalromanen aus Lettland gefragt wird, dann wird meist nur sein Name genannt. Zwar erschienen die meisten der Übersetzungen ins Deutsche schon zu Sowjetzeiten, doch das Geschehen in seinen Krimis spielt sich in Riga ab und spiegelt viele Details des Alltagslebens.

Sein Vater war Schiffskapitän, arbeitete dann später wie auch die Mutter bei Rigas großer Elektronikfabrik VEF. Sohn Andris, geboren 1938, jobbte jahrelang bei verschiedenen Firmen in Riga - unter anderem montierte er bei VEF Radioapparate. In den bewegten 1960iger Jahren studierte er Druckgrafik in Moskau.

Das kriminelle Milieu hatte er in sofern selbst erlebt, dass er als Jugendlicher wegen eines Bagatelldiebstahls zu einer dreimonatigen Haftstrafe im Zentralgefängnis Riga verurteilt wurde. Im Alter von zwanzig Jahren wurde er fälschlicherweise des Raubes in einer Gruppe angeklagt und verurteilt, er musste fünf Jahre im Gefängnis von Brasa verbringen. Noch während der Zeit im Gefängnis machte er seinen Abschluß an einer Abendschule, arbeitete in einer Näherei, organisierte Basketballturniere und begann zu schreiben. Unter dem Pseudonym "Ogļukalns" war er Mitherausgeber einer Gefängniszeitung.

Als seine erste Publikation gilt 1965 die Humoreske "Ledusskapis" ("Eisschrank") in der Satirezeitschrift "Dadzis". 1974 wurde er Mitglied der lettischen Schriftstellervereinigung. Seit dieser Zeit schrieb er Kriminalromane, die inzwischen in 16 Sprachen übersetzt wurden (literatura.lv). Sein erster Krimi war 1977 "Krimināllieta trijām dienām", in Deutsch 1989 unter dem Titel "Drei Tage zum Nachdenken" erschienen. Dieser, wie auch andere, wurden zu Vorlagen für verschiedene Filme. Er schrieb aber auch selbst eine Reihe Filmdrehbücher, und sogar Stadtführer für Riga und Jūrmala. Deutsch sind bisher außerdem erschienen: "Die Nackte mit dem Gewehr" ("Fotogrāfija ar sievieti un mežakuili") und "Der tätowierte Mann" ("Nekas nav noticis"). Letzteres berührte auch ein Tabu der Sowjetunion: es schildert organisiertes Verbrechen. Einige weitere Titel warten noch auf eine Übersetzung. 2011 erhielt er den Jahrespreis der lettischen Literatur für sein Lebenswerk.

Als 1989 der Rigaer Lettische Verein (Rīgas Latviešu biedrība) wieder gegründet wurde, war er deren erster Vorsitzender. Er galt auch als leidenschaftlicher Jäger und Angler. Seit 1972 war er mit seiner Frau Aīda verheiratet, aus der Ehe gingen die drei Kinder Klaida (1972), Madara (1977) und Dāvis (1982) hervor. 

"Riga, die Heimatstadt des Schriftstellers, ihre Menschen, das Leben, der Alltag, die Tugenden sind die Hauptmotive seiner Arbeit, seine unerschöpfliche Typen- und Geschichtengeber. Seine Geschichten und Romane sind eine überzeugende, historisch und sozial zutreffende Darstellung verschiedener Schichten und Typen der modernen Gesellschaft im weiteren oder engeren Kontext der Epoche." (Zitat aus Ingrīda Kiršentāle: "Latviešu rakstnieku portreti", zitiert nach literatura.lv)

Andris Kolbergs starb am 5. November 2021 in Riga an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung.

1. November 2021

Warten auf 25

"Die pandemischen Zeiten haben die Leute wieder zum Lesen gebracht," so berichten Repräsentantinnen Lettlands von der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Gleichzeitig berichten die Buchverleger/innen von steigenden Umsätzen, nachdem aufgrund geschlossener Buchläden die Nachfrage zunächst auf ein niedriges Niveau gesunken war. 

Lettische Imagewerbung
für Buchliebhaber/innen:
schüchtern, männlich,
lebensfremd?

Lettland bemüht sich Gastland auf der Frankfurter Buchmesse des Jahres 2025 zu werden - einige lettische Pressestimmen vermeldeten schon Wochen vor dem diesjährigen Messebeginn einen positiven Bescheid der Frankfurter Messeleitung (tvnet). - "Es war uns wichtig, auch in diesem Jahr zu zeigen, dass wir da sind", betont auch Juta Pīrāga von "Latvian Literature” gegenüber der lettischen Presse (lsm). Dabei wird deutlich, dass offenbar viele der Gesprächspartner/innen in Frankfurt zunächst einmal ihr "Beileid wegen der Situation in Lettland" ausgedrückt hätten - schließlich ist inzwischen auch überall in der deutschen Presse von der niedrigen Impfrate und massenhaften Covid-Erkrankungen zu lesen. Das angebliche Lob für das schöne Design des lettischen Messestandes wirkt da doch etwas alibihaft - schon jahrelang grinst hier den Besucher/innen ein offenbar unter Verklemmungen leidender männlicher Typ entgegen ("The Introvert"), ganz nach dem Motto: unsere Sprüche wirken wie Selbsterkenntnis, aber der Typ ist am Ende doch unsympathisch. Für 2025 werden - hoffentlich - kreative lettische Designer/innen noch einmal einen guten Auftrag bekommen ...

Im Aufwind sei auch die Kinder- und Jugendliteratur, erzählt Alīse Nīgale, Chefin des Verlags "Liels un mazs". Hier kommt Lettland gegenwärtig der Überraschungserfolg von Anete Meleces "Kiosk" zu Gute - eine Künstlerin die inzwischen in der Schweiz lebt. Das Buch sei inzwischen bereits in 20 Sprachen übersetzt, heißt es - darunter Koreanisch, Katalanisch, Italienisch, Slowenisch, Kroatisch und Japanisch. International ebenfalls beim Rechteverkauf ziemlich erfolgreich sei der Roman "Mātes piens" von Nora Ikstena (deutsch "Muttermilch"), der es auf Übersetzungen in zwölf Sprachen gebracht habe, und auch "Jelgava 94" von Jānis Joņevs mit zehn Übersetzungen (Erscheinen in Deutsch steht noch bevor), so berichtet Juta Pīrāga (domuzīme). Und es gibt auch Misserfolge: beim Versuch, eine Übersetzung von Anšlavs Ēglītis "Homo novus" ins Englische zu veranlassen mussten die lettischen Literaturagent/innen feststellen dass die Rechte für alles Englischsprachige in diesem Fall schon einer Vereinigung in den USA gehörten - die sich einer Zusammenarbeit verweigerte.

Vorläufig ist aber von einem "Run" auf Übersetzungen lettischer Literatur ins Deutsche noch sehr wenig zu sehen - eher das Gegenteil. Die aktuellen beiden lettischen Ausschreibungen (2021-2 / 2021/1) für finanzielle Unterstützung für Verlage und Übersetzer/innen förderten insgesamt 76 Projekte. Nur vier (!) davon bezogen sich auf Übersetzungen ins Deutsche - darunter zwei Kinder- bzw. Jugendbücher, eine Lyrik-Übersetzung aus dem Russischen, und nur ein einziger Roman. Dominierend sind dagegen momentan die Nachbarländer: 32 der 76 Projekte (42,1%) beziehen sich auf Übersetzungen ins Estnische, Finnische und Litauische.

Aber vielleicht ist die deutsche Sprache im Frankfurter Messezirkus gar nicht so entscheidend, und schon gar nicht Voraussetzung? Die lettischen Delegierten brachten dieses Jahr auch noch den Ratschlag mit, nicht nur eine gedruckte, sondern auch eine digitale Präsentation vorzubereiten. Vorbereitung für den nächsten Krisenfall? Wer weiß - bis 2025 kann noch viel passieren. 

Analysen der Position Lettlands im internationalen Buchmarkt erwähnen auch gute Aufträge für die Produktion von Büchern, besonders den Druck. Bücher internationaler Autor/innen, gedruckt in Lettland - keine Seltenheit. Als direkte Folge des Lettland-Schwerpunktes auf der Buchmesse London 2018 wurden angeblich im Laufe der drei Folgejahre die Rechte von 248 Werken lettischer Autorinnen und Autoren ins Ausland verkauft, dazu noch eine Steigerung von "Druckserviceleistungen" in Richtung Großbritannien von 350% (tvnet). So mache allein der Buchdruck inzwischen bei den Druckereien in Lettland 80% der Gesamtproduktion aus.

25. Oktober 2021

Erntezeit

Eigentlich gilt ja Lettland, wenn nach Religionszugehörigkeit gefragt wird, allgemein mehrheitlich als evangelisch / lutherisch. Wer sich jedoch Ende Oktober in Lettland aufhält wird bemerken, dass keineswegs das ganze Land einmütig "Reformationstag" feiert. Allerdings: obwohl es eine Zeitlang als "modern" gerade unter jungen Leute galt zu wissen, was "Halovīns" bedeutet, ist Lettland dennoch weit davon entfernt, mit dem Beginn der dunklen Jahreszeit nun das Gedenken an Verstorbene zur Gruselveranstaltung mit Leuchtkürbissen zu machen - im Gegenteil: die einen erklären sich die Faszination dieses Tages aus dem immerwährenden Wunsch der Kinder nach Süßigkeiten, die anderen beklagen einen mit diesem Tag verknüpften zunehmenden Vandalismus (mit dem vorgeschützten Argument, irgend jemand erschrecken zu wollen). 

Aber bleiben wir doch bei den Kürbissen - denn die gibt es sehr wohl! Erntestolz, das ist kaum einem Letten / einer Lettin fremd. Am 20.Oktober wurde auf dem Gelände des Rigaer Zoos der größte Kürbis der Nation prämiert - 294 kg wog das Siegerexemplar einer Familie aus dem kurländischen Skrunda. Platz zwei und drei lagen mit 263,5 kg und 183 kg schon einiges dahinter. Es war die 16. "Große lettische Kübrismeisterschaft", gesponsert von der Supermarktkette "Maxima", die in diesem Jahr ihr zwanzigjähriges Bestehen feiert. Der bisher in diesem Rahmen festgestellte "Kürbis-Gewichtsrekord" stammt aus dem Jahr 2018: eine Züchterin aus Kuldiga konnte einen Kürbis mit 574 kg auf die Waage bringen (skaties.lv).

7. Oktober 2021

Frauen an der Wand

Stellen Sie sich mal vor, Sie machen einen Spaziergang durch Riga. Nein, diesmal nicht durch die Altstadt, sondern zum Beispiel durch die Akas iela in der nördlichen Innenstadt, die keinerlei auffällige Sehenswürdigkeiten bietet und Rigas Gäste daher wohl eher zufällig durchqueren werden. An einer Hauswand ein Wandbild. "Oh," werden Sie vielleicht denken, "wie schön, auch in Riga gibt es immer mehr Platz für die Kunst, und nicht nur staubige Straßen und graue Hauswände." Und falls Sie dann noch Lettisch verstehen, werden sie rechts unten, zusätzlich zur Signatur des Künstlers, von der Stiftung "Kunst braucht Platz" ("māksla vajag telpu") erfahren, und vielleicht denken: "ganz genau - mehr davon!" 

Und wenn Sie dann, inspiriert von Ihrem Besuch in Riga, wieder zu Hause sind, lesen Sie vielleicht (spätestens in diesem Moment!) davon, dass in Riga ein Wandgemälde sehr viel Kritik ausgelöst haben soll. Und Sie stellen mit Überraschung fest: was? Genau dieses?

Nun gut, wir geben zu: auch in Riga sind inzwischen viele Häuserwände mit penetranter Werbung ausgestattet, und die fallen bei jedem Spaziergang viel mehr auf. Ich käme nicht auf die Idee, mit einem Antrag an die Stadtverwaltung könnten diese teilweise dümmlichen Sprüche verboten werden. Das umstrittene Werk war immerhin eine Auftragsarbeit, und nicht das Ergebnis einer Nacht-und-Nebelaktion. 

Das Kunstwerk trägt den Titel “Veltījums Džemmai Skulmei” (Widmung an Džemma Skulme), eine der bekanntesten lettischen Künstlerinnen und Leitfigur der lettischen Unabhängigkeitsbewegung, die vor zwei Jahren, im Alter von 94 Jahren, verstarb. Grundlage für das Wandbild des Künstlers Kristians Brekte seien Kinderzeichnungen gewesen, so wie sie auch Skulme häufig in ihren Werken verwendet habe - speziell in den beiden Bildern “Atgriešanās” un “Modelis” (lsm). Brekte ergänzt sein Kunstwerk mit einem Satz, der in Leuchtbuchstaben anmontiert ist:  “Mēs esam kā sliekas, kurām jāirdina augsne” ("wir sind wie Regenwürmer, die den Boden lockern müssen")

Die Kritiker jedoch verweisen vor allem darauf, dass die Wand des mit dem Kunstwerk bereicherten Gebäudes zu einer Mittelschule gehöre (Rigas 40.vidusskola). Fast 5.000 Unterstützer/innen unterschrieben eine Forderung, das Gemälde von der Wand wieder zu entfernen (manabalss.lv / jauns.lv / LA). Im Text dieses Aufrufs ist von "kindertraumatischen Texten mit erotischen Elemente" und "Andeutungen von Tod, Sexualität und möglicherweise Satanismus" die Rede. Im lettischen Kinderschutzgesetz sei außerdem festgelegt, dass ein Kind "keinen Zugang zu Materialien haben darf, die grausames Verhalten, Gewalt, Erotik, Pornografie fördern und die geistige Entwicklung des Kindes gefährden." 

Dem widerspricht der lettische Bürgerrechtsbeauftrage (Latvijas Republikas Tiesībsargs) Juris Jansons. Sein Urteil, auf einen Satz verkürzt zusammengefasst: "ein Kunstwerk ist nicht allein deshalb rechtswidrig, nur weil Kinder die darauf dargestellten Zusammenhänge und Assoziationen nicht gänzlich verstehen." Jansons verweist allerdings auch darauf, dass eine endgültige Entscheidung natürlich nur der Stadtrat Riga treffen könne. - Doch die Brekte-Hasser geben keine Ruhe: inzwischen liegt eine Klage gegen ein anderes Brekte-Kunstwerk vor, und wieder lautet die Anklage auf angebliche "Pornographie". (apollo.lv) Katrīna Jaunupe, Leiterin des Projekts "Māksla vajag telpu" bezeichnet diese Vorwürfe als "absurd": "Kunst hat eine ganz andere Aufgabe, sie ist keine Werbung, sie ist kein Merkblatt, das uns etwas lehrt, sie ... hat die Aufgabe, zum Nachdenken anzuregen."

Journalistin Ulrika Jefremova besuchte für das Portal "Apollo.lv" die Schule und gibt Reaktionen der Kinder wieder. Aber auch deren Antworten, ganz kindgemäss, führen nicht zur Beruhigung der Debatte. Antworten auf die Frage, was den Kindern gefalle, lauten etwa "diese Frauen". Oder "ich mag es gerade deshalb, weil es ungewöhnlich ist," zitiert Jefremova einen Schüler der 7.Klasse. 

An der Kunstakademie hatten derweil Studierende und Lehrkräfte ein Plakat zur Unterstützung ihres Kollegen angebracht - auf dem Plakat war Brektes Bild "Lietuvēns" zu sehen. Wenige Tage später fanden sich von dem Plakat nur noch verbrannte Reste (Apollo.lv / Twitter). Inzwischen wurde auch das Wandkunstwerk selbst mit Farbbeuteln verunziert (apollo.lv). Das provoziert andere wiederum zu der (rhetorischen) Frage: Was kommt al nächstes? Bücherverbrennung? "Nun ja," schreibt Journalist Aivars Ozoliņš lakonisch, "im Unterschied zur Wissenschaft, wo es im Krankenhaus enden kann wenn man Gravitation oder Elektrizität ignoriert - passiert eben gar nichts wenn man behauptet, ein bestimmtes Kunstwerk sei schlecht. (IR)

Kristians Brekte ist nicht nur anerkannter Künstler und Bühnenbildner, sondern auch Dozent an der Lettischen Akademie der Künste, inzwischen auch Leiter der Abteilung Malerei. Anlässlich ihres 90.Geburtstags hatte Džemma Skulme noch selbst gesagt: "Kunst kann nie zu viel sein" (Diena)

30. September 2021

Gesund ist das nicht ...

Schon seit längerer Zeit weist der lettische Verband der Ärztinnen und Ärzte (Latvijas Ārstu biedrība LĀB) auf Mißstände im lettischen Gesundheitswesen hin. Wie in vielen anderen Ländern auch, ist diese Branche gerade während der Pandemie oft in der Diskussion gewesen. Unter der Schlagzeile "ein kranker Mensch - ein kranker Staat" weisen die Fachverbände auf  erhebliche Unterfinanzierung hin: mit nur 1766 Euro pro Einwohner/in finanziert Lettland das eigene Gesundheitswesen (2505€ Litauen, 2512€ Estland). "Es sind nicht nur die überlangen Arbeitszeiten, sondern es gibt aufgrund der Zustände auch Menschenleben, die wir nicht retten können", sagt Ärzteverbands-Chefin Ilze Aizsilniece.

Zur Zeit verlassen jedes Jahr 200 Ärztinnen und Ärzte Lettland - und das nicht wegen der Pandemie, so der Ärzt/innen-verband. "Mindestens 700 Millionen Euro werden für den Gesundheitssektor noch benötigt, um die vom Gesundheitsministerium gesetzten Prioritäten für das nächste Jahr umzusetzen", so Journalistin Inga Paparde in einem Beitrag für die Zeitung "Neatkarīgā". "Bisher sieht der Haushaltsentwurf für das kommende Jahr lediglich 130,5 Millionen Euro vor". Das Gehaltsniveau soll zwischen 4% und 6% steigen.

Dabei ist unabhängig von konkreten Summen auch die Frage umstritten, in welche Bereiche zuerst investiert werden soll. Manche sehen die Schwächen in der Krebsvorsorge und -behandlung, andere wollen Löhne und Gehälter pauschal erhöhen. Aber auch für die Ausbildung des Ärztenachwuchses muss etwas getan werden, und die Pfegeberufe erwarten dringend eine Reform. Die Regierung möchte auch den Zugang zu den Palliativpflegediensten verbessern, für Menschen mit Behinderungen muss etwas getan werden, und auch die Preise für Medikamente sollen nicht unermesslich steigen. 

Kürzlich meldete sich auch Andris Vilks, Vorstandsmitglied der Lettischen Zentralbank und Ex-Finanzminister Lettlands sich zu Wort mit der Anmerkung, in den Nachbarländern Estland und Litauen seien bei der Entwicklung des Gesundheitswesens wesentlich weiter. "Das ist besonders schmerzlich deshalb, weil wir nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit in derselben Startposition waren. In diesen Jahren gab es dort sowohl bereits Reformen wie auch mehr Haushaltsmittel," bestätigt auch Artūrs Šilovs, Vorsitzender der lettischen Jungärztevereinigung LJĀA (Latvijas Jauno ārstu asociācija) (Apollo).

Mit einem Land wie Norwegen, das 5748 Euro pro Einwohner und Jahr für das Gesundheitswesen ausgibt, kann sich Lettland zwar vergleichen, aber wird diese Summen nie erreichen. Kürzlich veröffentlichte Daten des staatlichen Statistikamtes zeigen, dass der durchscnittliche Bruttolohn vor Steuern in Lettland jetzt bei 1237 Euro liegt. Beschäftigte im Gesundheitswesen liegen mit 1564 Euro darüber, ebenso wie der Finanz- und Versicherungssektor (2258 Euro), Informations- und Kommunikationsdienste (1955 Euro), die Energieversorgung (1644 Euro), wissenschaftlich-technische Dienstleistungen (1400 Euro).(stat.gov.lv)

4. September 2021

Fünf Millionen für Wagner's Saal

Es ist wohl Bestandteil jeder Stadtführung in Riga, wenn Deutsche zu Gast sind: der Kapellmeister, der 1837-39 zwei Jahre lang hier wirkte, das war Richard Wagner. Typisch für Wagner war offenbar, dass er oft Schulden hatten und vor vor seinen Gläubigern floh. Ums Schulden machen geht es aber jetzt bei der Renovierung des "Wagner-Saals" in Riga nicht mehr: 5,2 Millionen Euro sollen bis 2026 als deutscher Beitrag dort verwendet werden können - der entsprechende Zuwendungsvertrag wurde am 30.August 2021 zwischen Botschafter Christian Heldt als Vertreter des Auswärtigen Amtes, und Māris Gailis und Māris Kalniņš als Vertreter der Richard-Wagner-Gesellschaft Riga unterschrieben. 

Bis 2007 war der Saal in der Riharda Vāgnera iela 4 noch genutzt, aber die Verfallserscheinungen waren unübersehbar. (siehe Beitrag) Mit 200.000 Euro hat die deutsche Seite bereits die fachliche Begutachtung und Kostenschätzung finanziert. Auch der Richard-Wagner-Verband Frankfurt/Main spendete bereits 10.000 Euro, und Bundespräsident Frank Walter Steinmeier übernahm die Schirmherrschaft. Die Gesamtkosten des Projekts werden auf 35 Millionen Euro geschätzt.

Für Gebäudesanierungen mögen das alles geringe Summen sein - für ein Projekt aber, das ja zunächst einmal nicht Konzerte oder andere künstlerische Leistungen fördert, sondern lediglich historische Rahmenbedinungen wiederherstellen will, ist es schon ein bedeutender Schritt. Jahrelang schien zudem das traurige Schicksal des Wagner-Saals besiegielt, und so wundert es vielleicht nicht, dass die lettische "Wagner-Gesellschaft" auf ihrer Webseite nun bereits von einer "Wagner-Epoche" in Bezug auf dessen Arbeit in Riga schreibt. 

Immerhin scheinen sich die deutsche und lettische Seite bei diesem Thema einig zu sein - bezüglich Richard Wagner gibt es ja durchaus auch kritische Stimmen, die sich nicht nur auf den Musikgeschmack beziehen. "Aus Lettland brachte Richard Wagner viele Ideen mit", schreibt der "Tagesspiegel". Stefan Siegert formuliert es bei "Geo" ganz anders: "Er verprasste Geld, das er nicht hatte, ließ angeblich Bomben basteln, beschimpfte jüdische Konkurrenten - und hinterließ der Welt herrliche Opern." Nicht nur hier steht auch der Verweis darauf, dass Wagner Hitlers Lieblingskomponist war. Siegert formuliert die Gründe so: bei Wagner "wimmele es nur so von blonden Germanen". Und Ingo Neumayer ergänzt für "Planet Wissen": Die Nazis setzen bei Aufmärschen, Ansprachen und Rundfunksendungen gezielt Wagners Musik ein.

Wagner als Antisemit zu bezeichnen, scheint umstritten. Einerseits beschimpfte er jüdische Komponistenkollegen, andererseits habe er selbst auch jüdische Freunde gehabt. Jan Tegeler arbeitete für eine Sendung des Deutschlandfunks Einzelheiten heraus: Der Jude an sich sei „unfähig“, sich künstlerisch auszudrücken, weder durch seine äußere Erscheinung noch durch seine Sprache und am allerwenigsten durch seinen Gesang - Zitat Wagner. Sich mit Wagner auseinanderzusetzen, bezeichnete Tegeler als "heißes Thema". 

Auch die Wochenzeitung "Die Zeit" widmete sich schon mal den "Pro's" und "Contras" bei Richard Wagner. "Wie ein sich langsam anschleichender, gewaltiger, alles mitreißender und nicht aufhörender Strom besetzte Wagners Musik meinen Körper", schreibt Wagner-Fan Hanns Josef Orteil. Rolf Schneider setzte dagegen: "Wagners Kunst erzeugt viel Rausch, aber wenig Erkenntnis." 

Eines habe die lettischen Wagnerianer mit Sicherheit schon jetzt erreicht: mit der aufwändigen Restaurierung des "Wagner-Saals" findet sich lettische Kulturpolitik mitten im internationalen Umfeld wieder. Es bleibt zu hoffen, dass die zukünftigen auf Richard Wagner bezogenen Aktivitäten nicht einseitiger Verherrlichung, sondern - neben allem Musikgenuß - einer Vertiefung der Diskussion aller Facetten auch der Person Wagers (und des ganzen Wagner-Clans) dienen können.

2. September 2021

Kamera am Käfig

Vor einigen Wochen beschloss des Parlament des Nachbarlandes Estland ein Verbot der Pelztierzucht ab 2026 (siehe Beitrag). Lettland geht offenbar einen anderen Weg. Das lettische Landwirtschaftsministerium gab jetzt bekannt, die lettischen Pelztierfarmen in Zukunft rund um die Uhr per Kamera überwachen zu lassen (Diena). Sandra Vilciņa vom lettischen Pelztierzüchterverband (Latvijas Zvēraudzētāju asociācija LZA) erklärte dazu, dass Videoüberwachung in Zukunft obligatorisch für alle Zuchtfirmen in Lettland sein soll und damit auch das Wohlergehen der Tiere überwacht werde. In diesem Sinne befürworten auch das lettischen Landwirtschaftsministerium und der Veterinärdienst die Maßnahme.

Vielleicht denken ja manche eher an Kameras am Eingang, als Schutz gegen militante Tierschützer/innen. Oder auch Umweltaktivisten - denn viel Energie - verbunden mit CO2-Ausstoß - kostet es, die Pelztiere in beständig gleichbleibender Umgebung zu halten: bei 5 Grad Celsius und 80% Luftfeuchtigkeit. Die Züchter halten dagegen, dass Pelz schließlich ein reines Naturprodukt sei, das, anders als Plastikstoffe, am Ende der Nutzungsdauer wieder der Natur überlassen werden kann.Und schließlich gehe man ja auch bei Daunenjacken oder bei Schafswolle nicht von einer freiwilligen Spende seitens der Tiere aus.

90% dessen, was die lettischen Pekztierzüchter/innen erzeugen, geht in den Export, erzählte Zuchtverbandssvorsitzender Arnis Veckaktiņš der "Latvijas Avize" (LA) und meint gleichzeitig: "die 10%, die wir in Lettland verkaufen, das geschieht meist im Rahmen von Rabatten und Preisnachlässen." Aber auch Angestellte internationaler Botschaften kaufen lettische Pelze, so der Verbandschef, denn vergblichen mit dem internationalen Markt seie sie relativ preiswert (delfi). Der Verband vertritt gegenwärtig noch 10 Mitglieder mit insgesamt 500 Arbeitsplätzen (losp). Von diesen zehn sind offenbar acht Nerzfarmen (Diena). Auch die Zeitschrift "IR" hatte Veckaktiņš schon mal befragt und dabei erfahren, dass viele der Pelze nach China gehen. Anfang der 1990iger Jahre habe es noch 24 Pelzfarmen gegeben, heißt es hier, davon haben nur sechs überlebt. Der größte lettische Erzeuger sei "Gauja AB" mit 100.000 Nerzfellen und 3.000 Silberfuchsfellen. 

2017 brachen Tierschützer/innen bei "Gauja AB" ein und entließen 41 Nerze (von insgesamt 15.000) in die vermeintliche "Freiheit" - ein Verfahren, dem auch Naturschützer wegen der zu erwartenden ökologischen Ungleichgewichte ablehnend gegenüber stehen. 

Gegner der Pelztierzucht ist zum Beispiel der Verein "Tierfreiheit" ("Dzīvnieku brīvība"), die in einer Petition an das lettische Parlament bereits 40.000 Unterschriften für das komplette Verbot der Pelztierzucht sammelte. Drei Argumente sind hier zu lesen: Erstens sei Pelz grundsätzlich ein umweltschädliches Material, da die Produktion mit einem hohen Ressourcenverbrauch und dem Einsatz giftiger Stoffe verbunden sei. Zweitens seien Pelztierfarmen potentielle Herde von Krankheitserregern einschließlich Covid-19 (wie auch das Beispiel Dänemark zeige - siehe Tagesschau). Und drittens sei die Art, wie die Tiere auf den Farmen getötet werden, nicht hinnehmbar: mit Strom oder mit Gas. 

Manchen Lett/innen und Letten gehen die als radikal empfundenen Aktionen solcher Organisationen auch zu weit. So sei es gerade die dreijähige Kampagne von "Dzīvnieku brīvība" mit über 50 Aktionen gewesen, die dem Rigaer Zirkus ein trauriges Ende bereitet hätten. Ohne Tiere bestehe der Zirkus inzwischen nur noch auf dem Papier, meint Imants Vīksne vom Portal "Pietiek.com".

Die Idee mit der Kamerapflicht sei dem Ministerium nach der Auswertung von Kontrollen einiger Pelztierfarmen gekommen, meinen die zuständigen Behörden. Die Situation habe aber sich von Jahr zu Jahr verbessert, meint Māris Balodis, Chef des lettischen Veterinärdienstes (Pārtikas un veterinārais dienests, PVD). Im Zusammenhang mit den Kontrollen gab es auch neue Fakten zu lesen: in Lettland gebe es jetzt noch neun Pelztierfarmen, vier davon seien aber gegenwärtig nicht bewirtschaftet. Nun gibt es noch "Larix Silva", "Lemo Latvija", "Vērgales" Tierzucht, "Baltic Devon Mink" und "Gauja AB". In drei der Betriebe seien Mängel festgestellt worden. 

19. August 2021

Ausnahmezustand

Lettland erklärt den Ausnahmezustand. Was ist los? Was ist die Regel, und welche Ausnahmen werden gemacht? Die "Tagesschau" meldet sogar: "Lettland ruft den Notstand aus" (illustriert von einem Bild, dass litauische Grenzpfosten zeigt). 

Bevor Missverständnisse auftauchen: nein, ist ist nicht zu vergleichen mit dem 15. Mai 1934, als Karlis Ulmanis gleich Parlament und Parteien in einem Streich verbot. Am Morgen des 16. Mai wurde dann der Ausnahmezustand verhängt, nachdem vorher alle bekannten Oppositionspolitiker/innen verhaftet worden waren (was Lettisch sogar mit "kara stāvokļa ieviešanu" beschrieben wird = Verkündung des Kriegszustands). Dieser "Kriegszustand" dauerte ganze 1371 Tage - mehrfach um 6 Monate verlängert, bis zum 15. Februar 1938.

Und nein, es ist auch nicht vergleichbar mit dem 17. Juni 1940. Als damals der sowjetische Außenminister Molotov die sofortige Einsetzung einer sowjetfreundlichen Regierung verlangte, war die Rote Armee längst in Lettland stationiert, um das militärisch abzusichern, und Zehntausende Lettinnen und Letten nach Sibirien deportiert. Es brauchte also keinen "Ausnahmezustand" - es wurden aber dennoch im Nachhinein Demonstrationen organisiert, als angeblichen Beweis dass "das Volk" den Beitritt zur Sowjetunion fordere (was dann durch manipulierte Wahlen im Juli 1940 abgesichert wurde). Wer dazu mehr wissen möchte, schaut hier mal rein.

Und es ist auch nicht der Ausnahmezustand, der in Lettland am 3. Juni 2020 verkündet wurde, denn der wurde auf Grundlage der Erklärung der Weltgesundheitsorganisation verkündet, dass der Covid-19 genannte Virus nun pandemische Ausmaße erreicht habe. Daher verhängte Lettland ab dem 9. Juni Maßnahmen zur Eindämmung des Virus.
Ein ähnlicher Beschluss wurde schon zuvor am 10. März mit Gültigkeit bis 12. Juni, und nochmals am 6. November 2020 gefasst und hatte bis zum 7. April 2021 Gültigkeit.

Aktuell geht es um den Beschluss des lettischen Ministerkabinetts vom 10. August 2021, der den Ausnahmezustand für vier Gemeinden verkündet: Ludza, Krāslava, Augšdaugava und die Stadt Daugavpils. Es bedeutet, das lettisches Militär und Polizei den Grenzschutz bei der Grenzsicherung unterstützen wird. Dabei werden die Behörden versuchen, Personen, die illegal die Grenze passieren aufzufordern, in das Land zurückzukehren wo sie herkamen. Um dies durchzusetzen, kann auch physische Gewalt angewendet werden. Diese Regelung wird bis zum 10. November gelten. Während für Unterbringung und Verpflegung der illegal die Grenze überschreitenden Personen gesorgt wird, werden aber auch Asylanträge in diesem Zeitraum nicht akzeptiert werden. 

Wir hoffen, dass auch die gegenwärtig verkünden "Ausnahmen" bald wieder überflüssig werden - denn "Normalzustand" ist doch sehr viel wert, und sollte, besonders in einer Demokratie, die erfreuliche Regel sein. 

Fühlen Sie sich durch die Ausrufung des
Ausnahmezustandes bedroht? So fragt
hier "Jauns.tv" - und es antworten nicht etwa
"die Deutschen", nein, dieser russischsprechende
Mensch heißt einfach "Germans". Na klar.



29. Juli 2021

Rekorde die nicht alle mögen

Lettland staunt über Deutschland: wie kann in einem so scheinbar gut organisierten, strukturiertem, geordneten, und wohlhabenden Land plötzlich die Flut hereinbrechen und alles ins Chaos stürzen? Und der zweite Gedanke ist vielleicht: es ist ein sehr ungewöhnliches Gefühhl, dass im zentralen Europa dauerhaft Starkregen und Gewitterluft das Regime übernehmen, während im nördlichen Lettland, immerhin auf demselben Breitengrad gelegen wie Aberdeen oder das Loch Ness in Schottland, wochenlange Hitze und Dürre herrschen. 

Nun ja, einige Lettinnen und Letten werden es als willkommenen Ausgleich für die gewöhnlich langen und zumindest dunklen Winter begrüßen. Aber wer die Zahlen und Fakten zusammenstellt, kann selbst urteilen. Der Juni 2021 war der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in Lettland (seit 1924). Die mittlere Lufttemperatur lag bei 18,9 Grad, das sind ganze 4,1Grad mehr als das der den Jahren 1981 bis 2020 gemessene Durchschnitt (lsm).

Der heißeste Tag war dabei der 21. Juni - ungewöhnlich, denn um Mitsommer herum ist regnerisches Wetter sonst schon fast legendär. Dieses Jahr meldeten Daugavgrīvā und Pāvilosta Temperaturen von +33,7 Grad. Dabei sank die Temperatur auch in der Nacht zum 21. Juni in Daugavgrīvā auf nicht unter +23,7 Grad - solche eine warme Nacht gab es vorher in Lettland nur zweimal 2012 und 1931. 

Vereinzelt gab es auch Gewitter und Hagelschlag, aber besonders Kurland erlebte im Juni 41 Liter pro Quadratmeter nur 44% der normalen Niederschlagsmenge. (lsm)

Auch im Juli scheint die heiße Sommerzeit in Lettland vorerst nicht zu enden. Bis zum 20. Juli waren in Riga bereits 18 Nächte zu verzeichnen, in denen die Temperatur nicht unter 20 Grad absank. Weitere Daten: Latvijas Vides, ģeoloģijas un meteoroloģijas centra LVĢMC (Lettisches Zentrum für Umwelt, Geologie und Meteorologie)

5. Juli 2021

Kioskgeburtstag

Winter 1997 - Alltag im Kioskbetrieb

Am 7. Juli 1927, also vor 94 Jahren, wurde in Riga ein kleines Bauwerk eröffnet, das als Symbol des "Art Deco" galt und das immer noch das Stadtbild ziert. Architekt war Aleksandrs Birzenieks, ein echter Rigenser, der 1893 geboren wurde und 1980 in seiner Heimatstadt starb. Birnenieks war unter anderem seit 1931 auch am Bau der Bühnen für das Lettische Sängerfest beteiligt, das damals noch auf dem Platz der Esplanade stattfand. Gemeint ist in diesem Fall nur ein Kiosk - aber der Bau soll immerhin 4000 Lat gekostet haben.

Sechs Jahre nach dem Bau ging der ganz aus Holz gebaute Kiosk, der anfangs grün gestrichen gewesen sein soll, in städtischen Besitz über. Der obere Teil war schon immer für Firmenreklame vorgesehen (LA). Nun wurde inzwischen das Gebäude für 3600 Lat jährlich vermietet. 

aus der reichhaltigen historischen
Fotosammlung von Gunārs Armans

Der Kiosk an der Ecke Krišjāņa Barona iela / Aspazijas bulvāris überlebte Krieg und Nachkriegszeit. Bis dann Mitte der 1980iger Jahre, als in Riga viele alte Holzgebäude abgerissen wurden, der Kiosk als in schlechtem technischen Zustand befindlich erklärt - und tatsächlich abgerissen wurde. 

Aber bald darauf wurde dieser Abriss als großer Fehler eingesehen - und der Kiosk erstand neu, nun mit einer Eisenkonstruktion als Grundlage. Den neuen Standort hatte der Architekt Jānis Lejnieks vorgeschlagen, Autor auch von "Das Riga das es nie gegeben hat". - Der Kiosk steht nun so, dass er den Fußgängerstrom weniger behindert - gerade diesen Umstand sieht allerdings der inzwischen pensionierte städtische Denkmalschützer Gunārs Armans als Grund für die gegenwärtigen Schwierigkeiten an. Hier einen Kiosk zu betreiben sei eben schwierig, denn hier in der Straßenmitte hasten tagtäglich die Menschen von einer Straßenseite zur anderen, um möglichst die Ampelphase bei Grün einzuhalten (delfi.lv).

Es ist also eine kleine Sehenswürdigkeit, an der viele in Riga hastig vorbeilaufen. Bis dann eine junge lettische Studentin namens Anete Melece an der Hochschule für Design und Kunst im schweizerischen Luzern sich genau diesen Kiosk als Objekt und Thema für einen Animationsfilm aussuchte - und dieser gleich mal als "bester Schweizer Trickfilm 2014" prämiert wurde. Die Geschichte von Olga, der Kioskverkäuferin, die mitten zwischen den bunten Journalen eigene Träume entwickelt und auf überraschende Weise verwirklicht, brachte auch den Atlantis-Verlag dazu, daraus ein Kinderbuch zu machen, das 2019 in deutscher, inzwischen aber auch in englischer, lettischer und sogar französischer Fassung erschienen ist, und auch beim "Deutschlandfunk" bereits eine besondere Erwähnung fand. "Formidable!" jubelt letemps.ch, und die "New York Times" meint, das Buch erteile eine Lektion: stoppt die allzu perfekten Planungen, lasst die Dinge einfach passieren. Anete Meleces Zeichnungen werden hier sogar mit Bildern von Matisse verglichen.

Nun hatte also die Kiosk-Geschichte bereits den gesamten Bereich verschiedener großer Sprachen der Welt erobert, plus die Youtube-Nerds. Anete Melece wurde für den Astrid-Lindgren-Memorial-Award nominiert. Aber damit nicht genug: das jüngste Auftragswerk der Deutschen Oper am Rhein heißt ebenfalls "Der Kiosk". Diana Syrse hat komponiert und Andrea Heuser schrieb das Libretto - mit dem gleichnamigen Kinderbuch als Vorbild (Youtube).

Nur den Kiosk aus Riga erkennen wir hier leider nicht wieder! Im Rahmen des Kulturinselfestivals in Düsseldorf erlebte das Stück am 26. Juni seine Premiere im Innenhof des Düsseldorfer Rathauses (siehe auch: Kulturbulletin d. Botschaft Lettlands). Hier kommt "multikultureller Einfluss" voll zum tragen: mit einer aus Mexiko stammenden Komponistin, inszeniert von einer Italienerin, ausgestattet mit Kostümen einer Deutschtürkin, und einer Produktionsleiterin aus dem karnevalistischen Aachen.

Olga, liebe Olga, warum sieht dein
Kiosk nun wie eine große Sahnetorte
in Kitschirgistan aus?

Das Ergebnis wirkt zumindest so, als ob alle diese Beteiligten die Freiheit hatten, an die Phantasie und Vorstellungskraft von Anete Melece anzuknüpfen - aber vielleicht noch nie in Riga waren. Nun ja, das mag ja die Unterhaltungsqualität einer Kinderoper nicht beeinflussen. Ein wenig wirkt es so, als ob der Rigaer Kiosk (der dieser Tage "Geburtstag" hat, wie gesagt), nun auf einer Ebene wie viele andere Stadtführerlegenden in Riga angekommen ist. Wie etwa die Geschichte vom "Katzenhaus", wie ein lettischer Kaufmann angeblich die Tierfigur mit dem Hinterteil zum .... usw., wir meinen den Rest zu kennen - es gibt aber keine exakten Quellen. 

Wundern Sie sich also nicht, wenn bei einem Rundgang in Riga demnächst Ihr Reiseleiter sagt (so ungefähr): "Und hier rechts sehen Sie den berühmten Kiosk, in dem Olga ihre Weltreise angetreten hat, und von der noch die Kinder in Düsseldorf lernten, was eine Oper ist."

Ob wenigstens der reale Kiosk heute das Buch von Anete Melece im Angebot hat? Fragen Sie doch mal nach!  

Noch mehr "baltische Kiosk-Vielfalt" gibt hier

10. Juni 2021

Brasilianisches Niveau

Als Lettland das Fußball-Länderspiel gegen Deutschland mit 1:7 verlor, scherzten noch manche: "Nun seid ihr genauso gut wie Brazilien!" (ein Hinweis auf das deutsche 7:1 gegen die Seleção im Rahmen der WM 2014). Kurz danach erweist es sich, dass die UEFA eine gewisse Höflichkeit an den Tag legte, um lettische Fußballskandale erst einige Tage danach offiziell zu verkünden. 

Am 9. Juni 2021 entschied der Europäische Fußballverband UEFA den Verein FK Ventspils von allen Spielen des Europacups für die nächsten sieben Jahre - also bis 2028 - auszuschließen. Der Vorwurf: Korruption, Bestechung und Beeinflussung von Spielen und Ergebnissen und damit Verstoß gegen die Statuten der UEFA. Darüber hinaus beschloss die UEFA, Nikolajs Djakins, Manager des FK Ventspils, für 4 Jahre von jeglichen Tätigkeiten in Zusammenhang mit offiziellen Fußballspielen auszuschließen - aus denselben Gründen. Und damit nicht genug: Adlans Šišhanovs, Ex-Präsident des FK Ventspils, wird lebenslang von jeglicher Tätigkeit als Funktionär ausgeschlossen, noch dazu wird die FIFA gebeten, diesen Bann auf weltweite Tätigkeiten auszudehnen (bnn-news). 

Auch der russische Schiedsrichter Sergei Lapochkin wurde bestraft, da er über den Versuch der Beeinflußung des Europa-League-Spiels vom 26. Juli 2018, an dem der FK Ventspils beteiligt war, der UEFA nicht berichtet habe. Der lettische Fußballverband LFF bestätigte seinerseits, die UEFA während der Untersuchungen vollständig und vorbehaltlos unterstützt zu haben. "Das ist ein schwarzer Tag für den lettischen Fußball," kommentierte LFF-Präsident Vadims Ļašenko. "Noch trauriger ist es für die echten Fußballfans in Ventspils, denn dies ist einer der bekannteren Bestandteile der lettischen Fußballfamilie und der Geschichte des lettischen Fußballs." 

In der obersten lettischen Fußball-Liga der Männer, die aus neun Mannschaften besteht, belegt der FK Ventspils gegenwärtig Platz 8. Da der FK Ventpils eine Aktiengesellschaft ist, wurde Adlans Šišhanovs 2018 auch von der Aktionärsversammlung 2018 zum Präsidenten ernannt. (FB). Am 11.April 2021 wurde dann bekannt, dass Šišhanovs den FK Ventspils verlässt (Sportacentrs) und auch seine Eigentumsanteile verkaufen will. Er hoffe, so Šišhanovs damals, dass es bei dem Klub "noch wahre Fans" gäbe, und nicht nur solche die "mit Lügen und mit Schreibmaschine arbeiten". Im August hatte er sich schon einmal über das lettische Innenministerium beklagt, das dem aus der russischen Republik Inguschetien stammenden Šišhanovs die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis in Lettland verweigert habe (delfi). Vor seinem Engagement in Lettland war Šišhanovs Eigentümer von "Dacia Chișinău" in Moldawien; der Club gewann einmal die Meisterschaft Moldawiens, wurde dann aber des Steuerbetrugs angeklagt und löste sich 2017 auf (delfi).
Auch beim deutschen Klub "Carl Zeiss Jena" soll Šišhanovs vor einigen Jahren schon mal ein Angebot der finanziellen Unterstützung unterbreitet haben (pravda / transfermarkt / netstudien)

Die beiden lettischen Sportjournalisten Uldis Strautmanis ("Delfi") und Agris Suveizda (Sportacentrs.com) haben sich durch die umfangreichen Anklageunterlagen der UEFA gearbeitet und berichten, dass es um vier Spiele aus den Jahren 2018 und 2019 gehe, Gegner waren "Luftëtari" aus Albanien, Bordeaux aus Frankreich, "Teuta" aus Albanien und "Gżira United" aus Malta.Dabei soll der deutlichste Versuch der Einflußnahme durch Šišhanovs beim Spiel gegen Bordeaux nachweisbar gewesen sein (sportacentrs); Šišhanovs soll dabei 100.000 Euro für einen Sieg seiner Mannschaft angeboten haben (delfi). 

Die beiden eifrigen lettischen Journalisten haben außerdem auch genau benannt, wer gegenwärtig die Eigentümer der "Fußball Klub Ventspils GmbH" (SIA "Futbola kluba Ventspils") sind: 50,09% der Anteile gehören einer "SIA Ventspils futbola sabiedrība" (Ventspils Fußballgesellschaft GmbH), Eigentümer von 34,31% ist die Firma "VK Tranzīts", ebenfalls eine GmbH, 11,23% der Anteile sind im Besitz der Stadt Ventspils, 2,5% der Firma "AS Kālija parks" und die verbleibenden 1,88 % gehören der Aktiengesellschaft "Ventspils tirdzniecības osta" ("Handelshafen Ventpils"). 

Ja, da fragten sich doch die deutschen Reporter bei der Kommentierung des Spiels gegen Lettland, warum Fußball dort nicht so beliebt ist ...

8. Juni 2021

Farbenlehre, Rochaden und ein Schillerzitat

Völlig unbeachtet jeglicher Berichterstattung deutscher Medien wurden am Samstag, den 5. Juni 2021, in Lettland Kommunalwahlen durchgeführt - mit Ausnahme von Riga, dem Bezirk Rēzekne und der Gemeinde Varakļani (siehe Beitrag). Es waren die ersten Wahlen nach der Neuordnung der lettischen Gemeindestruktur. Auffälligstes Ergebnis: die Wahlbeteiligung blieb bei landesweit durchschnittlich 34,01% stecken (cvk). 

lettische Farbenlehre (sehr grobe Einteilung):
grün = Bauernfreundlich strukturkonservativ, hellgrün = business konservativ,
dunkelblau = streng christlich konservativ, gelb = neoliberal,
mittelbraun = national-emotional, blutrot = links strukturkonservativ
Rest = Regionalparteien, Kleinparteien. grau = Wahltermin verschoben
(Quelle:
lsm)

Nur ein Drittel der Lettinnen und Letten beteiligte sich also - aber kaum eine oder einer der gewählten Stadt- und Bezirksräte wird wohl deshalb an der eigenen Legitimation zweifeln. Juristisch sei alles ordnungsgemäß gelaufen, meint auch Politologe Jānis Ikstens, aber es sei doch eine Frage wert, ob die Abgeordneten wirklich die gesamte Bevölkerung repräsentieren würden (lsm). Politologiekollege Juris Rozenvalds schlug vor, über die Einrichtung von "Einwohnerräten" (iedzīvotāju padomes) nachzudenken. 

Präsident Egils Levits meint dennoch im Wahlergebnis den Wunsch nach Stabilität erkennen zu können (lsm) - dieser Logik zufolge wäre die Wiederwahl bisherigen Regent/innen gleichzusetzen mit den Absichten der offensichtlich demokratisch Desinteressierten. 

Edgars Tavars, Vorsitzender der lettischen nationalkonservativen "Grünen Partei", zeigt sich mit dem Wahlergebnis zufrieden. In Ventpils habe Aivars Lembergs nicht am Wahlkampf teilnehmen können, weil die lettische Regierung ihn ins Gefängnis gebracht habe. Die Wähler/innen hätten aber gezeigt, so Tavars, was sein wirklicher Platz sei (Lembergs Partei "Latvijai un Ventspilij" bekam 54,32% der Stimmen) (nra). Die "Grüne Partei" erzielte gute Ergebnisse in Jūrmala und Saldus.

Besonders in Städten seien diejenigen an der Macht geblieben, die es auch schon bisher waren, meint Jānis Kincis, Journalist beim Lettischen Radio. Offenbar kann jede Gruppierung ein paar Beispiele für zufriedenstellende Ergebnisse vorweisen: die "Lettische Regionale Allianz" in Ādaži, Saulkrasti, Limbaži, Tukums un Mārupe, die "Nationalisten" (Nationālā Apvienība) eher in Ogre, Sigulda, Talsi, Smiltene und Bauska. Die "Neue Einigkeit" ("Jaunā Vienotība") von Ministerpräsident Kariņš tröstet sich mit den Ergebnissen in Salaspils, Cēsis, Ķekava, Valmiera, Kuldīga und Preiļi, während die "Saskaņa" ("Harmonie") in Rezekne und Daugavpils gute Resultate verzeichnete. 

Kurz vor dem Wahltermin hatte Regierungschef Krišjānis Kariņš eine Ministerrochade unternommen, deren Hintergründe wohl ebenfalls schnell wieder im Sumpf des lettischen Parteiennahkampfs untergehen werden. Mit Jānis Vitenbergs (Wirtschaftsminister), Marija Golubeva (Innenministerin), Anita Muižniece (Bildung und Wissenschaft) Gatis Eglītis (Soziales) wurden gleich vier Ministerien neu besetzt. 

Über die Philologin und Historikerin Golubeva könne man ja noch nicht viel sagen, meint Journalist Māris Krautmanis (Neatkarīga) - außer dass sie bisher nicht viel mit Innenpolitik zu tun habe. Anita Muižniece war Staatssekretärin unter der bisherigen Amtsinhaberin Ilga Šuplinska, die laut Krautmanis schon länger eine der unbeliebtesten Minister im Kabinett Kariņš gewesen sei. "Da hat die JKP kurz vor den Kommunalwahlen noch Ballast abgeworfen", kommentiert er ("Neatkarīga") und weist auch darauf hin, Šuplinska habe auch zu vielen Fachleuten des Bildungswesens längst kein gutes Verhältnis mehr gehabt (JKP = Jaunā Konservatīvā Partija / Neue Konservative Partei). Im Gedächtnis bleibt wohl auch ihr vergeblicher Versuch, Indriķis Muižnieks, Rektor der Universität Riga, aus dem Amt entfernen zu lassen.
"Der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen" - mit diesem Schiller-Zitat kommentierte die Ex-Ministerin selbst ihr Verhältnis zur JKP und trat mit sofortiger Wirkung aus der Partei aus. (LA)

Ein anderer Parteiaustritt hat dageben Jānis Vitenbergs die Ministerkarriere wohl gerettet. Das hat mit dem Niedergang der Partei zu tun, die sich mit der scheinbar frechen Frage "Kam pieder valsts?" (KPV-LV / „Wem gehört der Staat?“) auf dem politischen Parkett bewegte. Aber obwohl die Partei 2018 mit 14,3% der Stimmen relativ erfolgreich war und der Regierungskoalition Kariņš beitrat, konnte sich nur ein Teil der Fraktion entschließen, diese Regierung auch bei Abstimmungen zu stützen. Inzwischen wurden ehemals schillernde Führungsfiguren wie Ex-Spitzenkandidat Aldis Gobzems aus Partei und Fraktion ausgeschlossen, gegen Ex-Schauspieler und Parteigründer Artuss Kaimiņš laufen Gerichtsverfahren. Die ruinösen Reste der Partei benannten sich um in "Par cilvēcīgu Latviju" ("Für ein humanes Lettland"), was Regierungschef Kariņš jetzt veranlasste, mit seiner Ministerrochade einen Rauswurf dieser Partei aus der Koalition zu erreichen.

Jānis Vitenbergs allerdings, der als Tourismusfachmann 2018 als Kandidat der KPV-LV ins Parlament gewählt wurde und dann im April 2020 auf den Stuhl des Wirtschaftsministers gehievt worden war, war noch am 14. Mai 2021 von derselben Partei zum Rückzug gezwungen worden. Vitenbergs, politisch offenbar mit flexiblem Rückrat ausgestattet, war aber inzwischen den Nationalisten der "Nacionālā apvienība Visu Latvijai!" beigetreten und ist jetzt seit dem 3. Juni erneut Wirtschaftsminister. 

Ob die Ernennung von Gatis Eglītis als neuer "Wohlstands"-Minister (wie lettisch "Labklājība" wörtlich übersetzt, heißen würde), ob also Eglītis mehr Stabilität ins Kabinett Kariņš bringt, scheint unsicher. Schon wenige Tage nach seiner Ernennung machte Eglītis auf Twitter von sich reden, als er dort sinngemäß schrieb, nach den Kommunalwahlen würden vor allem diejenigen Parteien in den Regionen profitieren, die auf innerparteiliche Kontakte in die Regierung bauen könnten. (lsm) Lettische Innenpolitik, offenbar wirklich ein moralisches Sumpfgebiet. Und so gesehen ist die niedrige Wahlbeteiligung auch kein Wunder.

2. Juni 2021

Wo liegt eigentlich Warkland?

In zwei Gemeinden, in Rēzekne und in Varakļāni wurden, gemäß einem Beschluss des lettischen Parlaments vom 1. Juni, die Kommunalwahlen auf den 11. September 2021 verschoben. Dies war die Folge eines Beschlusses des lettischen Verfassungsgerichts, dem zufolge die Vereinigung der Gemeinde Varakļāni mit Rēzekne im Rahmen der Gemeindereform nicht der Verfassung gemäß erfolgt sei. Und obwohl Varakļāni als andere Alternative sich ein Anschluß an die Gemeinde Madona geboten hätte, werden die Wahlen in Madona zunächst ordnungsgemäß stattfinden - juristisch gilt nun Varakļāni vorübergehend als eigenständige Gemeinde.

Monvīds Švarcs, Ratsvorsitzender des Bezirks Rēzekne, bezeichnete die Gerichtsentscheidung als "demokratische Lehrstunde" (delfi).Auch andere lettische Gemeinden hatten gegen einzelne Regelungen der Regionalreform geklagt, diese waren vor dem Verfassungsgericht jedoch nicht erfolgreich. 

Während der Bezirk Madona als Bestandteil von Vidzeme gezählt wird, gehört Rēzekne zu Latgale. Die Frage, zu welchem Landesteil die Einwohner/innen von Varakļāni gehören möchten, ist also auch eine Frage des ethnischen Selbstverständnisses und der Tradition. Im Bezirk Varakļāni bezeichnen sich über 90% der Bevölkerung als ethnische Lett/innen, und die Mundart, die dort (von ca. 67%) gesprochen wird, könnte eigentlich eher zum Lettgallischen gerechnet werden. Solche und ähnliche Argumente werden hinter dem Mehrheitsbeschluss des lettischen Parlaments vermutet, Varakļāni eher zu Rēzekne zu rechnen. Andere Argumente beziehen sich auf den Paragraph 3 der lettischen Verfassung, dem zufolge Lettland aus Vidzeme, Kurzeme, Latgale und Zemgale gebildet werde - es sei also nicht möglich, ein traditionell zu dem einen gehöriges Gebiet einfach einem anderen zuzuschlagen.Und auch gegen die Vereinigung mit Madona hatte es Anfang 2020 in Varakļāni schon mal eine Unterschriftenaktion gegeben (Jauns.lv). 

Zu Sowjetzeiten war die Gemeinde Varakļāni, der 1928 die Stadtrechte verliehen wurden, administrativ Madona angeschlossen worden. Gegner einer Vereinigung mit Rēzekne führen unter anderem an, dort "reden alle Russisch" - bei den vergangenen Kommunalwahlen 2017 wurde in Rēzekne die als "russlandfreundlich" geltende Partei "Saskaņa" mit 32,34% der Stimmen stärkste Partei. Auch der Bürgermeister von Rēzekne, Aleksandrs Bartaševičs, ist Mitglied der "Saskaņa".

In Madona dagegen verfügen die Liste der "Grünen und Bauern" (31,71%) und die Partei "Vienotība" (Einigkeit, 22%) über die Mehrheit. In Varakļāni, damals noch zu Vidzeme gehörend, dominierten 2017 noch eigene, unabhängige Listen: "Strādāsim kopā" ("Arbeiten wir zusammen", 26,85%), "Vienoti novadam" ("Vereint für den Bezirk", 63,6%) und "V55" (8,31%). (pv2017cvk)

Die Einwohnerzahl der Stadt Varakļāni hat in den vergangenen Jahren stark abgenommen. Gegenwärtig (Juni 2021) weist die Webseite der Stadt noch 2322 Einwohnerinnen und Einwohner aus

30. Mai 2021

Nichtlandung = Nichtflagge

Außenminister Rinkēvičs und Rigas
Bürger Staķis höchstselbst sahen
sich zum Flaggentausch veranlasst

Ein Flugzeug wurde zur Landung in Diktatorshome gezwungen - und mindestens zwei der 126 Passagiere kamen statt Landung am Zielflughafen in Vilnius im Folterknast an (während andere Passagiere im Flieger sitzen bleiben konnten, wo sich ja angeblich eine Bombe befand).

Nun kann Wladimir Makej, Außenminister von Lukashenkos Gnaden, endlich wieder die Alleinherrschaft über die staatlich gelenkten Medien ausüben: "staatlicher Vandalismus" ist, seiner Aussage nach, nicht etwa die Kampfjet-Zwangslandung, sondern der Flaggenwechsel in Riga gewesen (Sport1). Leider wolle nicht jeder auf die Argumente aus Lukashenko-Kreisen hören, bedauert Makej, und sieht seinerseits die "Unabhängigkeit von Belarus" vom Westen bedroht. Lukashenko selbst sieht "Neonazis" am Werk, deshalb habe er "hart durchgegriffen" (belta.by).

Bei allen Spekulationen, warum nun Lukashenko die ganze Aktion gerade jetzt durchzog, fehlt wohl das Argument "wegen der geklauten Eishockey-WM". Lukashenko ist ja ausgewiesener Eishockey-Fan, und schließlich hängen auch die Flaggen der Teilnehmerländer nicht irgendwo, sondern vor dem Hotel, wo alle Mannschaften - also auch die von Belarus - untergebracht sind. Nach dem öffentlichen "Flaggenwechsel" vom 24. Mai klagte Lukashenko übrigens wegen "schüren von nationalem Hass" (lsm): Die Vokabeln, mit denen auch im Westen argumentiert wird, kennt er offenbar - nur erscheinen sie umgedreht, nur für jene mit Sinn erfüllt, die an die Seinsberechtigung von brutalen Diktatoren glauben.

"Als wir dann doch um 21.25 Uhr in Vilnius landeten, wurden wir dort mit Applaus und einer Rede der Regierungschefin Simonaityte empfangen," zeigt sich Jānis Zviedris, einer der lettischen Reisenden auf dem Weg von Athen nach Vilnius beeindruckt. "Aber RYANAIR hat auch uns, den gestressten Passagieren, in Vilnius kein Hotel oder sowas angeboten; eine kurze Entschuldigung, das war alles." (IR)

Die lettische Öffentlichkeit scheint verunsichert und beunruhigt. Laut schimpfen die einen auf diejenigen im Westen, die "von Mördern Gas beziehen". Die internationalen Eishockey-Funktionäre dagegen scheinen sich einig: als Flaggentausch-Gegner entpuppte sich Rene Fasel, Chef des Internationalen Eishockeyverbandes. Er verwies auf die vorangegangenen Diskussionen mit der lettischen Regierung, als es um die Verlegung der WM von Belarus nach Riga ging: man habe zugesichert, dass belarussische Team zu schützen, und das Ereignis nicht politisch zu verwerten (lsm). Und der NZZ verriet Fasel, dessen Amtszeit nach 27 Jahren jetzt endet: "Es ist richtig, dass ich ein Freund der Russen bin." Da scheint es konsequent, wenn er nun sogar forderte, den Rigaer Flaggentausch wieder rückgängig zu machen (nau.ch). Der schweizer Tagesanzeiger prognostiziert als nächsten Arbeitsort für Fasel sogar: Moskau oder Peking. Und auch der deutsche Verbandspräsident Reindl hat offenbar noch Sorgen zum seine weitere (internationale) Karreie, und schloss sich Fasels Flaggenwünschen an (FAZ)

Rigas Bürgermeister Mārtiņš Staķis, der als einziger seiner lettischen Amtskolleg/innen gegenwärtig nicht im Kommunalwahlkampf steckt, empfiehlt Lukashenko dagegen den Menschenrechtsgerichtshof in Den Haag, wenn er weitere Fragen habe. Lukashenko hatte seinerseits alle lettischen Botschaftsmitarbeiter/innen bereits des Landes verwiesen (Tagesschau) - und die deutsche Botschaft in Minsk bemühte sich promt um Solidarität mit den lettischen Kolleg/innen.

Übrigens wurden inzwischen noch zwei weitere Flaggen vor dem Eishockey-Mannschaftshotel ausgetauscht: statt der Flagge Russlands ist nun die des Olymischen Komitees zu sehen. Māris Riekstiņš, lettischer Botschafter in Moskau, erklärt das so: "Das ist die Flagge des russischen olympischen Komittees, unter der ja in vielen Wettbewerben gegenwärtig die Athleten aus Russland antreten." (lsm) Vitaly Milonov, Vertreter von “Einiges Russland”, wird daraufhin mit der Aussage zitiert, Russland solle nun solange nur noch von der "sowetlettischen SSR" reden, bis die neuerliche Flaggenaktion rückgängig gemacht werde. Allerdings ist auch auf der Webseite der IIHF nur die olympische Variante zu sehen. 

Und als Reaktion auf die Stellungnahme Fasels entschied Bürgermeister Staķis nun, auch die IIHF-Flagge gegen die Flagge der Stadt Riga auszutauschen (lsm). 

Hitziges Klima in Riga also. Wir möchten uns dennoch der offenbar populären Rechthaberei nicht anschließen - und bauen den Flaggenmast vor unseren Privathäusern wieder ab. Ob es ausreichen wird, Demokratie und Selbstbestimmung eine erfolgreiche Zukunft zu wünschen? Eigentlich geht es ja "nur um Sport" - aber es bleibt die Hoffnung, dass auch ein friedliches Zusammenleben der Völker und Nationen weiter möglich sein wird.