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21. September 2024

Neues vom Strand

Kennen Sie Bilderlingshof, Kiefernhalt oder Karlsbad?  Lettisch würden wir heute sagen: Bulduri, Priedaine und Melluži. Aktuell Teil der Stadt Jūrmala. Dabei ist Priedaine sogar der älteste bewohnte Ort, denn dort wurden bei Ausgrabungen zwei steinzeitliche Siedlungen gefunden, weiß die lettische Presse (lsm). 

Tradition Badestrand

Bis zum Jahr 1920 gab es hier nur verschiedene Badestellen am Ostseestrand, aufgereiht am Ufer. Bilderlingshof (Bulduri), Edinburg (Dzintari), Majori, Dubulti und weitere. Schon 1838 war in Ķemeri ein Kurort gegründet worden. Nun wurde, im frisch unabhängig gewordenen Lettland, eine Stadt Jūrmala gebildet. 1946 gliederte dann die Regierung der Lettischen SSR zunächst Jūrmala als eigenen Bezirk der Stadt Riga ein. In Priedaine zum Beispiel wurden 1949 alle Straßen, mit Ausnahme des Lielais-Prospekts, umbenannt. 10 Jahre später kamen dann die nächsten Änderungen: am 11. November 1959 wurden noch Kurort und Papierfabrik eingegliedert - Ķemeri und Sloka - wobei Sloka schon seit 1878 eigene Stadtrechte besaß. 

Insgesamt ist Jūrmala also weniger traditionsreich als andere Städte. Die Stadt noch einmal komplett umkrempeln, warum also nicht? Die Stadtverwaltung möchte nun gleich acht Straßen umbenennen. Es sind die Andreja Upīša iela, Puškina iela, Partizānu iela, Pētera Pāvila iela, Leona Paegles iela, Oškalna iela, Sputņika iela, und die Jāņa Sudrabkalna iela. Bis zum 6. Oktober sind die Einwohnerinnen und Einwohner aufgerufen, ihre Meinung zu den Änderungsvorschlägen kund zu tun, die eine Arbeitsgruppe der Stadt bereits vorbereitet hat. (apollo)

Acht Ungeliebte

Liegt es daran, dass die lettische Bauernpartei (Zaļo un Zemnieku savienība / ZZS) bei den Kommunalwahlen für lettische Verhältnisse ungewöhnliche 50,56% der Stimmen und 8 von 15 Mandaten errungen hatte? Danach schien manches leichter zu sein, wie zum Beispiel sich selbst eine kräftige Gehaltserhöhung zu genehmigen (lsm), oder einen umstrittenen Bürgermeister, der zurücktreten musste, als Berater wieder einzustellen (bnn)

Was soll verschwinden? Die Befürworter der Umbenennung meinen, lettische Straßennamen sollten grundsätzlich nur noch an Flüssen, Bergen, Tieren oder Namen orientiert sein, die mit historischen Ereignissen verbunden sind, die eindeutig für Lettland von Bedeutung sind (NA). Also: Sputnik = Technik der Sowjetunion. Puschkin =  Dichter Russlands. Andrejs Upīts = lettischer Schriftsteller, aber Vertreter des sozialistischen Realismus und 1919 Unterstützer einer lettischen Sowjetrepublik. 

Leons Paegle = Lehrer, Dichter, Literat - aber auch Kommunist, der den Versuch von 1919, eine lettische Sowjetrepublik zu bilden, untertstützte. Janis Sudrabkalns, noch ein Dichter, der vom lettischen Literaturinformationszentrum immerhin als einer der "bedeutendsten Autoren der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts" bezeichnet wird. Aber: als sich die UdSSR 1940 Lettland einverleibt hatte, wurde Sudrabkalns zum Anhänger des Sowjetsystems und, sozusagen, zu einem der bekanntesten lettisch-sowjetischen Dichter. Auch Otomārs Oškalns war zunächst Lehrer, wurde 1934 verhaftet und wurde dann 1940 Deputierter des Obersten Rates der Lettischen SSR, 1942 dann Mitglied von antifaschistischen Partisanengruppen, nach Kriegsende 1946 dann Minister der Lettischen SSR.

Aber die Pētera Pāvila iela? Peter Paul Straße? Von der Citadeles iela in Riga ist bekannt, dass sie auch mal Pētera Pāvila hieß (russisch "Petropawlowskaja-Straße"). Ist also vielleicht der Ort Petropawlowsk in Russland hier Namensgeber? Oder die "Peter-und-Paul-Festung" (Petropawlowskaja Krepost) in St.Petersburg? Von der gleichnamigen Straße in Riga ist bekannt, dass die Straßenbenennung 1785 nach dem Bau der Kirche St. Peter und Paul in Riga erfolgte (LNB).- Nun gibt es ja tatsächlich auch in Ķemeri eine orthodoxe Kirche mit Namen Peter-und-Paul-Kirche (Pētera un Pāvila Ķemeru pareizticīgo baznīca) - nur wenige Hundert Meter entfernt von der Straße, die den Namen Peters und Pauls nun verlieren soll. Ob nun der nationalistische Eifer die Kirche mit umbenennen wird? 

Alternativen: Ärzte, Dichter, Architekten

Zur Wahl für die Umbenennung steht zunächst die "Nationale Partisanen-Straße" (denn gegen Partisanen hat man offenbar nur dann etwas, wenn sie sozialistisch oder kommunistisch gesinnt sind). (jurmala.lv). Personen, nach denen Straßen benannt werden sollen: Eižens Laube (ein Architekt, schuf viele Gebäude in Jūrmala), Jānis Lībietis (ein Arzt, Direktor der Schwefelquellen in Ķemeri), Mihails Malkiels (Gründer des Rehabilitationszentrums „Jaunķemeri"), Eduards Kalniņš (ein Künstler und Professor an der lettischen Kunstakademie), Niklāvs Strunke (ebenfalls Künstler), und schließlich auch die erst kürzlich verstorbene Dichterin Amanda Aizpuriete. Mit dabei auf der Vorschlagsliste ist auch der in Görlitz gebürtige Rigaer Lokalhistoriker und Zeichner Johann Christoph Brotze - Begründung: er habe mehrere Ansichten und Karten von Kauguri und Sloka gezeichnet. (jurmala.lv)

Andere Vorschläge klingen eher nicht danach, dass deshalb Straßennamen extra geändert werden müssen: "Kurortstraße" (weil Ķemeri mal ein Kurort war), "Kupferstraße" (weil Kupfer häufig für Dächer und Fassaden verwendet wurde), "Webspulenstraße" (wohl als Hinweis auf altes Handwerk), oder "Seeschwalbenstraße" (diese Vögel werden wohl auch schon in Jūrmala herumgeflogen sein - aber "Nationalparkstraße" hat bisher niemand vorgeschlagen). Es wird deutlich: es gibt aktuell nichts, wonach dringend Straßen benannt werden müssten (Aizpuriete mal ausgenommen). Es ist wohl eher die Lust an der "nationalen Bereinigung".

Bei einer ähnlichen Straßenumbenennungsaktion im lettischen Valka stellte übrigens die Stadt die Straßenschilder für die Anwohner/innen kostenlos zur Verfügung, und auch die Eintragung ins Grundbuch geschah ohne weiteren Aufwand (digital). Und in Riga sind zu Jahresanfang Moskau, Lomonossow, Puschkin, Gogol, Lermontow und Turgenjew von den Straßenschildern verschwunden. Veranschlagte Kosten: 80.000 Euro.

Also warten wir mal ab, was die Einwohnerinnen und Einwohner von Jūrmala im Oktober entscheiden. Einzig in einem Fall steht die Möglichkeit zur Auswahl, den Namen beizubehalten - mit einer winzigen Änderung: aus der "Pētera Pāvila iela" würde dann die "Pētera–Pāvila iela", womit es unter Zuhilfenahme des Bindestrichs dann so aussehen würde als seien nur zwei Vornamen gemeint. Also: es geht voran, am Strande Lettlands!

10. Juni 2024

Das sind die neun

Diese neun Abgeordneten (acht Männer, eine Frau) werden Lettland im Europaparlament vertreten:

Valdis Dombrovskis ("Jaunā Vienotība")
Sandra Kalniete ("Jaunā Vienotība")
Roberts Zīle (Nacionālā apvienība)
Rihards Kols (Nacionālā apvienība)
Nils Ušakovs ("Saskaņa")
Ivars Ijabs ("Latvijas attīstībai")
Reinis Pozņaks ("Apvienotais saraksts")
Mārtiņš Staķis ("Progresīvie")
Vilis Krištopans ("Latvija pirmajā vietā")

(lsm) Die Wahlbeteiligung lag im Landesdurchschnitt bei 33,82% und war in den verschiedenen Landesteilen unterschiedlich hoch: während in Vidzeme 44,44% der Wahlberechtigten von ihrem Wahlreicht Gebrauch machten, waren es in Riga nur 26,68%, in Latgale nur 24,9%. (cvk)

Die prozentualle Stimmenverteilung der Parteien: 

Jauna Vienotība 25,07% (2 Abgeordnete)
Nacionālā apvienība "Visu Latvijai!" 22,08% (2 Abgeordnete)
"Latvijas attīstībai" 9,36% (1 Abgeordneter)
"Apvienotais Saraksts- Latvijas Zaļā partija, Latvijas Reģionu Apvienība, Liepājas partija" (1 Abgeordneter) 8,18 % (1 Abgeordneter)
"Progressīvie" 7,42% (1 Abgeordneter)
"Saskaņa" sociāldemokrātiskā partija 7,14% (1 Abgeordneter)
Latvija pirmajā vietā 6,16% (1 Abgeordneter)


11. Mai 2024

Einzahlen, bitte!

Im Vorfeld der diesjährigen Europawahlen wird in Lettland die Praxis von Parteispenden diskutiert. Anfang Mai beschloss das lettische Parlament eine Änderung im Parteiengesetz, der zufolge nun schon Parteispenden ab 7.000 Euro strafbar sind, wenn sie aus ungeklärten Quellen stammen. Unklar allerdings, ob dies allein ausreichen wird, um solche zweifelhaften Spenden zu verhindern.

Briefumschlag - Bankautomat - Parteikasse 

Zunächst standen Spenden an die Partei "Latvijas attīstībai" ("Für Lettlands Entwicklung") im Mittelpunkt der Diskussionen, auch die Antikorruptionsbehörde KNAB (Korupcijas novēršanas un apkarošanas birojs) sah sich zu Untersuchungen veranlasst. Māris Mičerevskis, früher mal Mitglied bei "Latvijas attīstībai", brachte die Sache mit Aussagen wie dieser ins Rollen: "Da gibt Dir jemand einfach zweitausend Euro und sagt, Du musst es für die Partei spenden.“ (LR1) 132 Spenden wurden als verdächtig angesehen, wo Verwandte, Freunde, Angestellte oder andere Vertrauenspersonen die Einzahlungen getätigt hatten. Dennoch wurden keine Strafverfahren eingeleitet, weil, wie es hieß, keine geltenden Gesetze verletzt worden seien. (lsm)

"Aus den Akten zu diesem Fall geht klar hervor, dass Menschen Geld spenden, das ihnen nicht gehört," sagt Sanita Jemberga vom Zentrum für investigativen Journalismus "Re-Baltica".

Spenden für die Karriere

Die Vorwürfe gegenüber der Partei "Vienotība" sind da etwas anders gelagert. Parteimitglieder spendeten auffallend großzügige Summen an die eigene Partei, und das noch dazu in vielen Fällen zeitlich geradezu synchron. 

So ist vom jetzigen "Vienotība"-Fraktionsvorsitznder Edmunds Jurēvics bekannt, dass er zu Zeiten, als er lediglich eine (eher "symbolisch" bezahlte) Stelle als Assistent eines Parlamentsabgeordneten hatte, mehr als 1.000 Euro an die Partei spendete. Und seit 2020, als der von ihm beratene Vilnis Ķirsis Bürgermeisterkandidat wurde, spendete er erneut mehr als 1.000 Euro. Seitdem Jurēvics aber 2022 Mitglied des Rigaer Stadtrates und später auch der Saeima wurde, gingen die Zahlungen erheblich zurück. 

Bei Dāvis Mārtiņš Daugavietis, ein weiterer "Vienotība"-Abgeordneter, soll es ähnlich gewesen sein - zunächst hohe Spendensummen, die nach seiner Wahl ins Parlament stark zurückgingen. "Ich wollte meine politische Karriere aufbauen, und ein Teil des Aufbaus dieser Karriere besteht darin, Mitgliedsbeiträge an die Partei zu zahlen, was ich auch als Investition in mich selbst, als Investition in meine Zukunft betrachtete," so erklärte es Daugavietis selbst (lsm)

Offenbar hilft es in Lettland, wenn nicht eine Wahl über die Zukunft einer Politikerin oder eines Politikers entscheidet, sondern vorab getätigte kräftige Spenden aufs Konto der eigenen Partei. Im Fall der stellvertretenden "Vienotība"-Generalsekretärin Sanita Stelpe-Segliņa sollen Spenden von Mann, Mutter und Schwiegertochter gekommen sein. 

Umschläge und Zählverfahren

Weiterhin gibt es Anschuldigungen, dass "Vienotība" in mehreren Fällen, einschließlich dem Büro von Ex-Ministerpräsident Kariņš, Löhne "im Briefumschlag" gezahlt haben soll (BNN) - ein Vorwurf, den die Partei energisch abstreitet. .

Und ein weiterer Vorwurf dreht sich darum, dass "Vienotība" über Jahre hinweg Dienstleistungen der Firma SOAAR genutzt haben soll, ohne dafür zu bezahlen (tv3) Inzwischen wurde bekannt, dass (erstmals seit 13 Jahren) bei den Europawahlen in Lettland die Stimmauszählung nicht mehr mit Hilfe der Firma SOAAR erfolgen wird. Der Staatliche Rechnungshof hatte bei einer Prüfung festgestellt, dass die Firma hier ohne rechtliche Grundlagen eine Monopolstellung gehabt habe. Bei den Europawahlen werden die Stimmen nun wieder manuell in den Wahllokalen ausgezählt werden. (IR).

20. Februar 2024

Leerstellen

Lehrkräfte - woher nehmen?

In Lettland werden zum nächsten Schuljahrsbeginn 200 Lehrerinnen und Lehrer fehlen - zumeist für die Schülfächer Mathematik und Lettisch.

Das durchschnittliche Gehalt für Lehrerinnen und Lehrer in Lettland liegt bei 1500 Euro (brutto), es ist damit eines der niedrigsten in Europa (ähnlich wenig gibt es in Bulgarien, Griechenland, Ungarn, oder Rumänien). In den Bezirken rund um Riga - Bremerinnen und Bremer würden vielleicht "Speckgürtel" dazu sagen - liegt die Entlohnung noch um 200-300 Euro höher. Im Nachbarland Estland streikten im Januar die Lehrerinnen und Lehrer, weil sie auch 2000 Euro (brutto) für zu wenig einschätzten. Im "Pisa-Vorzeigeland" Estland sei ein hoher Prozentsatz der Lehrkräfte (25%) Mitglied einer Gewerkschaft, so berichtete der "Deutschlandfunk".

Eine landesweite Übersicht aller offenen Stellen
an lettischen Schulen bietet die "skolu vakanču karte"

Lehrer streiken, kleine Schulen schließen

Wie sieht die Stimmung unter Lettlands Pädagog/innen aus? Das zuständige Ministerium in Lettland hat ein neues Gehaltsmodell entwickelt, dass zu Beginn des neuen Schuljahres im September 2024 eingeführt werden soll. Dann sollen die Gehälter nicht einfach dort am höchsten sein, in welcher Gemeinde es die meisten Schülerinnen und Schüler gibt - stattdessen wird geschätzt, wie viele Lehrkräfte für die Umsetzung eines bestimmten Lehrplans benötigt werden. Mehrere Kommunen, die das neue System getestet haben, kommen zu dem Schluss: Ja, die Gehälter werden höher sein. Allerdings: auch die Zusammenlegung kleinerer Schulen ist vorgesehen.

Damit soll einer durchaus spürbaren Tendenz entgegengewirkt werden, dass viele den Lehrerberuf verlassen. Mit dem Programm "Mācītspēks" wurde ein berufsbegleitender Pädagogikkurs geschaffen, der Fachkräfte aus verschiedenen Bereichen dabei unterstützten will, Lehrer für allgemeinbildende Fächer zu werden. Es war auch schon versucht worden, Studierende der Pädagogik an Schulen einzusetzen - aber viele gaben der hohen Arbeitsbelastung wegen wieder auf.

Etwa 150 kleine Schulen sind in den vergangenen 10 Jahren in Lettland geschlossen (bzw. mit anderen zusammengelegt) worden; aber noch immer schätzen Experten, dass eine weitere Optimierung des Schulsystems 80-120 Millionen Euro einbringen könnte, Geld, das dann zur Erhöhung der Lehrergehälter ausgegeben werden könnte. Andererseits ist auch klar, dass die Schließung kleiner Schulen den Mangel an Lehrkräften nicht beheben wird. (IR)

Lernen wie im Lichtpalast!

"Wir stecken in einem tiefen Loch", sagt Ieva Margarita Ozola, Leiterin der 13. Mittelschule in Riga. Noch lange nach Beginn des Schuljahrs musste nach zwei Lehrkräften für Lettisch gesucht werden, und das Fach Ingenieurswissenschaften muss immer noch ausfallen. (IR) "Schüler und Lehrer sind stolz auf ihre Schule – sie ist wirklich unser Lichtpalast!" so ist es in der Eigenwerbung dieser Schule zu lesen ("Lichtschloss, lett. "Gaismas pils", entsprechend dem legendären Chorlied von Jāzeps Vītols). 

Vielleicht mögen ja die Schülerinnen und Schüler ihre Schulen, wo sie gerade unterrichtet werden. Noch aus Sowjetzeiten stammt die Sitte, die Klassenlehrerin oder den Klassenlehrer am letzten und am ersten Schultag mit Blumen und Geschenken zu überhäufen - wohl wissend, dass damals von ihm oder ihr mehr abhängig war als die Schulbehörde organisieren konnte. Heutzutage wird in Lettland der "Skolotāju diena" (Weltlehrertag) brav an einem Sonntag begangen (erster Sonntag im Oktober); allerdings wird in den Schulen oft schon am Freitag davor etwas organisiert. "Ein wirklich talentierter Lehrer ist oft die erste Inspirationsquelle, ein Vorbild und ein Held, dem jeder Erstklässler nacheifern möchte", so sagte es Präsident Edgars Rinkēvičs aus diesem Anlaß 2023 (lvportal).
Die lettische Bildungsministin Anda Čakša zitierte lieber Winston Churchill, der gesagt haben soll: "Lehrer haben die Art von Macht, von der Premierminister nur träumen können“ (LIZDA)

Beim Kampagnenportal "Manabalss" ("Meine Stimme") sind zur Zeit viele Aufrufe zu finden rund um das Thema Schule: gleich zwei für den Erhalt kleiner Landschulen (einmal generell, einmal speziell der Mittelschulen), gegen die Umstrukturierung verschiedener Schulen in Jūrmala, Valdemārpils, Mērsrags und Jaunpils, oder auch für ein Verbot von Smartphones an Schulen.Die Gewerkschaft LIZDA (Latvijas Izglītības un zinātnes darbinieku arodbiedrība) betreibt zur Zeit eine Kampagne, welche einen gesetzlich festgelegten Rücktritt einer Regierung für den Fall der Nichteinhaltung von gegenüber der Gewerkschaft gemachten Versprechungen fordert.

Agenda 2030

Viel diskutiert wurde über neu festgesetzte "Qualitätskriterien" für die Lerninhalte an Schulen, genannt "Skola2030".  Es gibt Richtlinien für die Vorschulerziehung wie auch für die Grundschule. Für Lehrer/innen der Grundschule werden Materialien bereit gestellt und Online-Kurse angeboten - vielfach einfach auf Youtube (siehe Beispiel). Hingewiesen wird auch auf die Notwendigkeit eines Rollenwechsels: die Art und Weise, wie Lehrkräfte den Lernprozess anleiten, habe sich geändert. Kinder seien "Forscher und Macher", und Lehrerinnen und Lehrer sollen das Umfeld dazu schaffen, so heißt einer der Leitsätze in den Lehrmaterialien. Und Kinder dürften auch Fehler machen, wird betont - auch daraus entstehe ein Lernprozess. 

Lettische Schulen im Veränderungsprozess. Ob nun Pädagoginnen und Pädagogen eher Umfeldbereiter für selbständiges Kinderlernen sind, oder doch Machtinhaber, auf die selbst Staatschefs neidisch sind - das muss wohl im Trubel der lettischen Schulreformen geklärt werden müssen. Dass Lehrerinnen und Lehrer in Lettland verhältnismäßig schlecht bezahlt werden, daran scheint auf absehbare Zeit wenig zu ändern zu sein.


 

28. November 2023

Platz für neue Siege

Was bisher in Riga vollmundig "Siegespark" ("Uzvaras parks") hieß, hat nun ein neues Gesicht: inzwischen wurde der mit einem Kostenaufwand von 8,5 Millionen Euro umgestaltete Park für die Öffentlichkeit neu eröffnet. (IR / riga.lv) Werden in Zukunft an diesem Ort andere Siege gefeiert?

Schon vor dem 1.Weltkrieg wurde an dieser Stelle ein Park gestaltet - ursprünglich, wie es heißt, um die Einverleibung des damaligen "Livland" in das Russische Reich hier zelebrieren zu können, ein Ereignis, dass 1909 gerade 200. Jubiläum hatte. "Petrovsky Park", so wurde es damals genannt, und eigentlich sollte hier etwas Ähnliches entstehen wie im Villenviertel "Mežaparks". Aber als 1915 die Kriegsereignisse auch in Riga angekommen waren, markierte das auch das Ende dieser Idee (capitalriga). 

Schon 1923 gab es dann den ersten Versuch, diesen Bereich "Siegespark" zu nennen - als Erinnerung an den Sieg der vereinigten lettisch-estnischen Truppen, inklusive der Verteidigung Rigas, gegen die unter Bermondt-Avalov vereinigten Verbände der Deutschbalten, deutscher Freikorps und der Avalov'schen "Westrussischen Befreiungsarmee". Dann kam Kārlis Ulmanis, der sich ab 1934 selbst als autoritärer Herrscher Lettlands inthronisierte und große Pläne hatte: eine große Arena für Sport und nationale Aufmärsche sollte entstehen. Ulmanis träumte von etwas Ähnlichem wie das Berliner Olymiastadion und mindestens 25.000 Sitzplätzen für ein Stadion, wo auch die großen Liederfeste Lettlands hätten gefeiert werden sollen. Auch ein 6o Meter hoher "Siegesturm" war geplant, ebenso ein "Velodrom" mit nochmals 10.000 Zuschauerplätzen. 3 Millionen Lat zur Finanzierung waren schon als Spenden eingesammelt - als erneut ein Krieg alle Planungen zerschlug. 

Als nächstes war das Gelände dann Ort eines öffentliches Schauspiel der Sowjets: sieben Nazi- und SS-Offiziere wurden 1946 hier öffentlich exekutiert, darunter SS-Führer Friedrich Jeckeln. (citariga)

Es folgte eine Zeit, in der eigentlich auch die Sowjetunion eine Erinnerung an den 9.Mai nicht förderte - nach 1953 galt das als unwillkommene Erinnerung an Stalin. Erst Ende der 1970iger Jahre kam erneut die Idee eines "Siegesparks" auf, dessen Bauphase dauerte dann von 1979 bis 1985. Das große Denkmal mit dem anfangs sehr komplizierten Namen („Für die Befreier des sowjetischen Lettlands und Rigas von den deutschen faschistischen Invasoren“) wurde dann immerhin von mehreren lettischen Künstlern geschaffen: die Bildhauer Aivars Gulbis und Ļevs Bukovskis, sowie neben einigen weiteren auch die Architekten Edvīns Vecumnieks, Ermēns Bāliņš, und Viktors Zilgalvis. Eröffnet wurde die Anlage von Boris Pugo - der später eher traurige Berühmtheit mit seiner Beteiligung am Putsch gegen Gorbatschow erlangte. (pietiek.lv)

Auch nach Wiederherstellung des unabhängigen Staates Lettland behielt der Park zunächst die Bezeichnung "Siegespark". Da der Abzug der russischen Armee ein sensibles Thema war und lange Zeit unsicher blieb, wurde auch der Umgang mit Sowjetdenkmälern zum Bestandteil lettischer Politik. Sie sind abgezogen, im Gegenzug haben wir den Erhalt der Denkmäler zugesagt - das wurde zum regierungsamtlichen roten Leitfaden, auch wenn es keine russisch-lettische Vereinbarung über konkret zu schützende Objekte gab.

Am 7. Juni 1997 stand das Denkmal dann erneut im Fokus der Schlagzeilen: Anhänger des rechtsradikalen Verbands "Pērkonkrusts" ("Feuerkreuz") hatten es mit einer Sprengung versucht, nicht ohne vorher einige Hakenkreuze und Parolen aufzumalen. Es blieb beim Versuch - und zwei der Beteiligten kamen dabei ums Leben. Später standen 10 der (überlebenden) Täter vor Gericht und wurden zu Strafen in unterschiedlicher Höhe, bis zu 5 Jahren Gefängnis, verurteilt. Einer davon hatte sich fast zwei Jahre lang in lettischen Wäldern zu verstecken versucht. (delfi)

Der "Siegespark" blieb in der Folgezeit vor allem Austragungsort der jährlichen Feier zum 9.Mai, im russischen Verständnis also des Sieges (im "Großen Vaterländischen Krieg") über den Faschismus. Eine Petition zum Abbau des Denkmals bekam 2013 immerhin 12.000 Unterschriften, wurde aber später vom Parlament abgelehnt (likumi.lv). Eine ähnliche Petition des Jahres 2017 erreichte noch einmal 10.000 Unterschriften, als Reaktion darauf bekam eine Petition zum "Erhalt aller antifaschistischer Denkmäler" ebenfalls 25.000 Unterschriften. (capitalriga / manabalss

Einer Umfrage aus dem Jahr 2015 zufolge gaben etwa 2/3 aller russischsprachigen Einwohner Lettlands an, den 9.Mai zu feiern - im lettischsprachigen Umfeld waren es nur 7,5%. (lsm)

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine änderte auch die Stimmungslage in Lettland, die Sowjetdenkmäler betreffend. Am 13. Mai 2022 entschied der Stadtrat Riga das Denkmal abzureißen - denn unter Denkmalschutz stand es nie. Kurz darauf, am 16. Juni 2022, beschloss das lettische Parlament ein Gesetz „Zum Verbot der Ausstellung und Demontage von Objekten, die das Sowjet- und Nazi-Regime verherrlichen, auf dem Territorium der Republik Lettland“ (saeima.lv). Es sah vor, dass der Abbau derartiger Objekte bis zum 15.11.2022 erfolgen sollte. Die Demontage des Denkmals im "Siegespark" erfolgte in der Zeit vom 23. bis 25. August 2022. Berücksichtigt wurde auch das Ergebnis einer Umfrage, der zufolge sich 64% der Befragten dafür aussprachen, an dieser Stelle weiter einen Park zu erhalten. Eine vom Rigaer Bürgermeister eingesetzte Arbeitsgruppe stellte fest: es soll ein "frei zugänglicher öffentlicher Raum ohne ideologische Belastung" werden. (IR)

In Zukunft also sollen im neu gestalteten, 9 ha großen Landschaftspark Trampoline und Schaukeln aufgestellt, im Sommer eine Skaterbahn und im Winter eine Trasse zum Skilaufen angeboten werden. Außerdem sollen insgesamt 1500 Bäume neu gepflanzt werden. Weiterhin soll noch mehr Beleuchtung installiert werden und sogar eine Wasserversorgung für Schneekanonen im Winter. Eine mögliche Variante, das Gelände nun "Zukunftspark" zu nennen, wurde aber wieder verworfen - bis jetzt ist es weiterhin der "Uzvaras parks" ("Siegespark").

13. November 2023

Auf der Suche nach dem "Laimes lācis"

Glücksversprechen

Lange galt die Glücksspielbranche (lettisch = "Azartspēles") in Riga als eine Art Sumpf, der nur schwer auszutrocknen wäre. Immer wieder gefördert von verschiedenen Quellen in der Politik, immer wieder verflucht als Nutznießer der Krisenzeiten, wenn Spielsucht neue menschliche Krisen nach sich zieht. Daher erregte ein Plan der Stadtoberen schon 2018 Aufsehen, wenigstens im historischen Stadtkern alle dort bis dahin befindlichen 42 Spielhöllen schließen zu lassen, und als Ausnahmen nur Einrichtungen innerhalb Vier- oder Fünfsterne-Hotels zuzulassen.
Nun soll Gleichartiges auch in den anderen Stadtteilen passieren. Der neue Plan sieht vor, im Laufe von 5 Jahren mehr als 80 Spielhallen (Spielautomaten, Casinos, Wettbüros, Bingo) zu schließen, und damit 139 Glücksspielgenehmigungen zu widerrufen. Die Glücksspielbetreiber drohten, gegen diese Verbote vor Gericht zu ziehen. Der Stadtrat seinerseits beruft sich auf eine Untersuchung des Gesundheitsministeriums zur Suchtforschung, der zufolge 80.000 Menschen in Lettland an Spielsucht leiden, 16.000 von ihnen mit schwerwiegendsten Problemen.(lsm / riga.lv)

Auch eine Äußerung von Henriks Danusēvičs, Chef der Vereinigung der lettischen Kaufleute ("Latvijas Tirgotāju asociācija" LTA), verdeutlicht die Problematik. Schließlich gäbe es bereits eine Liste von 13.000 Menschen, denen der Eintritt in Spielhallen verwehrt sei. Und wo sonst - außer vielleicht an Tankstellen -  könne man einfach mal reingehen und einen Kaffee trinken, meinte er (LA)

Krisengewinnler

Journalistin Ieva Jakone beschrieb nun in einem Beitrag für die Zeitschrift "IR", dass trotz aller Verbotsandrohungen die Glückspielbranche bisher auch die pandemischen Zeiten sehr gut - sogar mit staatlicher Unterstützung - überstanden habe. Natürlich gab es Versuche der lettischen Regierung, Firmen, deren Betrieb wegen Covid-19-Schutzmaßanhmen beeinträchtigt war, zu unterstützen. Im Dezember 2021 zum Beispiel kündigte das Wirtschaftsministerium ein solches Programm an, und als Zielgruppe wurden hier "Einkaufs- und Sportzentren sowie Orte der Kultur, Erholung und Unterhaltung" genannt.


Aber warum wurden allein 7 Millionen Euro an Unterstützung für die Glückspielbranche gezahlt? 570 Millionen Euro habe der lettische Staat insgesamt für die Unterstützung für verschiedene Firmen gezahlt - aber keine andere Firma einer anderen Branche habe so viel Unterstützung bekommen wie "Joker Ltd", "DLV" und "Alfor", die drei größten der lettischen Glücksspielbranche. 

Gemäß dieser Untersuchung haben insgesamt 12.300 verschiedene lettische Unternehmen überhaupt Unterstützung bekommen - im Durchschnitt in einer Höhe von 46.000 Euro. Nur insgesamt 18 Unternehmen erhielten dabei eine Unterstützung von mehr als einer Million Euro. Wenn man sich nun ansieht, wer die meiste Unterstützung erhalten hat, so seien unter den zehn größten Zuschussempfängern sieben der Glücksspielbranche zu finden, so "IR". Gleichzeitig habe die Branche aber in den drei Pandemie-Jahren einen Gewinn von insgesamt 80 Millionen Euro gemacht. 

Pandemische Winkelzüge

Allein im Jahr 2020 forderte das Covid-19-Virus 700 Todesopfer, bis 2023 insgesamt 6500. Der Staat musste erheblich einschränkende Regelungen erlassen, so dass der Umsatz einiger Firmen um bis zu 15% zurückging. Staatliche Zuschüsse mussten Unternehmen selbst beantragen, der Staat berechnete den zu gewährenden Betrag auf 30 % des Gesamtlohns, für den Steuern gezahlt worden waren. 

Von April 2020 bis Anfang Juni 2020 war in Lettland Glückspiel komplett verboten. Die Nutzerinnen und Nutzer änderten aber schnell ihre Gewohnheiten: von nun an wurde online gespielt. Während 2019 der Gesamtumsatz der Glückspielbranche noch bei 289 Millionen Euro lag (bei 75 Mill. Euro Gewinn), sank der Umsatz 2020 um 33% und der Gewinn um 64%.  Richtig negativ war nur das Jahr 2021, als 9,8 Mill Euro Verlust erwirtschaftet wurden. Doch schon 2022 stieg der Umsatz wieder auf 245 Mill. Euro und der Gewinn auf 62,5 Mill. Euro. 

Als Beispiel dafür, dass die Branche geschickt von "Krisenunterstützung" profitiere, benennt Journalistin Ieva Jakone "Olympic Casino Latvia". Dessen Eigentümer gründete im März 2000 "Olybet Latvia", mit umfangreichem Online-Angebot. Schon im Jahr 2020 wurden so 750.000 Euro Gewinn erwirtschaftet, 2021 dann 2,9 Millionen und 2022 schließlich 2,1 Millionen. Bei der staatlichen Finanzbehörde (Valsts ieņēmumu dienests VID) aber sind weiterhin zwei unterschiedliche Firmen registriert - und so fließen auch die Unterstützungsleistungen weiter, die sich auf Umsatzrückgang in  Präsenzspielhallen bezieht. 

Unglück, oder Ungerechtigkeit?

Arnis Vērzemnieks zufolge, Chef des lettischen Glückspielverbands (Latvijas Spēļu biznesa asociācija LSBA), waren sämtliche erzwungenen Schließungen widerrechtlich und unverhältnismäßig. Im Jahr 2020 seien die Spielhallen 133 Tage, im Jahr 2021 sogar 237 Tage geschlossen gewesen - da sei es nur gerecht, wenn der Staat einen Ausgleich zahle. ("IR")

Wenn allerdings nun die allgemeinen Verbotsmaßnahmen der Stadt Riga auch vor Gericht Bestand haben, dann geht es wiederum um die genannten großen Unternehmen. Mit 41 Verboten wäre "Alfor" am meisten betroffen (25 davon in Spielhallen), gefolgt von „Olympic Casino Latvia“ mit 36 Verboten (19 Spielhallen), "Joker Ltd" mit 23 Verboten (12 Spielhallen) und „Admiralū klubs“ mit 20 Verboten  (11 Spielhallen).

9. November 2023

Fahrer gesucht

Die Anzeige war ganz einfach formuliert: "Fahrer gesucht - mehrere Tausend Euro Verdienst pro Tag!" Die Aufgabenstellung: mit einem Kleintransporter in einen grenznahen Wald in Ungarn fahren, dort warten, nicht aussteigen! Es nähern sich Menschen, die hinten in den Frachtraum einsteigen. Ein kurzes Klopfen als Nachricht für den Fahrer - und los gehts. ("IR")

Die angeworbenen Fahrer ahnen manchmal gar nicht, dass sie nun Teil eines internationalen Netzwerks der organisierten Kriminalität geworden sind, durch Transport von Migrant/innen werden Millionen verdient. In letzter Zeit wuchs die Zahl der Litauer und Letten stark an, die sich als Schleuser für Flüchtlinge betätigen. Allein in Ungarn wurden von den Grenzbehörden inzwischen ein Litauer oder Lette pro Woche festgesetzt - im gesamten Jahr 2021 waren es 31 Litauer und 30 Letten. Inzwischen hat das lettische Außenministerium bereits Warnungen herausgegeben, sich nicht auf verdächtige Arbeitsangebote als "Fahrer" einzulassen. 

Wie "ReBaltica" berichtet, verkünde der ungarische Regierungschef Orban zwar lauthals ein rigoroses Vorgehen gegen Flüchtlinge, aber die Realität sehe anders aus. Ungarn stecke seit Jahren in einer Wirtschaftskrise. Die Polizei sie stark unterbesetzt, unterbezahlt und schlecht ausgerüstet. Sie sind offensichtlich nicht in der Lage, gegen die illegale Migration vorzugehen. Sowohl Einwanderer ohne Papiere als auch ihre Schleuser haben immer noch recht gute Chancen, das Land zu durchqueren. Verhaftete Schleuser aber, so wie Letten und Litauer, sollen schon, Schätzungen zufolge, bis zu 10% der Verhafteten in ungarischen Gefängnissen ausmachen. Wer erwischt wird, muss mit bis zu acht Jahren Gefängnis rechnen - und auch die ungarischen Anwälte nehmen ordentliche Honorare, in der Regel mehrere Tausend Euro. Aber Häftlinge kosten auch den ungarischen Staat Geld, so werden immer mal wieder Internierte einfach mal freigelassen. (rebaltica)

Geworben werden die Fahrer meist für einen Einsatz in Ungarn, Tschechien, Kroatien, Polen und Serbien - alles Länder aus der sogenannten "Balkan-Route", die Flüchtlinge als Durchgangsstation auf dem Weg nach Deutschland Station machen. Und vor Polizeikontrollen müsse man keine Angst haben, so versprachen die Auftraggeber - denn als Ausländer könnte niemand z.B. in Österreich bestraft werden. Eine Lüge.

In vielen Fällen kommt es anders. In der Zeitschrift "IR" wird auch das Beispiel eines 19-jährigen jungen Mannes genannt: er besuchte noch die letzte Klasse eines Gymnasiums, und wollte eigentlich Fotograf werden. Das müsse er jetzt wohl verschieben, denn die nächsten sieben Jahre werde er in einem Gefängnis in Österreich einsitzen müssen. (rebaltica)

In ungarischen Gefängnissen sitzen offenbar schon viele ein, die wegen Flüchtlingstransporten bestraft wurden. Einzelheiten dazu geben ungarische Behörden offenbar nicht einmal gegenüber den diplomatischen Vertretungen der betreffenden Länder heraus. Von litauische Grenzbehörden ist bekannt, dass dort im ersten Halbjahr 2023 schon 23 wegen solcher Transporte verhaftete Letten gemeldet wurden.

18. September 2023

Regieren mit der Opposition

Stellen wir uns nur kurz mal vor, Olaf Scholz würde, angesichts offensichtlicher Schwierigkeiten der regierenden Koaliton zu Beschlussfassungen zu kommen, ankündigen, nun lieber mit zwei anderen Parteien der bisherigen Opposition regieren zu wollen. Und damit nicht genug: er selbst würde zurücktreten, und als Nachfolgerin eine Parteikollegin seiner bisherigen Ministerriege empfehlen - seine Partei stellt Scholz dann Optionen für ein Amt als EU-Kommissar, nach den nächsten Europawahlen, oder vielleicht auch das des Außenministers in Aussicht. 

Unwahrscheinlich? Verrückt? Undemokratisch? Na, ganz ähnlich ist es jedenfalls jetzt in Lettland gelaufen. 

Allerdings fällt es schwer zu beschreiben, warum nun eine Koalition mit der einen Partei gebildet werden kann, mit der anderen nicht. Es fing schon damit an, dass sich vor der letzten Parlamentswahl im Oktober 2022 - mal wieder - neue Parteien gebildet hatten. Die sogenannte "Vereinigte Liste" ("Apvienotais saraksts" AS) hatte die lettischen "Grünen"("Latvijas Zaļā partija" ZP) aus ihrer bisherigen Fraktionsbindung mit der Bauernpartei ("Latvijas Zemnieku savienība" LZS) gelöst, und mit dem Unternehmer Uldis Pīlēns eine neue "Leitfigur" präsentiert. Slogan: keine langen Reden, neue Illusionen oder Populismus, sondern vor allem Entscheidungen müssen her. Die Lösung schien einfach: kein anderer als Pīlēns soll entscheiden. Und es schien erfolgsversprechend: die AS bildete eine Koalition mit der "Neuen Einigkeit" ("Jauna Vienotība" JA) von Regierungschef Krišjānis Kariņš und den Nationalisten der "Nacionālā apvienība" (NA). 

Pīlēns, der zunächst behauptet hatte, selbst kein politisches Amt anzustreben, ließ es dann im Frühjahr 23 gleich auf eine Kraftprobe ankommen. Obwohl ziemlich klar war, dass seine beiden Koalitionspartner wohl eine zweite Amtszeit des bisherigen Präsidenten Egils Levits befürwortet hätten, präsentierte Pīlēns sich selbst als Gegenkandidat. Daraufhin zog sich Levits zurück. Um nicht das Heft des Handelns zu verlieren, sah sich Regierungschef Kariņš genötigt, einen neuen eigenen Kandidaten zu präsentieren - und fand ihn im bisherigen Außenminister Edgars Rinkēvičs. Gewählt wurde dieser tatsächlich schon in der zweiten Wahlrunde mit 52 der 100 Stimmen - offenbar mit Stimmen aus der Opposition. 

Es begann das, was Kariņš "mögliche Erweiterung der Regierungskoalition" nannte. Dies meinten die Koalitionspartner AS und NA ruhig aussitzen zu können - galten doch die Oppositionsparteien entweder als "zu links" ("Die Progressiven" / "Progresīvie" P), oder als "zu belastet", wegen der Nähe der "Bauernpartei" (Zemnieku savienība LZS) zum wegen Korruption verurteilten Oligarchen Aivars Lembergs.

Nun kam es also anders. Warum dazu der Rücktritt von Regierungschef Krišjānis Kariņš und die Amtsübergabe an die bisherige Sozialministerin Evika Siliņa nötig war, wird wohl vorerst ein Geheimnis zwischen den beiden bleiben. Die Vermutung, Kariņš habe sich als möglicher neuer lettischer EU-Kommissar für nach den Europawahlen positionieren wollen, ist jedenfalls noch nicht ganz entkräftet - auch wenn er jetzt als Außenminister ins Kabinett zurückkehrt. 

Zwei Parteien im Parlament kamen für Regierungsämter bei keiner Seite in Frage. Da ist noch die "Stabilitātei!" ("Für Stabilität"), Anti-EU und Pro-Kreml, die vom Niedergang der „Saskaņa“ profitierte - von der es bis dahin hieß sie vertrete die Interessen der Russen in Lettland. Aber Saskaņa hatte sich recht schnell gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ausgesprochen und rutschte bei den Wahlen unter die 5%-Hürde (Stabilitātei errang 6,8% und 11 Sitze).
Bleibt noch "Lettland zuerst" (Latvija pirmajā vietā LPV), die Partei mit dem deutlichen Bezug auf die Sprüche des Ex-US-Präsidenten, unterstützt von radikalen Impfgegnern, Querdenkern, Verfechtern einer "echten Familie zwischen Mann und Frau" und Fans von Parteichef und "Ex-Bulldozer" Ainārs Šlesers, der ebenfalls eher durch zwielichtige Geschäftskontakte, Korruptionsverdächtigungen, große Sprüche und eine unrühmliche Vergangenheit in anderen, inzwischen verflossenen Parteien berüchtigt und bekannt ist.

53 der 100 Stimmen erhielt nun das neue, "erste Kabinett Siliņa" im Parlament. Mit dieser neuen Regierung habe der "Ultraliberalismus und Kosmopolitismus" gesiegt, schreibt Nationalistenführer Raivis Dzintars, der jetzt Opposition organisieren muss. Die Bauernpartei, jetzt also neuer Koalitionspartner, firmiert weiterhin, auch ohne "Grüne", als Fraktion "ZZS" (Zaļo un Zemnieku savienība, gewissermaßen "Grüne und Bauern ohne Grüne" - jetzt mit der kleinen Splitterpartei "Latvijas Sociāldemokrātiskā strādnieku partija" / "Lettlands Sozialdemokratische Arbeiterpartei"). Die Bauernpartei hat vor allem eines wieder unter Kontrolle: neben den Ministrien für Klima + Energie, für Soziales und das für Wirtschaft, auch das Amt des Landwirtschaftsministers

Spannend wird auch werden, ob die "Progressiven" in Regierungsverantwortung etwas von ihrem ambitionierten Programm werden umsetzen können. Sie stellen jetzt mit der 33 Jahre jungen Agnese Logina die Ministerin für Kultur, ein Amt, das in den vergangenen Jahrzehnten oft von den Nationalisten dominiert und geprägt war. Und auch von Kaspars Briškens, 41 Jahre alt und als Experte des Bahnprojakts "Rail Baltica" bekannt, sind als Verkehrsminister durchaus richtungsweisende Ideen zu erwarten. Die "Progressiven" stellen aber mit Andris Sprūds auch den Verteidigungsminister, ein Themenbereich, wegen dem vielleicht nicht viele gerade diese Partei gewählt haben. Als Akademiker und Historiker eher kein typischer "Militärminister", vielleicht kann er aus seinen Studienzeiten in Krakau Kontakte mit Polen wiederbeleben. 

Also: es ist schwierig, den ganzen Vorgang weiter zu kommentieren. Es gibt ein Regierungsprogramm mit einigen klaren Festlegungen, und es wird vor allem darauf ankommen, ob diese Regierung in der Lage ist, mögliche interne Streitigkeiten und schwierige Diskussionen bei kommenden Parlamentsentscheidungen zu überstehen.

11. Juni 2023

Stimme nicht abgeben, aber Meinung deutlich äußern

Als vor kurzem der neue lettische Präsident im lettischen Parlament mit 52 von 100 Stimmen gewählt wurde, da geschah das erst zum zweiten Mal in offener Abstimmung - die lettische Öffentlichkeit konnte also nachvollziehen, wer für wen gestimmt hatte. Am 1. Januar 2019 war eine Gesetzesänderung in Kraft getreten die besagt, in Zukunft seien die Präsidentschaftswahlen in offener Stimmabgabe zu erfolgen. Interessant ist, dass dies eine Initiative des Portals "Manabalss" ("Meine Stimme") war, bereits 2014 gestartet, die insgesamt 12.000 Unterstützer/innen fand, und zunächst entsprechende Debatten im Parlament, dann sogar eine Verfassungsänderung zur Folge hatte. "Die Wahl zum Präsidenten des Landes muss offen und transparent sein," so die damalige Forderung, "damit die Wähler erfahren können, wie ihre gewählten Parlamentsmitglieder abgestimmt haben und wer für das Ergebnis verantwortlich ist." 

Lettland sei das erste Land, in dem eine Beteiligung der Öffentlichkeit zu einer Änderung der Verfassung geführt habe - so schreibt es Journalistin Laura Dumbere in der Zeitschrift "IR". Zudem habe ja das 2011 gegründete Portal "Manabalss" auch 2020 schon den "Bürgerpreis des Europäischen Parlaments" verliehen bekommen. 2023 kam auch noch der "Innovation in Politics Award" dazu, und auch vom deutschen Auswärtigen Amt gab es bereits Unterstützung. Die Aufmerksamkeit sei schon deshalb verdient, da inzwischen insgesamt 484.000 Menschen oder 25 % der Bevölkerung Lettlands auf dieser Plattform mindestens einmal ihre Stimme für einen Vorschlag abgegeben hätten. Und im Laufe ihres Bestehens seien über 100 Vorschläge entstanden, von denen 60 ins Parlament eingebracht und letztendlich zu neuen Gesetzen wurden. 

Imants Breidaks leitet die "Stiftung Bürgerbeteiligung" ("Sabiedrības līdzdalības fonds"), die das Projekt "Manabalss" trägt. Zwei weitere der ehemaligen Gründer, Kristofs Blaus un Jānis Erts, arbeiten inzwischen woanders. Am Anfang sei die Idee gewesen, alles, was im lettischen Parlament diskutiert wird, einer öffentlichen Abstimmung zu unterziehen. "ManaBalss existierte zu dieser Zeit aber schon", erzählt Breidaks in einem Interview. "Wir haben das alles noch mal aufgefrischt und überarbeitet, die ehemaligen Gründer waren teilweise schon mit anderen Projekten beschäftigt. Es gab mit 'ParVaiPret.lv' auch noch ein zweites Projekt, das einen engeren Dialog der Bürgerinnen und Bürger mit den Politiker/innen zum Ziel hatte." Und auch die estnische Initiative "Rahvaalgatus.ee" habe von den Erfahrungen in Lettland gelernt, in Litauen gäbe es inzwischen „Peticijos.lt“, berichtet Breidaks.

Aber nicht jede Eingabe wird auf "Manabalss" zugelassen, gibt Breidaks zu. "Wir versuchen das inhaltlich und rechtlich zu prüfen, und schauen uns auch die Absender an." Die Eingaben müssen sowohl den Prinzipien der lettischen Verfassung entsprechen und sollten konkrete Lösungsvorschläge beinhalten.
Wird etwas von einer politischen Partei eingereicht, muss dies offengelegt werden und es kostet eine Gebühr, je nach Größe der Partei (=Mitgliederzahl). "Aber solche Initiativen, die machen bei uns weniger als 1% aller Eingaben aus", meint Breidaks ("IR").
Und auch für Firmen und Unternehmen als Absender gibt es eine Gebührenregelung: Für kleine Unternehmen (bis 10 Mitarbeiter, Umsatz bis 2 Millionen Euro) kostet es 1.000 Euro, für mittlere Unternehmen 2000 Euro, und für große Firmen 4900 Euro (per Definition, die von der lettischen Investitions- und Entwicklungsagentur LIAA übernommen wurde). 

Zurück zum Beispiel der Präsidentenwahl. Dank "Manabalss" wird also inzwischen der lettische Präsident in offener Wahl gewählt. Es habe aber auch schon Kommentare gegeben, dass genau dies "undemokratisch" sei. Eine Wahl, die nicht geheim erfolgt? "Na ja," kommentiert Breidaks, "jedenfalls sind wir in die Geschichte der lettischen Rechtssprechung eingangen."

31. Mai 2023

Im Hockeyrausch zum Präsidentenamt

Da mögen wohl einige gehofft haben, noch etwas abzubekommen vom Jubel rund um die sensationelle lettische WM-Bronzemedaille im finnischen Tampere: dort wurde der lettische Torhüter Arturs Šilovs sogar zum wertvollsten Spieler gewählt, und in Riga feierten die Fans eigentlich die ganze Woche durch, stellenweise brach in der Nähe der Feierlichkeiten das mobile Telefonnetz wegen Überlastung zusammen (lsm). In Abwandlung eines deutschen historischen Fußballkommentars könnte man sagen: von hinten müsste Kristiāns Rubīns schießen, Rubīns schießt, und ... Tor ...Tor ... Tor !!! (ihf.lv)

Galerie der Ränkespiele

Nein, Präsidentschaftswahlen laufen auch in Lettland anders ab. Guntis Ulmanis brachte 1993 den Vorteil des bekannten Nachnamens mit (und wurde später Eishockey-Funktionär), Vaira Vīke-Freiberga kam 1999 als plötzlich auftauchende Überraschungskandidatin ins Amt. Deren Nachfolger Valdis Zatlers soll 2007 durch Absprachen verschiedener Parteien ins Amt gewählt worden sein, die ausgerechnet den Rigaer Zoo als Treffpunkt (für hohe Tiere?) ausgewählt hatten (tvnet). Dass Teile der deutschen Presse ihn damals als "zwielichtigen Arzt" bezeichneten (TAZ) lag vor allem an seinem Geständnis, von Patienten auch schon mal Geschenke angenommen zu haben (mit dem Verweis auf "sowjetische Verhältnisse").
Von seinem Nachfolger Andris Bērziņš erhofften sich die Politiker/innen, die ihn wählten, wohl vor allem, er werde nicht gleich wieder das ganze Parlament entlassen (was Zatlers tat). Außerdem gab es manchmal Missverständnisse, denn der Name Andris Bērziņš ist nicht gerade selten in Lettland - und so bekamen auch Namensvettern nach dieser Wahl überraschend Glückwünsche.
Als nächster wurde dann Raimonds Vejonis ins Präsidentenamt gehoben. Wenig charismatisch, aber skandalfrei. Ein studierter Biologe, Ex-Umwelt- und Ex-Verteidigungsminister und eher leiser Genosse - der sich bei seinen Reden manchmal tragisch verhaspelte. Er kandidierte kein zweites Mal, wurde aber dennoch 2020 erneut Präsident ... des lettischen Basketballverbands (lsm). Danach kam dann Egils Levits - der vor allem denjenigen Lettinnen und Letten gut bekannt war, die im Exil oder in der Diaspora in Deutschland lebten. Levits besuchte das lettische Gymnasium in Münster, studierte in Hamburg und war 1992-93 nach Wiedererlangung der lettischen Unabhängigkeit erster lettischer Botschafter in Deutschland. Aber zum Schluß bleiben vor allem die Umfragen stehen, denen zufolge weniger als ein Drittel aller Lettinnen und Letten mit seiner Arbeit als Präsident zufrieden waren. 

Der neue, alte Bekannte

Nun also Edgars Rinkēvičs. Ein Mensch, der auf Twitter immerhin über 87.000 Follower hat und seit Oktober 2011 (also seit fast 12 Jahren) lettischer Außenminister ist. 1973 in Jūrmala geboren, studierte er in den Niederlanden und nahm an einem US-amerikanischen Ausbildungsprogramm teil (jauns). In der internationalen Öffentlichkeit erregte er auch dadurch Aufmerksamkeit, dass er sich 2014 öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte. Gewählt mit 52 Stimmen (zur absoluten Mehrheit hätten 51 gereicht) im dritten Wahlgang. Er wird sein neues Amt am 8. Juli antreten, und seine Mitgliedkarte bei der Partei "Jaunā vienotība" ("Neue Einigkeit" / JV) schon in den nächsten Tagen zurückgeben (Diena).

Kandidatin Elīna Pinto hingegen, studierte Juristin, verheiratet mit einem Portugiesen und als "Diaspora-Aktivistin" bekannt, schied nach dem zweiten Wahlgang als Kandidatin mit den wenigsten Stimmen (10) aus, äußerte danach aber sichtlich ihre Zufriedenheit über den "dritten Platz" (Bronze, ebenfalls in Anspielung auf Eishockey) (Diena) Die Moderatorin der Live-Übertragung des lettischen Fernsehens wies zwar darauf hin, dass die lettischen Diaspora-Gemeinden sicherlich beim Eishockey sehr viel enthusiastischer mitfieberten - aber an politischer Statur hat Pinto sicherlich auch gewonnen. "Ich wusste gar nicht, dass wir eine so gut aussehende und intelligente Frau in der Politik haben" - solche Stimmen schnappte die lettische Presse vor allem von weiblichen Befragten auf. Und 2024 kommt ja schon die Europawahl.

Was Uldis Pīlēns, der andere Gegenkandidat, nun eigentlich erreicht hat, scheint er sich inzwischen auch selbst zu fragen. Aufgestellt von der Partei "Apvienotais Saraksts" ("Vereinigte Liste" AS), ein Koalitionspartner der JV von Regierungschef Kariņš, stand seine Kandatur zunächst dafür, eine Wiederwahl von Egils Levits verhindert zu haben (der sich mehrfach einen gemeinsamen Kandidaten der gegenwärtigen Koalition gewünscht hatte). Als sich dann auch noch Ainārs Šlesers von der oppositionellen Partei "Latvija pirmajā vietā" ("Lettland zuerst") dazu bekannte Pilēns wählen zu wollen, fürchteten einige schon den Einfluß von "moskaufreundlichen Kräften" bei der Präsidentenwahl. Nun bekam Pilēns aber in allen drei Wahlgängen lediglich 25 der 100 Stimmen, und der Kandidat wird nun nicht müde zu betonen: "der Ausgang der Präsidentschaftswahlen sollte keinen Einfluss auf die Koalition haben." 

Die Regierung sortiert sich neu

Aber genau dies scheint sich jetzt anzudeuten. "Jaunā vienotība" gibt in der aktuellen Regierungskoalition eindeutig den Ton an - so kommentierte es die lettische Presse. Regierungschef Kariņš hat es also geschafft, den eigenen Kandidaten gegen beide Koalitonspartner durchzusetzen - denn die “Nacionālā apvienība” ("Nationale Allianz"), nachdem sich der eigene Kandidat Egils Levits selbst aus dem Rennen genommen hatte, hatte sich in allen drei Wahlgängen nicht an der Präsidentenwahl beteiligt (was offenbar nach lettischem Recht möglich ist - dennoch waren 52 der nun noch verbliebenen 87 Stimmen nötig).

Auch Journalist Kārlis Streips sieht die "Nationale Allianz" nun eher im Abseits: "Warum auch immer sie an allen drei Wahlgängen nicht teilgenommen haben - entweder wollten sie nicht für einen schwulen Kandidaten stimmen, oder es lagen irgendwelche Revancheakte an", schreibt er, "ich denke ihre Wählerschaft ist einfach sehr alt und wird auch nicht jünger." (LA)

Es ist also keine große Rechenkunst (das Abstimmungsverhalten ist vom Protokoll dokumentiert, seit 2019 wird offen abgestimmt) zu behaupten, die 52 Stimmen seien nun von der regierenden "Jaunā vienotība" (26 Sitze), den oppositionellen "Grünen Bauern" (Zaļu un zemnieku savieniba ZZS, 16 Sitze) und den ebenfalls oppositionellen "Progressiven" ("Progresīvie", 10 Sitze) gekommen - letztere hatten in den ersten beiden Wahlgängen natürlich für ihre eigene Kandidatin Pinto gestimmt.

Rinkēvičs redete in seinen Dankesworten direkt nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses sehr viel von Eishockey -  Regierungschef Kariņš kündigte Gespräche über eine "Erweiterung der Koalition" bereits für die kommenden Tage an (LA).


12. Mai 2023

Karten neu gemischt

Das war so nicht zu erwarten: Lettlands Präsident Egils Levits hatte lange gezögert, ob er sich überhaupt für eine zweite Amtszeit bewerben solle. Dann, als er es doch tat, stand eigentlich mit Uldis Pilēns sein größter Gegenkandidat bereits fest, ebenso die ihn im Parlament stützenden Kräfte (siehe: Entchen und Leviten). Nun, da alles schon auf eine Pattsituation in der für den 31. Mai terminierten ersten Runde der Präsidentschaftswahlen zusteuerte, sein Rückzug. 

Die Argumente zur plötzlichen Aufgabe lassen aufhorchen. Die Entscheidung sei gefallen "angesichts der sich derzeit entwickelnden De-facto-Koalition mit kremlnahen politischen Kräften mit Verbindungen zu Oligarchen" (president.lv). Eine Frage muss erlaubt sein: was will Herr Levits damit sagen? Dass Zweifel an demokratischen Prozessen in Lettland ab sofort offiziell erlaubt sind?

Levits' zweites Argument ist sein Rat an die gegenwärtig regierende Koalition, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten (oder Kandidatin) zu einigen. Aber diese Maßgabe hätte nun keiner der beiden bisherigen Kandidaten - Levits und Pilēns - erfüllen können. Letzterer sieht natürlich keinen Grund, sich ebenfalls zurückzuziehen (lsm) Und die potentiellen Levits-Fans werden durch ein am selben Tag in der Zeitschrift "IR" veröffentlichtes Interview mit Levits irritiert, von dem vor allem die Behauptung hängen bleibt, in Levits Amtszeit sei "Lettland lettischer geworden". Zu seinen niedrigen Umfragewerten meinte Levits nur, dass sei seiner Haltung während der Pandemie geschuldet: er habe sich für die Impfung ausgesprochen. 

Nun ja, wie auch immer: nun stellen sich rund um den inzwischen zum Favoriten gereiften Pilēns ein weiterer Kandidat und eine Kandidatin auf. Regierungschef Kariņš sieht sich natürlich trotz des Levitschen Hinweises auf möglichst einen gemeinsamen Koaltionskandidaten nicht veranlasst, jetzt plötzlich für Levits Gegenkandidaten zu stimmen. Seine Partei "Jaunā vienotība" ("Neue Einigkeit") ist sich vorerst nur parteiinten einig, einen ihrer unzweifelhaft angesehensten Politiker als Kandidat aufzustellen: Außenminister Edgars Rinkēvičs. Der ist mit 12 Jahren Amtszeit (seit Oktober 2011) wohl inzwischen Europas dienstältester Außenamtsvertreter, und steht auch in Meinungsumfragen nicht schlecht da. Und das, obwohl er 2014 öffentlich sich zu seinem Schwulsein bekannte. Als Präsidentschaftskandidat möglicherweise stark - aber absehbar nicht wählbar für alle anderen konkurrierenden und um Machteinfluss ringenden Parteien, die ihn mitwählen müssten.

Ja, und dann eben doch eine Frau als Kandidatin. Elīna Pinto steht für eine Karriere der etwas anderen Art: bis vor einigen Monaten war sie Vorsitzende der "Vereinigung der Letten in Europa" (Eiropas Latviešu apvienības ELA). Derzeit steht sie für "EsiLV", einen Verein der sich für Innovationen und Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft einsetzt. Schon die Liste der Länder, in denen sie verschiedene Fächer studiert hat, ist vielsagend: Lettland, Italien, Frankreich, Großbritannien und Luxemburg. Sie arbeitet gegenwärtig bei der Repräsentanz der Europäischen Kommission in Luxemburg, ist verheiratet mit Orlando Pinto, einem in Portugal gebürtigen Luxemburger Diplomaten (lsm/ bnn / LA). "Die gegenwärtigen Herausforderungen verlangen moderne Denkweisen", so begründet Kaspars Briškens, Parteichef der "Progresivie" ("Die Progressiven", derzeit 10 Sitze im Parlament), die Kandidatinnenauswahl. Ein symbolischer Akt nicht nur deshalb, weil die Kandidatin vorerst nur für die erste Wahlrunde aufgestellt wird - auch unter den wahlberechtigten Lettinnen und Letten in verschiedenen Ländern Europas schneiden die "Progressiven" prozentual weit besser ab als im eigenen Lande.  

Die diesjährigen Präsidentschaftswahlen in Lettland: offenbar ein Spiel, bei dem mehrfach mitten drin die Karten gewechselt werden.

5. Mai 2023

Entchen und Leviten

Noch vor kurzem war der lettische Präsident Egils Levits auf einem Deutschlandbesuch, mit Terminen in Hamburg und Lübeck (hafen-hamburg) und Ehrendoktorwürde an der Universität Lüneburg (idw). Im November 22 redete Levits im Deutschen Bundestag (volksbund), mehrfach war er Interviewgast in deutschen Medien (Deutschlandfunk / FAZ), und die Universität Hamburg sortierte ihn schon kurz nach seiner Wahl als "Alumnus" ein. 1992-94 war er der erste Botschafter Lettlands in Deutschland, als Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (1995–2004) konnte Levits europäische Kontakte aufbauen, 2019 wurde er für vier Jahre als Präsident Lettlands (vom Parlament) gewählt. Aus deutscher Sicht also nicht nur wegen seiner Deutschkenntnisse ein gern gesehener Gesprächspartner, sowohl in den letzten Jahren der Amtszeit Angela Merkels, wie auch nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Nun werden in Lettland voraussichtlich am 31. Mai erneut Präsidentschaftswahlen abgehalten, die Amtszeit von Levits endet am 7. Juli. Ob er aber eine Chance für eine zweite Amtszeit erhält, erscheint bisher sehr unsicher. Bis zum 13. Mai werden weitere Kandidaten gesichtet (Frauen gibts bisher nicht darunter). 

Architekt neuer Prioritäten?

Bereits Anfang April hatte Uldis Pilēns sein Interesse an einer  Kandidatur bekundet. Pilēns, mit 66 Jahren ein Jahr jünger als Levits, hatte bereits im vergangenen Jahr die politische Landschaft Lettlands neu zu sortieren vermocht, als sich in seinem Umfeld die sogenannte "Vereinigte Liste" ("Apvienotais saraksts" AS) als neue Partei formierte, gebildet aus einer bunten Mischung von Politikern die es vorher in anderen Parteien versucht hatten (auch hier sind Frauen eher selten, im Vorstand findet sich unter 10 Mitgliedern eine Frau), oder, wie zum Beispiel Māris Kučinskis, sogar schon einmal lettischer Regierungschef waren. Der neue Parteislogan heißt nun: professionell, regional, grün. Für das Letztere sollen wohl die aus der Klammer mit dem Bauernpartei "geflüchteten" (konservativen) lettischen Grünen stehen, dazu kommt eine starke Verflechtung in alle Teile des Landes durch den Verband der Regionen (Latvijas Reģionu Apvienība). Und wer einen starken Geldgeber hinter sich hat, eben Pilēns, dessen Arbeit gilt in Lettland offenbar als "professionell".

Uldis Pilēns, geboren in der Hafenstadt Liepāja, besuchte ab 1974 zunächst die Fakultät für Architektur am damaligen Politechnischen Institut (heute Universität) Riga. 1976 bis 1980 war er an der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar (DDR) eingeschrieben - die heutige Bauhaus-Universität. Für diesen besonderen Auslandsaufenthalt interessierten sich auch Journalisten der lettischen Zeitschrift "IR" und fragten, ob dazu nicht eine Übereinkunft mit dem sowjetischen KGB notwendig gewesen sei. Ein solcher Austausch von Studierenden sei damals einfach die Politik der UdSSR gewesen, antwortet Pilēns - man könne ihm ja nicht einfach vorwerfen, im falschen Jahr am falschen Ort gewesen zu sein, Kontakte zu irgendwelchen sowjetischen Sicherheitsorganen habe es nicht gegeben, behauptet er. 

Nachdem er bis 1988 fünf Jahre lang Stadtarchitekt in Liepāja gewesen war, gründete Pilēns danach ein eigenes Architekturbüro, leitete die Entwicklung einer Sonderwirtschaftszone in Liepaja (SEZ) und war auch in leitender Funktion beim Energieversorger LATVENERGO. Seitdem war er, wie es so schön auf Neulettisch heißt, "biznesmenis", beteiligt an verschiedenen Firmen des Baugewerbes und gründete zusammen mit seiner Frau Ilze auch noch die "Ola Foundation", die "neue Ideen und Synergien" fördern möchte, mit Veranstaltungszentrum und kleinem Hotel. 

Bereits 1998 übernahm Pilēns ein Vorstandsamt in der neu gegründeten "Tautas Partija" ("Volkspartei", 2011 aufgelöst); in den Stadtrat seiner Heimatstadt Liepāja wurde er 2005 für vier Jahre gewählt (cvk). "Die ersten zehn Jahre sind immer mit viel Romantik verbunden", antwortete Pilēns auf eine Journalistenfrage nach diesen ersten Schritten in der Politik und zitiert eine Theorie, die er Schweizer Zeitungen entnommen habe: "neue politische Kräfte bestehen in der Regel aus einem Drittel begeisterten Romantikern, einem Drittel aus Opportunisten und zu einem Drittel aus Karrieristen - auch wir hatten damals zunächst einfach den romantischen Wunsch, Lettland zu verändern". (IR

Nun also die neue politische Initiative der "Vereinigten Liste". Sie stellte unter anderem eine Alternative dar für Anhänger der bisherigen Fraktion der "Grünen und Bauern" ("Zaļo un Zemnieku savienība" ZZS), die sich seit 2002 vor allem von Aivars Lembergs finanzieren ließen, einem Mann mit durchaus zweifelhaftem Ruf (der aber auch immer wieder als Präsidentschaftskandidat nominiert wurde). Nun wechselten mehrere bekannte Politiker, und auch gleich die ganze Grüne Partei zur "Vereinigten Liste", und die Partei bot sich nach den Wahlen 2022 erfolgreich Regierungschef Krišjānis Kariņš als Koalitionspartner an. Die Partei stellt nun 3 Minister und eine Ministerin, aber Pilēns selbst kandidierte nicht.

Regierung und Präsident stürzen? 

Als nächster Schritt folgt nun also das Präsidentschaftsrennen. Noch bevor Egils Levits eine Entscheidung zur Kandidatur für eine zweite Amtszeit bekanntgab, warf schon Uldis Pilēns seinen Hut in den Ring - obwohl seine Partei im Parlament ja nur über 15 der 100 Sitze verfügt, und in dem Wissen, dass der Koalitionspartner der "Jauna Vienotība" (26 Sitze), die Partei von Regierungschef Kariņš, sich für Levits ausgesprochen hatte. Es fehlte aber nicht der Hinweis darauf, die öffentliche Unterstützung für den amtierenden Präsidenten sei "bedenklich niedrig".

Die "Vereinigte Liste" betont immer wieder, sie habe nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine verhindern wollen dass Kräfte in der Saeima an die Macht kommen, welche die Sicherheit Lettlands und die Ziele der Außenpolitik beeinträchtigen könnten. Deshalb die neue Partei. Nun wird ja die erste Runde der Präsidentschaftswahlen eine Abstimmung im Parlament sein: wer mindestens 51 von 100 Stimmen bekommt, wäre gewählt. Während nun die Rechtsnationalen (“Nacionālā apvienība”) und die "Jauna Vienotiba" sich für Levits ausgesprochen haben (= zusammen  39 Stimmen), erklärte sich Ainārs Šlesers, inzwischen Kopf der Partei "Lettland zuerst" ("Latvija pirmajā vietā") bereit, ebenfalls Pilēns wählen zu wollen (= ergibt dann zusammen 24 Stimmen). Von Šlesers ist die Äußerung bekannt, er wolle "Kariņš und Levits aus dem Amt jagen, so dass sie mit den Füßen nach vorn rausgetragen werden" (lsm).

Von der "Zaļo un Zemnieku savienība" (16 Stimmen, die sich immer noch "Grüne Bauern" nennen, nun aber mit der "Lettischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" LSDSP eine Verbindung eingegangen sind) ist noch keine Entscheidung für oder gegen bestimmte Kandidaten bekannt. Viele Male zuvor hatten sie ihren eigenen "Sponsor" Ainars Lembergs aufs Kandidatenschild gehoben. Ainārs Šlesers äußerte die Überzeugung, dass schließlich alle gegenwärtigen Oppositionsparteien gegen Levits stimmen würden. Die "Progressiven" (“Progresīvie”, 10 Stimmen) stellten bisher in Aussicht, zumindest in der ersten Abstimmungsrunde noch einen eigenen Kandidaten aufstellen zu wollen. Bei den tendenziell moskaufreundlichen Genossen der "Stabilitātei" und deren Parteicheef Aleksejs Roslikovs möchte keiner der zwei bisherigen Kandidaten um Stimmen werben. 

Unsichere Aussichten

Von wem auch immer die präsidiale Mehrheit käme - Pilēns sieht keine Gefahr darin, von wem die Stimmen dann kommen könnten - wenn er nur gewählt würde. Außerdem äußert er die Absicht, im Falle seiner Wahl alle Posten in verschiedenen Firmen niederzulegen. "Es ist ganz klar, dass ich im Falle meiner Wahl nicht mehr in die Wirtschaft zurückkehren werde", so Pilēns (IR). 

Alles sieht also bisher nach einer Art "politischem Pokerspiel" aus. Wer seine Trümpfe zuletzt ausspielt, wird gewinnen? Es gibt auch (bisher leise) Rufe, es könnte ruhig mal wieder eine Frau das Präsidentenamt übernehmen. Aber ob es eher Levtis, das "Entchen", oder andere (hohe) Tiere werden ... vorerst bleibt es eine offene Frage.