26. Dezember 2022

Müll-Bilanz

Erstaunlicherweise ist in Lettland zu pandemischen Zeiten die Gesamtmenge an Haushaltsabfällen erheblich gestiegen - so bilanziert es Journalistin Laura Laķe für die Zeitschrft "IR", und beruft sich dabei auf Zahlen des lettischen Zentrums für Umwelt, Geologie und Meteorologie (Latvijas Vides, Ģeoloģijas un Meteoloģijas Centrs LVGMC). Dem zufolge waren es 2019 insgesamt 840.413 Tonnen Hausmüll, im Jahr 2020 dann 908.960 Tonnen, und 2021 869.285 Tonnen. Wie Statistiken von Eurostat zeigen, wurde noch 2014 in Lettland pro Einwohner 318 kg Hausmüll erzeugt - bis 2019 stieg das auf 437 kg an. Und es muss gleichzeitig gesagt werden, dass dieser Anstieg ja wohl nichts mit einem Anstieg der Bevölkerungszahl zu tun haben kann - eher im Gegenteil.

Anders gesagt: in einer Statistik aller 38 Mitgliedsorganisationen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegt Lettland, gemessen an der durchschnittlichen Hausmüllmenge, den 22. Platz. Somit produziert Lettland etwa doppelt so viel Müll pro Jahr pro Person wie die Menschen in den Ländern mit dem größten Aufkommen an Hausmüll. Und das Abfallaufkommen pro Einwohner in Lettland war auch höher als beispielsweise in den anderen baltischen Staaten oder in Polen. Zudem liegt die Recyclingquote in Lettland nur bei 23% (Zahlen von 2021, Deutschland 68%)

2022 war das Jahr, als Lettland endlich ein Rücknahmesystem für Pfandflaschen einführte. Aber beim Thema Müllvermeidung sei man noch nicht sehr weit gekommen, so urteilen lettische Umweltfachleute. Befragt nach den Gründen, warum sie das Pfandrücknahmesystem nutzen, nannten die meisten (59%) die 10Cent als Motivation, die jede Flasche oder Dose einbringt. Nur 37% nannten "Sorge um die Umwelt" als Auslöser (lsm)

Als Ziel der Europäischen Union ist festgelegt, in den Mitgliedsstaaten bis 2035 eine Wiederverwertungsquote von 65 % zu erreichen und weniger als 10% des Abfallaufkommens noch auf Deponien lagern zu müssen. Jānis Aizbalts, Direktor beim Abfallverwerter SIA Eco Baltia (Motto: "Finde den Wert in allem"), schätzt die gegenwärtige Wiederverwertungsquote des Abfalls in Lettland optimistisch auf inzwischen 40% - aber er zweifelt an der Fähigkeit der lettischen Gesellschaft, neue Methoden der Aballtrennung schnell zu lernen.(IR) Umfragen zeigen, dass inzwischen 71% der Bevölkerung das neue Pfandrücknahmesystem regelmäßig nutzen. Aber entscheidend sei auch, so Aizbalts, das entscheidende Schritte auf dem Wege der Abfallvermeidung eingeleitet werden. 

Kaspars Zakulis, Chef von "AS Latvijas Zaļais punkts” (Grüner Punkt Lettlands) sieht es so: "Im Jahr 2011 haben nur 34% der Befragten gesagt dass sie Mülltrennung vornehmen, und auch 2020 lag das nur bei 60%" (lsm) "Kunststück!"- möchte man da dazwischenrufen: wenn Lettland erst 2022 eine systematische Flaschenrücknahme einführt - warum sollte es auch vorher jemand erst trennen (und dann zusammen mit dem anderen wegschmeißen?). Zakulis redet auch vom "Vorbild Deutschland", begründet das aber so: "das liegt ja auch schon in der Mentalität dieser Nation. Diese Ordnung, einerseits. Und andererseits war eben Deutschland nach dem 2.Weltkrieg auch total zerstört, da spielten Sekundärmaterialien wie Metall und Glas immer schon eine wichtige Rolle." - Über "lettische Mentalität" sagt Zakulis an dieser Stelle nichts.

Das lettische Parlament brachte nun eine Entscheidung auf den Weg, aus bisher zehn verschiedenen Regionen fünf Abfallverwertungszentren zu entwickeln (lsm). So soll zum Beispiel die Wiederverwertung von Gebrauchtreifen sichergestellt werden, und auch für Textilien und Schuhe soll es neue Regelungen und ggf. spezielle Rücknahmecontainer im ganzen Land geben. 

Aber auch das, was in Deutschland als "Biomüll" verstanden wird, landet bisher in Lettland noch zu bis zu 60% im Haushaltmüll - so bemängelt es eine Untersuchung des staatlichen Rechnungshofs (bnn) Landesweite Stellen, die Biomüll nicht nur entgegennehmen, sondern daraus auch qualitätsgeprüften Kompost herstellen und zugänglich machen, gibt es bisher nicht. 

Ein weiteres Problem ist die gegenwärtige Beliebtheit von leichten Kunstofftragetaschen in Lettland. Einer neuen europaweiten Erhebung zufolge benutzt jeder Lette und jede Lettin pro Jahr 229 solcher leichten Plastiktüten, in denen ja gern so manches Einkaufsgut verschwindet (2018 waren es sogar schon mal 327 !). Nur Litauen hat da mit aktuell 294 Tütchen einen noch höheren Verbrauch. In Deutschland sind es 45 pro Einwohner/in - was multipliziert mit 80 Millionen Menschen allerdings auch wieder einen stattlichen Müllberg verspricht.

Schon seit Jahrzehnten galt in Lettland der Name "Getliņi" als Synonym für den größten lettischen Müllberg. Aber in 5 bis 7 Jahren wird hier Schluss sein müssen, sagen Experten: die 80ha-Deponie nahe des Ortes Ropaži ist voll. Eine Erweiterung ist dann nicht mehr möglich. Auch hier wird geschätzt, dass allein die getrennte Aussortierung von Biomüll eine Volumenersparnis um 40% bringen könnte (lsm).

15. Dezember 2022

Daugavpils und die Kunst

Daugavpils, die zweitgrößte Stadt Lettlands, eröffnete 2013 voller Stolz das "Mark-Rothko-KunstZentrum", und verfügt seitdem endlich über einen kulturellen wie auch touristischen Anziehungspunkt, der auch international funktioniert. Das Daugavpils Mark Rothko Art Center befindet sich im historischen Artillerie-Arsenalgebäude der Festung Daugavpils, das 1833 erbaut wurde. Für viele kulturinteressierte Lettland-Besucher/innen wurden Ausstellungen an diesem Ort zum einzigen Grund, ihre Reiseroute auch in diese Region zu verlegen.

Laut Eigenwerbung ist das Museums "der einzige Ort in Osteuropa, wo es möglich ist, die Werke des in Daugavpils geborenen weltberühmten amerikanischen Künstlers, des Begründers des abstrakten Expressionismus und der Farbfeldmalerei Mark Rothko (1903-1970) in einer erweiterten Ausstellung kennenzulernen."

So weit, so gut. Seit dem 28. Oktober läuft nun im Mark Rothko Center unter anderem eine Ausstellung des estnischen Keramikkünstlers Sander Raudsepp. Der stammt von der estnischen Insel Saaremaa und beschreibt auf seiner Webseite seine Arbeitsweise wiefolgt: "Ich lasse mich inspirieren von unangemessenen Witzen, Verschwörungstheorien, Psychedelika, Missverständnissen aus der Kindheit, Leben und Tod, Religion und zufälligen Duschgedanken."

Auf Druck religiöser Gruppen wurden nun auf Veranlassung der Stadtverwaltung drei Kunstwerke aus der laufenden Ausstellung entfernt. So, wie es in den lettischen Medien formuliert wurde, sei der Stein des Anstosses eine Kombination aus einem "christlichen Kreuz und männlichen Genitalien" (lsm) Die Werke stünden für "Hass gegen das Christentum", so sahen es Jānis Bulis (Kath. Kirche Rēzekne), Einārs Alpe (Ev.-Luth. Kirche Daugavpils) und Andrejs Sokolovs (Orthodoxe Kirche, Vorsitz des Zentralrats der Altgläubigen). (Latvijas Kristigais Radio)

Aber es gibt auch Protest gegen dieses Vorgehen. Die Vereinigung lettischer Museen (Latvijas muzeju biedrība) wandte sich in einem offenen Brief an u.a. Kulturminster Puntulis und den Bürgermeister von Daugavpils und spricht von "Zensur". Verlangt wird auch, dass die drei entnommenen Stücke in die Ausstellung zurückkehren müssten (lsm) Die lettische PEN-Vereinigung zitiert eine Aussage des stellvertretenden Bürgermeister von Daugavpils, Aleksejs Vasiļjevs, mit den Worten: die drei Kunstwerke seien provokativ, und die Gesellschaft von Daugavpils sei nicht bereit dafür. - Wenn das ein Maßstab sei, dann müsse darauf hingewiesen werden, dass zu Zeiten, als die Werke von Mark Rothko enstanden, die Gesellschaft ebenfalls nicht bereit dafür gewesen sei. - Vasiljevs dagegen hatte behauptet, die Entnahme von Kunstwerken aus der Ausstellung sei "keine Initiative des Stadtrats Daugavpils" gewesen, könne also nicht als "Zensur" bezeichnet werden, sondern als "Wunsch der Einwohner." (jauns)

Ab sofort heißt es dann wohl "das Beispiel von Daugavpils mahnt". Nur: vor oder an was? Wo die einen zu großen Einfluß der russisch-orthodoxen Kirche speziell in Daugavpils vermuten, sehen die anderen die Notwendigkeit von Diskussionsveranstaltungen und Bildungsangeboten rund um solche Ausstellungen. Manche sehen auch schlichtweg die "Wiederkehr von Zensurmethoden der Sowjetzeit". Wieder andere befürworten spezielle Ausstellungsräume mit Warnhinweisen vor dem Betreten, oder Ausstellungen, die erst ab 18 Jahren zutrittsberechtigt sein könnten. Den Aussagen von Māris Čačka zufolge, der das Rothko-Zentrum leitet, sei der betroffene Künstler selbst "nicht überrascht" über den Vorgang in Daugavpils gewesen - zwar sei ihm Ähnliches in Estland noch nicht passiert, aber schließlich kenne er ja das Umfeld der baltischen Staaten. (ritakafija)

Jānis Vanags, Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Lettland, befürwortet eine Diskusion um "Grenzen der Kunst". (lsm) Edgars Raginskis dagegen, Kulturjournalist und Komponist, eigenen Angaben zufolge "cenzūras pētnieks" (Zensurforscher), beruft sich auf die lettischer Verfassung, der zufolge Zensur untersagt sei. "Und zwar unabhängig davon, ob etwas gefällt oder nicht gefällt", meint er. Außerdem seien eben Kirche und Staat per Verfassung getrennt. Die Behauptung „die Gefühle von Gläubigen seien verletzt“, das sei eben auch eine gut aus Russland bekannt Vorgehensweise, die nur zu einem totalitären, kriminellen Regime passe.

7. November 2022

Endlich aufgedeckt: Dumme Deutsche?

Es ist immer wieder eine interessante Frage: welche Vorstellung haben Lettinnen und Letten von Deutschland? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, müssen wir uns die Perspektive wohl zunächst mal aus lettischer Sicht vorstellen. 

Deutschland-Image

Was aus Deutschland in den vergangenen 30 Jahren kam, könnte sich manchmal vielleicht angefühlt wie eine Mischung aus Belehrungen, Misstrauen und Übervorteilung. Seien es die ungleichen Vermögensverhältnisse als Resultat des Übergang von Sowjetwirtschaft hin zur sogenannten "Privatisierung", oder die vielen im voraus des EU-Beitritts zur Akzentanz vorgelegte Regelungen und Gesetze, die sicher oft detailverliebt und bürokratisch wirkten. Auch wie man Krisen übersteht, meinten ja gerade viele Deutsche besser zu können: einfach sparsam sein. Die Flexibilität und Kreativität, auch den Optimismus und die Tatkraft die es brauchte, um das Leben im Lettland der vergangenen 30 Jahre zu überstehen, dafür fehlten in Deutschland sehr oft sowohl Antennen wie Sensibilität. 

Deutschland-Berichterstattung in Lettland: laufen jetzt
alle Deutschen mit Russland-Fahnen herum?

Deutschland weiß oft alles besser - oder tut zumindest so; mit diesem Ruf der Deutschen in Europa müssen wir uns als Deutsche wohl auseinandersetzen. Und wir müssen sogar ergänzen: und wenn es mal anders zu laufen drohte, dann legt Deutschland einfach noch mal ein paar Milliarden Euro drauf, damit der Anschein bestehen bleiben kann (damit zum Beispiel europäische Gesetze mal wieder so gestaltet werden können, dass sie der deutschen Autoindustrie nicht schaden). 

Zeitenwende

Nun aber haben wir "Zeitenwende". Nun müssen offenbar die Deutschen zugeben, was sie alles falsch gemacht haben. Erst Recht, wenn - wie in Lettland - die Solidarität mit der Ukraine in der politischen Agenda allem voran gestellt wird. "Die Deutschen - wie immer gastfreundlich", schreibt da am 4. November Laine Aizupe in der "Latvijas Avize" - "gastfreundlich auch für russische Deserteure." 

Nein, hier geht es offenbar nicht darum, dass russische Soldaten anlässlich des von Putin in der Ukraine angezettelten Krieges lieber desertieren sollten. Was das angeht, kursiert in Lettland das böse Wort von den "Sofa-Sittern" - also denjenigen Russen, denen, wie es heißt, der russische Angriffskrieg in der Ukraine so lange egal war, wie es nicht zur allgemeinen Mobilmachung kam.

Menschen aus der Ukraine - in Deutschland bedroht?

Über eine Million Menschen aus der Ukraine haben bisher in Deutschland Aufnahme gefunden. Aber jetzt seien die Ukrainer in Deutschland besorgt, schreibt Aizupe - und klagt dabei deutsche Parteien fast aller politischen Couleur an: zitiert werden Irene Mihalic von den "Grünen" ebenso wie Johann David Wadephul von der CDU - beide hätten sich für die Gewährung von "humanitärem Asyl" für russische Deserteure ausgesprochen. (siehe auch "Tagesschau" 23.9.) Dabei bleibt es aber nicht. Die lettische Journalistin zitiert benahe genüsslich aus einer ARD-Umfrage: 54% der Deutschen würden die Aufnahme russischer Deserteure in Deutschland befürworten, und darunter seien besonders viele Anhänger/innen der Grünen (77%) und der Sozialdemokraten (64%). Als kleines "Sahnehäubchen" wird noch hinzugefügt: Andrij Melnik, bisher Botschafter der Ukraine in Deutschland, sei anderer Meinung gewesen. (LA) (siehe auch: ARD-Morgenmagazin 29.9./ ARD-Deutschlandtrend / infratest-dimap)

Ausgerechnet die Haltung der Vertreter/innen der AfD bleiben bei dieser Aufzählung aber unerwähnt. Denn auch die 57% AfD-Anhänger/innen in dieser Umfrage, welche die Aufnahme von russischen Kriegsdienstverweigerern ablehnen, taugen wohl nicht als unterstützendes Element bei der lettischen Argumentation der "Latvijas Avize" - so setzt sich die AfD doch sogar für die Wiederaufnahme russischer Gaslieferungen und bedingungslose Zusammenarbeit auch mit dem aggressiv kriegführenden Russland ein. 

Zeitverzug

Auffällig weiterhin: dieser lettische Zeitungsbericht stammt vom 4. November - die zitierten Umfragen und Äusserungen aber bereits von Ende September. Lesen wir zum Beispiel einen Bericht zum selben Thema beim "Redaktionsnetzwerk Deutschland" vom 28.10. nach, dann lassen sich dort wesentlich differenzierte Äusserungen entdecken: jeder Antrag auf Asyl müsse im Einzelfall sorgfältig geprüft werden, Putin sei zuzutrauen Menschen einzuschleusen (Jürgen Hardt / CDU). Oder: "wir dürfen bei aller Hilfsbereitschaft nicht naiv sein" (Strack-Zimmermann / FDP). Oder auch: Deserteure sollten nicht wie Heilige behandelt werden (Wagener / Grüne). Dagegen meint Rüdiger Lucassen für die AfD: ein deutscher Aufruf zur Aufnahme von Deserteuren könne als "Angriff auf das russische Wehrsystem gewertet werden" - das sei eine unnötige Provokation Russlands. (siehe auch: "Das Parlament")

BAMF-Auskunft für russische Staatsbürger/innen in Deutschland

Zahlen

Gemäß dem Bericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zum ersten Halbjahr 2022 waren Menschen aus Syrien mit 11.500 die größte Gruppe, gefolgt von Afghanistan (8.000) und Türkei (5.000). In dieser Statistik sind allerdings weder Ukrainer noch Russen vertreten. Menschen aus der Ukraine müssen gar keinen Asylantrag stellen, und die Mobilmachung in Russland begann erst am 21. September. (BAMF-Bericht zur Lage russischer Kriegsdienstverweiger)

In Russland öffentlich gegen den Krieg demonstrieren - das ist offenbar auch ein sicherer Weg zur Zwangseinberufung (siehe BAMF-Bericht). Aber was bringen lettische Berichte nach dem Muster "Vācieši kā allaž pretimnākoši" (Deutsche wie immer gastfreundlich)? Es ist, wie so oft, offenbar auch ein Stück lettische Innenpolitik. Denn am Schluss des erwähnten Berichts werden dann noch Äußerungen von "Pro Asyl" erwähnt mit der Aussage, kaum ein russischer Deserteur könne ja zur Beantragung von Asyl nach Europa gelangen - dank komplett geschlossener Grenzen in Finnland, den baltischen Staaten und in Polen. Dies bedeutet nämlich in der Praxis nicht nur die Verweigerung von Touristenvisa, sondern auch die Zurückweisung auch von Personen die versuchen Asylanträge zu stellen. So habe Lettland im Jahr 2022 (bis 31.8.) nur insgesamt 123 Personen einen Flüchtlingsstatus zuerkannt - im Gegensatz zu 115.402 Personen in Deutschland (was mit den aktuellen Zahlen des BAMF einigermaßen übereinstimmt). 

Russische Anträge: eher selten

Interessant bei den aktuellen Zahlen: hier sind sogar Anträge von Menschen aus Russland gesondert aufgewiesen. Im Oktober waren es in Deutschland ganze 313 Anträge. Vielleicht war der panikartige Bericht also nur ein einzelner lettischer Zeitungsbeitrag einer unerfahrenen Journalistin? Von Laine Aizupe sind allerdings immerhin noch vier weitere Beiträge über deutsche Themen zu finden: über Lehrermangel, das 9-Euro-Ticket und über Preissteigerungen und den zurückgehenden Verbrauch an Milch in Deutschland. Während aber Aizupe also noch Anfang November von "allzu gastfreundlichen Deutschen" schrieb, behandeln andere lettische Blätter das Thema offenbar tatsächlich anders. "Das deutsche Parlament lehnt Asyl für russische Deserteure ab", schrieb die "Neatkarīga" am 30. September (und meint damit die Ablehnung eines entsprechenden Antrags der "Linken"). Ganz ähnlich berichtete auch "TVNet". Und die "Diena" fand erwähnenswert, dass auch die USA und Irland russischen Deserteuren die Möglichkeit des Asyls angeboten habe.

Also: warten wir doch erst einmal ab, wohin der gegenseitige Lernprozess die lettischen und deutschen Pressevertreter/innen nach tragen möge. Wer gute Gründe hat in fremden Ländern Asyl beantragen zu müssen, der möge es auch bekommen. Wer die Ukraine unterstützen möchte, sollte wohl besser das ganze Potential an Unterstützerinnen und Unterstützern ausschöpfen. Und falls nun wieder Fragen kommen, möglicherweise von Lettinnen und Letten: Wie siehts bei Dir aus? Sind schon viele Russen angekommen? - Dies war der Versuch einer Antwort.

28. Oktober 2022

Selbstfindung, bewaffnet

Ex-Aussenminister Artis Pabriks hatte es wohl als Wahlkampfhilfe gedacht: in Zeiten der militärischen Bedrohung durch den großen Nachbarn im Osten schien die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Lettland eine Maßnahme nachgewiesenen Verantwortungsgefühls. Doch es kam, wie schon vorauszusehen war, anders: wer konnte schon wissen, wer nach den Parlamentswahlen Verteidigungsminster sein würde? Ex/Minister Pabriks baute ganz auf seinen Wahlslogan "Drošība sākas ar premjeru" (Sicherheit beginnt beim Regierungschef) - aber seine Partei "Attīstībai par" scheiterte knapp an der 5%-Hürde - und nun beginnt die Diskussion von neuem. 

Wenn es um den "Staatsverteidigungsdienst" geht (lettisch "Valsts aizsardzības dienests" - VAD), so sind in den verschiedenen Parteien - besonders diejenigen, die jetzt die neue Regierung zu bilden bereit sind - die Details offenbar noch nicht ausdiskutiert. Dem bisherigen Gesetzentwurf zufolge sollten für alle jungen Männer im Alter zwischen 18 und 27 Jahren drei verschiedenen Dienste geschaffen werden: den Militärdienst, einen Dienst bei den lettischen "Zemessardzes" (bisher ein Freiwilligenkontingent, auch "Nationalgarde" genannt), und eine spezielle militärische Ausbildung für Studierende an Hochschulen (inklusive der Möglichkeit zur Offizierslaufbahn). Dazu ist auch noch ein "Alternativdienst" vorgesehen, der bei Institutionen der Ministerien für Inneres, Gesundheit oder Soziales abgeleistet werden kann. Frauen soll dasselbe auf freiwilliger Basis angeboten werden. Der reguläre Dienst soll ein Jahr dauern, einschließlich einen Monat Urlaub. Dies alles sollte, nach Plänen von Ex-Minister Pabriks, bis 2027 stufenweise eingeführt werden, um dann, beginnend mit dem Jahr 2028, jedes Jahr 7500 junge Menschen einberufen zu können. 

Inzwischen gibt es die ersten Protestdemonstrationen gegen die Wiedereinführung der Militärdienstpflicht. Zwar ist die Anzahl der dort Teilnehmenden eher überschaubar, aber einige der geplanten neuen Bestimmungen klingen schon recht drastisch: offenbar sind für diejenigen, die sich zukünftig dem Militärsdienst - also auch dem Alternativdienst - ganz entziehen wollen, Gefängnisstrafen von bis zu drei Jahren vorgesehen. (Tvnet / bnn-news)

Die Slogans der Protestierenden hatten dabei nur teilweise antimilitaristischen Charakter - einige argumentieren, der Krieg in der Ukraine habe gezeigt, dass eine professionelle Armee solche Situationen besser bewältigen könne. Eine Mobilisierung verbessere aber nicht die Wirtschaft, und menschliche Arbeitskraft werde auch anderswo dringend gebraucht. Der Zuspruch von Neuverpflichteten bei der bisherigen lettischen Berufsarmee war in den vergangenen Jahren allerdings nicht so stark gestiegen wie erhofft (NRA).

Zu den Protestierenden gesellt hat sich auch Sergejs Pogorelovs, ein Parteifreund von Ex-Minister Pabriks, der sogar auf dem Portal "Manabalss" Unterschriften gegen die Dienstpflicht sammelt; bisher haben den Aufruf 12.000 Menschen unterzeichnet. Dort wird unter anderem so argumentiert, dass ein "Zwangsdienst" die Freiheit junger Menschen unverhältnismäßig einschränke. 

"Wenn ihr Zeit für die Selbstfindung braucht, geht in die Armee!" so wird Ainars Latkovskis zitiert, ein Parteifreund von Regierungschef Kariņš, Fraktionschef der "Jauna Vienotība" (lsm). Dennoch wurde die notwendige Beschlussfassung im Parlament (Saeima) jetzt überraschend um ein halbes Jahr verschoben - das müsse jetzt die neue Regierung und das neu gewählte Parlament ausarbeiten, heißt es. Der entsprechende Punkt wurde von der Tagesordnung der letzten Kabinettsitzung der alten Legislaturperiode getrichen (delfi). Allein 102 Verbesserungsvorschläge seien bei der zuständigen Parlamentskommission eingegangen.

Zwar betonen die drei Parteien, die gegenwärtig über die Regierungsbildung verhandeln, das Thema stehe ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Aber zumindest das Jahr 2023 könnte bis zu einer endgültigen Beschlussfassung noch vergehen (lsm), schätzen einige. Es seien noch einige Unklarheiten zu beseitigen, erläuterte Ineta Piļāne, Stellvertreterin des "Ombusmannes" (Tiesībsargs) des lettischen Parlaments für juristische Fragen. Es sei zum Beispiel noch völlig unklar, wie der "Alternativdienst" (Zivildienst) ausgestaltet und wie er organisiert werden soll. Ausserdem sei auch die Frage noch einmal genauer zu betrachten, warum der verpflichtende Wehrdienst nur für Männer gelten solle. (baltics.news / lsm)

Noch ist über die Postenverteilung in der neuen Regierung nicht entschieden. Als eine der möglichen Varianten wird die Rückkehr von Ex-Verteidigungsminister Raimonds Bergmanis auf diesen Posten genannt. Bergmanis, bisher Mitglied bei der Lettischen Grünen Partei, hat sich inzwischen (ebenso wie die Grüne Partei) der "Vereinigten Liste" (Apvienotais saraksts) angeschlossen, die Teil der neuen Regierungskoalition sein wird. Dort ist folgender Satz im Parteiprogramm zu finden: "Es ist Zeit für die allgemeine Mobilisierung". 

An anderer Stelle ist derweil nachzulesen, wie ein Fitnesstest für Jugendliche aussehen könnte, der einer Einberufung vorgeschaltet sein könnte: Minimum 33 Liegestütze, 43 "Sit-ups", und ein 3000-m-Lauf unter 14,29 Minuten. (jauns)

2. Oktober 2022

Geschüttelt, nicht gerührt

Wieder einmal hat eine Wahl die Hierarchie der lettischen Parteienlandschaft kräftig durcheinandergeschüttelt. Noch ist unklar, mit wem der Wahlsieger und amtierende Ministerpräsident Krišjānis Kariņš die nächste Regierung bilden kann - die Analysen versuchen das "Schüttelresultat" zu sortieren. Aussenminister Rinkēvičš gab den Beschluss des Parteivorstands der "Jauna Vienotība" bekannt, niemanden für ein Ministeramt zu nominieren, der oder die nicht auch erfolgreich ins Parlament gewählt worden sei (jauns.lv)

Die nach Prozentzahlen zweitstärkste Liste der "Bauern und Grünen" ist also nunmehr eine Liste nur noch von "Bauern, die sich grün nennen, und unterstützt von traditionell eingestellten Sozialdemokraten" - ein Stück echte lettische Farbenlehre. Mit einem Finanzier im Hintergrund, der inzwischen gerichtlich verurteilt ist, und ehemals als einer der "Oligarchen lettischen Formats" galt (Aivars Lembergs). 
Die Partei hält ihm die Treue (oder seinem Geld?), und versucht auch mit der Beibehaltung des Kürzels ZZS Kontinuität anzudeuten. Ihre Hochburgen befinden sich vor allem in Landgemeinden, die eher in Lettlands Peripherie liegen, und natürlich in Ventspils (die Stadt die Lembergs lange unter Kontrolle hatte). Stärke der Partei ist sicher ein in jahrelanger Arbeit aufgebautes gutes Netzwerk, vor allem außerhalb Rigas. Nach Koalitionsmöglichkeiten mit der ZZS gefragt, antworten viele andere Parteien: "Solange sie an Lembergs festhalten ... nicht." Lembergs selbst meint dazu: "Nur keine Eile! Ich entscheide selbst, wann ich zum politischen Grabhügel gehe." (xtv.lv)

AP-Spitzenkandidat Artis Pabriks, der im Wahlkampf als bisheriger Verteidigungminister vor allem mit dem Versuch der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht auffiel, begründet den Absturz seiner Partei "Attīstībai/Par!" mit den vielen Projekten, an denen man zwar erfolgreich gearbeitet habe, mit denen man in Lettland aber, nach Einschätzung von Pabriks, offenbar zur "Avantgarde" zähle. Konkret führt er den Abschluß der Regionalreform mit häufig völlig neuem Zuschnitt von Gemeinden und Bezirken ebenso an wie ein Gesetzentwurf zur Verbesserung der Lage gleichgeschlechtlicher Paare, die Einführung eines Flaschenpfands, und auch "Kommunikationsfehler" bei der Bewältigung der Covid-19-Krise (seine Partei stellte auch den Gesundheitsminister). Als am Schluß der Stimmauszählung das Ergebnis der AP sogar unter 5% sinkt, verkündet Pabriks: "Meine Zeit in führenden Positionen der Politik ist vorbei." (LA)

"Saskaņa" (deutsch meist als "Harmonie" übersetzt) hat selbst in bisherigen Hochburgen wie Daugavpils, wo sie mit Andrejs Elksniņš den Bürgermeister stellen, einen Absturz von bisher 35,73% auf 16,89% der Stimmen erlebt. Elksniņš war zuletzt dadurch in die Schlagzeilen gekommen, dass er sowohl beim Hissen einer Ukraine-Flagge am Rathaus sehr zögerlich war, wie auch beim Benennen von Sowjetdenkmälern in seiner Stadt, die für einen Abriss vorgesehen wären. Außerdem hatte sich "Saskaņa" gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht ausgesprochen und den Bau eines LNG-Terminals in Skulte in Frage gestellt.

Den Platz der "Saskaņa" übernimmt nun teilweise die Partei "für Stabilität" ("Stabilitātei"), die zum Beispiel in Daugavpils 26,01% der Stimmen erreichte. (apollo.lv) Parteichef Aleksejs Rosļikovs wird von manchen als Vertreter einer neuen Generation eingeschätzt, die nun die Interessen der Russischsprachigen in Lettland versucht anders zu definieren. "Stabilität" heißt für diese Partei, Lettlands Mitgliedschaft in der EU auf den Prüfstand zu stellen, evtl. sogar Staatsschulden nicht zurückzahlen zu wollen, das Wahlrecht auch für Menschen ohne lettische Staatsbürgerschaft einzuführen, und gleichzeitig auch diejenigen strafrechtlich zu belangen, die "durch Covid-Maßnahmen Menschen ausgrenzen, ihnen Einkommen entziehen und Impfungen erzwingen". "Stabilitāte" bezeichnet außerdem die möglichen Konkurrenten der "Saskana" und "Latvijas Krievu savienība" als "fiktive Opposition" - und traf damit offenbar den Nerv der potentiellen Wählerschaft, denn beide Konkurrenten sind nun außen vor. "Die Wahlresultate zeugen von einer gewissen Desorientierung unter der russischsprachigen Wählerschaft in Lettland", meint der Politologe Juris Rozenvalds (LA)

Ein ganz besonderer Fall ist noch Mairis Briedis. Der Profiboxer und ehemalige Weltmeister, noch im Juli 2022 im Boxring aktiv (Boxen1), kandidierte überraschend für "Saskaņa" - die nun krachend durchfiel. Briedis neueste Aussage, vielleicht geübt darin wie man Schlagzeilen macht, klingt nun so: "Je nachdem wie die Wahlergebnisse ausfallen werden ich sehen, ob ich in Lettland bleibe. Ich bin kein Masochist". (Latvijas Avize)

Dann gibts noch zwei Neue im Parlament. Zum einen sind das die "Progressiven", bereits die dritte Partei in Lettland, die mit dem Etikett "sozialdemokratisch" in Verbindung gebracht wird - diesmal aber weder als Rainis-Nachfolger noch Moskau-freundlich. Gelegentlich werden sie auch die "wahren Grünen Lettlands" genannt, weil ihr Wahlprogramm demjenigen von Grünen Parteien in Westeuropa sehr viel mehr ähnelt als das bei den lettischen "Grünen" der Fall ist. Sie selbst zitieren häufig Beispiele aus Schweden oder Dänemark, orientieren sich also am "skandinavischen Modell". Immerhin haben sie es schon im Stadtrat von Riga zum Mitregieren geschafft, nun folgt der Einzug ins lettische Parlament. Spitzenkandidat Kaspars Briškens betont außerdem die Finanzierung der Partei aus eigenen Mitteln - man sei nicht abhängig von irgendwelchen fragwürdigen Geldgebern (IR). 

Wirklich "neu" ist Ainārs Šlesers nicht. 2010 veranlasste der damalige Präsident Valdis Zatlers ein Referendum zur Entlassung des Parlaments, weil dieses sich weigerte die Immunität eines Abgeordneten aufzuheben, welcher der Korruption angeklagt war. Dieser Abgeordnete war Ainārs Šlesers. Noch heute gilt er als "Oligarch", ist allerdings im Gegensatz zu Lembergs noch von keinem Gericht verurteilt worden. Wie groß das heutige Privatvermögen des durch lettisch-norwegische Geschäftsverbindungen reich gewordene Šlesers ist, gilt als schwer abschätzbar. Seit 2010 war der auch mal als "Bulldozer" bezeichnete Geschäftsmann an verschiedenen anderen Parteien beteiligt, immer als "Führungsfigur" ("Šlesera Reformu partija", "Vienoti Latvijai", u.a.). Nun also "Lettland zuerst" - ("Latvija pirmajā vietā" - wörtlich übersetzt: "Lettland an erster Stelle"), mit deutlichen Bezug auf den Ex-US-Präsidenten und ganz ähnlicher Strategie, sich in der virtuellen Welt des Internet eine eigene Realität zu schaffen (Wahlinfos finden sich fast ausschließlich nur auf Facebook, Instagram und Tiktok). Noch dazu steht Šlesers religiösen Vereinigungen nahe, die in Deutschland wahrscheinlich als "Sekten" bezeichnet würden; immer mit deutlichem Bezug auf Werte einer "traditionellen Familie" (Šlesers hat fünf Kinder, auch sein Sohn Ričards ist inzwischen Parteiaktivist und Kandidat).

Journalisten des "Baltijas pētnieciskās žurnālistikas centrs" (Zentrum für investigativen Journalismus "Re:baltica") bezeichneten die von Šlesers vertretenen Gruppierungen als "Quelle der Desinformation in Lettland". Impfgegner und Verschwörungstheoretiker finden hier also leicht Gleichgesinnte. Wer auch immer als Vertreter dieser Partei in der Berichterstattung der Wahlnacht vor ein Mikrofon kam, wurde nicht müde sich laut über die allgemeine Benachteiligng durch die "Herrschaftsmedien" zu beklagen - schließlich will man "das Volk vor dem Bankrott und dem Kariņš-Levits-Regime" retten, so der Wahlslogan. 

Da kann man nur sagen: viel Spaß all denen, die sich in Koaltionsverhandlungen einigen müssen. Und: kein Spaß für deutschsprachige Journalisten. "Von den Parteien, die die russischstämmige Minderheit im Land vertreten, konnte keine einen Sitz im neuen Parlament erringen" (20Uhr-Tagesschau der ARD am 2.10. - da wird "Stabilitāte" aber sicher protestieren!). Aus ähnlichem Grund krass daneben liegt auch die "Welt" mit einer Schlagzeile wie dieser: "Kremlfreundliche Partei verpasst Einzug in lettisches Parlament". Andere deutsche Journalisten sprechen / schreiben nach wie vor von einer "Liste der Grünen und Bauern" - was ja nun auch nicht mehr so ganz stimmt.

Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 60% und war damit so hoch wie seit Jahren nicht mehr (2010 waren es 63,12%). Als besondere Vorkommnisse werden noch gemeldet, dass außer einem lettischen Pass und zwei ID-Karten, die in Wahlurnen aufgefunden wurden, sich zwischen den Wahlzetteln auch ein Brief an die Leiterin des lettischen Wahlamts Kristīne Bērziņa befunden habe; dieser wurde ihr auch übergeben, heißt es. 

Mehr Details zu den Wahlergebnissen siehe Lettisches Wahlamt


29. September 2022

Präsidiale Ratschläge

Am 1. Oktober 2022 stehen Parlamentswahlen in Lettland an - und es ist gar nicht so einfach, bei den 19 verschiedenen Listen den Überblick zu behalten. Die Zeitschrift "IR" hielt wohl die ehemaligen lettischen Präsidentinnen und Präsidenten für kompetent genug um hier Ratschläge zu geben. Guntis Ulmanis war gesundheitlich etwas angeschlagen, die übrigen zögerten nicht ihre eigenen Prioritäten zu offenbaren. Das Ergebnis hier kurz zusammengefasst.

Vaira Vīķe-Freiberga, zwischen 1999 und 2007 im Amt und inzwischen fast 85 Jahre alt, hat recht radikale Tipps auf Lager. Sie meint, sie würde gleich alle Kandidaten oder Kandidatinnen auf dem Wahlzettel durchstreichen, die keine höhere Ausbildung vorweisen können. Außerdem sollten Lettinnen und Letten, bei allen Mängeln des politischen Systems in Lettland, doch bitte mal nach Belarus schauen und sich fragen, ob sie lieber dort leben möchten. 

Nachfolger Valdis Zatlers wurde, abgesehen von Gerüchten warum er ins Amt gewählt worden sein könnte, dadurch bekannt, dass er 2011 gleich das ganze Parlament auflöste - weil er an konsequenter Bekämpfung von Korruption zweifelte. Er würde niemanden wählen, sagt er heute, der nur zur Selbstbestätigung in die Politik gegangen ist. Ebenso käme niemand in Frage, der die gegenwärtige Politik Russlands befürworte. Die meiste Macht läge gegenwärtig bei den Juristen der lettischen Beamtenschaft, meint Zatlers - unter Politikern könne man sich ja durchaus innerhalb einer halben Stunde einigen, aber bevor das auch mit den Juristen so weit sei, vergehe schnell ein halbes Jahr. Dem entsprechend stellt Zatlers für Lettland sogar schon eine Tendenz der "Überregulierung" fest - ob wir ihn zur Fortbildung mal nach Deutschland schicken sollen? 

Andris Bērziņš, der Mann mit dem Namen den noch 100 andere Letten haben könnten, war 2011 bis 2015 Präsident Lettlands. Er sieht die aktuellen lettischen Wahlen nur als Vorstufe zu den Europawahlen 2024 - denn wichtige Fragen wie Energieversorgung und Sicherheit könnten nur auf europäischer Ebene gelöst werden. Für Lettland seien da aber noch die richtigen Leute zu finden, die diesen Zusammenhang auch verstehen. Und es brauche auch engere Zusammenarbeit mit den baltischen Nachbarn, mit Polen und mit Finnland. 

Raimonds Vejonis, im Oblast Pskow in Russland geboren, war mehrfacher Minister in verschiedenen Regierungen, bevor er 2015 bis 2019 ins Präsidentenamt gehoben wurde. Sein Blick auf die wichtigen Fragen des Wahlvorgangs erscheint typisch lettisch: schauen wir uns doch den Mensch mal an, der da gewählt werden will. Hat er Schulden, welchen Beruf übt er aus? Abgeordnete sollten gut ausgebildet sein, dazu ein breites Spektrum guter menschlicher Eigenschaften, meint Vejonis. Dazu stellt er alles unter das Rahmenthema Sicherheit: gesicherte ökonomische Entwicklung, Energie- und Gesundheitsversorgung. Und ob die bisherigen Abgeordneten genug dafür getan hätten werde sich vor allem daran zeigen, ob auch junge Erstwähler/innen Motivation finden sich jetzt zu beteiligen. 

Der gegenwärtige präsidiale Amtsinhaber Egils Levits stellt eine euro-atlantische Orientierung allem voran. Aber auch die Stärkung der lettischen Identität sei wichtig, meint der gelernte Jurist und Ex-Richter. Was die Verwaltungsstrukturen angeht, meint Levits, habe Lettland "vertikale Strukturen des 19. Jahrhunderts" aufzuweisen - in der modernen Welt jedoch gäbe es viele interdisziplinäre Aufgabenstellungen. Um wert zu sein gewählt zu werden müssten sich die Parteien auch für die Landesverteiding einsetzen - zudem sei dieser Dienst auch eine prima "Bürgerschule". Bei der anstehenden Wahl stehe die Entscheidung an zwischen Vernunft oder Populismus, meint Levits. Aber auch hier färbt die kriegerische Gesamtsituation durch. (IR)

26. September 2022

Weniger 1520, mehr 1435

Es klingt nicht ungewöhnlich, wenn in den baltischen Staaten ein Projekt "Bernstein-Projekt" genannt wird. Es besteht eher Verwechslungsgefahr: seit kurzem aber basteln die drei baltischen Staaten unter dem Slogan "Amber Train" an einer besseren Eisenbahnverbindung. 

Aber Moment mal: läuft das nicht schon mit dem Projekt "Rail Baltica"? -
"Schon bald kann man abends in Berlin in den Zug steigen und morgens in einem der vielen Jugendstil-Cafés in Riga seinen Kaffee genießen,“ sagte Botschafterin Alda Vanaga beim "Mobility Talk" auf der internationalen Transportmesse InnoTrans. Lettland hofft also schon, die Berlinerinnen und Berliner würden vor allem in Riga einen Aufenthalt einlegen. "Rail Baltica" soll den Personenverkehr verbessern - der "Amber Train" wird sich um den Gütertransport kümmern (wo das Personal der Güterloks ihren Kaffee trinken wird, ist bisher nicht überliefert).

Personenzüge auf der Rail-Baltica-Strecke sollen eine Reisegeschwindigkeit von maximal 250 km/h erreichen können - bei Güterzügen sollen es 120 km/h sein. Die Route wird vom litauischen Grenzbahnhof Šeštokai aus über Kaunas, Riga nach Tallinn führen. Drei große multimodale Terminals sollen entwickelt werden: in Muuga (Estland), Salaspils (Lettland) und Palemonas (Litauen) (Lok-Report). Und während vor einigen Jahren sich die Diskussionen immer darum drehten, ob nicht das estnische Tartu oder die litauische Hauptstadt Vilnius einbezogen werden müssen, zeigt nun die Routenführung klar direkt nach Finnland bzw. nach Polen.

Auch die maximale Länge eines zukünftigen Güterzugs haben die Planer/innen schon ausgerechnet: man rechnet hier in Containern, und meint 43 Stück davon hintereinander reihen zu können (das ergibt etwa einen Kilometer Länge) - vorerst zweimal die Woche, später viermal. Projektpartner sind AB "LTG Cargo" (als Teil der litauischen Eisenbahngesellschaft), "LDZ Loģistika" aus Lettland und "Operail" aus Estland. Schon in den vergangenen Jahren hat sich da eine länderübergreifende Zusammenarbeit entwickelt, wenn zum Beispiel "LTG Cargo" die Überholung von Siemens-Lokomotiven übernahm (Lok-Report) - dem steht allerdings auch die Ankündigung der Entlassung von 2.000 Angestellten gegenüber (Baltic Times). Das Unternehmen musste starke Einnahmekürzungen hinnehmen, nachdem auf Grund von Sanktionen von EU und USA weniger Güter aus Belarus und Russland transportiert werden konnten. Ob nun der "Nord-Süd-Korridor" solche Verlust kompensieren kann? 

Eine erste Testfahrt des "Amber Train" genannten Projekts startete am 13. September vom estnischen Hafen Muuga aus (Baltic Times). In Kaunas wurde die Fracht umgeladen - bzw. neue Güter für den Transport nach Finnland aufgenommen. Gemäß den Angaben der Betreiber verläuft die Bahnstrecke über insgesamt 870 Kilometer: 213 Kilometer auf estnischem Terrain, 265 Kilometer in Lettland und 392 Kilometer in Litauen. 

Momentan wirbt "LDZ Loģistika" immer noch mit den
angeblichen Vorteilen einer Bahnstrecke Richtung Osten

Doch einiges hat sich auch inzwischen in der Planung wieder geändert. Noch 2018 war neben der Verbindung Westeuropas mit Finnland auch die "neue Seidenstraße" nach China im Gespräch (Verkehrsrundschau). Ralf-Charley Schultze, Präsident der UIRR (International Union for Rail-Road Combined Transport), wurde damals noch mit dem Satz zitiert: „Während es in Russland keinerlei Verzögerungen gibt, liegt die Pünktlichkeitsquote in Europa bei nur 60 Prozent.“ Und "LDZ Loģistika", eine der Projektbeteiligten, wirbt auch heute noch (September 2022) mit einer stolzen Übersichtskarte der Gütertransporte von Lettland nach China und durch Russland - noch dazu auch mit einer Route durch Belarus in Richtung Ukraine (genannt "ZUBR"). 

Was also gilt wirklich in der Verkehrspolitik der baltischen Staaten, wenn es um den Gütertransport per Bahn geht? Warten die Unternehmen in Lettland etwa in aller Ruhe ab wie der Streit Litauens mit China ausgeht? (entzündet am Thema Taiwan) Wie es aussieht, hat auch in diesem Bereich der agressive Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine alle vor neue Herausforderungen gestellt - und in der Presse werden zwar inzwischen "schöne Schlagzeilen" einer neuen "Nord-West-Zusammenarbeit" produziert - aber die Realität wird noch ein paar Jahre brauchen, um das wirklich ökonomisch lohnend (und nicht nur als "Show-Projekte") umzusetzen. Sofern alle es auch wirklich ernst meinen. 

Seit 2018, dem Start des "Amber-Train"-Projekts, habe sich allerdings einiges verändert, erläutert der Lette Rinalds Pļavnieks bei einem Treffen der Projektbeteiligten: es brauche eine stärkere Orientierung an der tatsächlichen Nachfrage des Marktes. Da fragen wir uns doch: wird die Verbindung gar nicht nachgefragt? Diesen Verdacht scheint der litauische Kollege Mindaugas Skunčikas noch zu bestätigen, indem er die Linie Kaunas-Duisburg als Beispiel nennt - diese würde schon jetzt staatlich unterstützt. Worauf der Lette Pļavnieks wiederum betont: wichtig sei dass alle drei Staaten das Projekt gleichermaßen unterstützen. Sein estnischer Kollege Marko Paatsi (Operail) dagegen betont den Nutzen von "Amber Rail" auch für Finnland: so könnten Zellstoff und Holzprodukte bis hinunter nach Italien geliefert werden. Der Eindruck ist wohl unvermeidlich: Gütertransport nur von Estland nach Litauen hätte wohl wenig Sinn - die Umsetzung wird vor allem davon abhängen, wie stark die Linie durch weitere Partner über das eine oder andere Ende hinaus nachgefragt werden wird.

10. September 2022

Genug Auswahl ?

Lettland ist ein kreatives Land. Nicht nur deshalb, weil die Kultur offenbar einen so hohen Stellenwert genießt. Geradzu legendär ist auch die Vielfalt an Parteien, die immer wieder auf den Wahlzetteln stehen. Manchmal klingt es so, als wollten die Parteien geradezu zwingend vermeiden, allzu eindeutige Programmatik zu plakatieren. Wer seine Stimme bei der Parlamentswahl am 1. Oktober 2022 abgeben möchte, kann unter 19 ziemlich blumigen Angeboten auswählen: "Für Entwicklung", "für Stabilität", "Gleichklang", "Neue Einigkeit", "Lettland zuerst", "Vereinigte Liste", "Für jeden und jede", "Republika", "Souveräne Macht", "Kraft der Volksmacht", "Volksdiener Lettlands", "Vereinigung für Lettland", "Vereinigt für Lettland" - all das steht zur Wahl. Wow, die Kreativität ist doch erstaunlich! Das lettische Parteiengesetz macht nämlich die Vorgabe: der Name einer neuen Partei darf nicht identisch sein mit dem einer zuvor schon registrierten anderen Partei. Und wer mindestens 200 Gründungsmitglieder findet, kann sich auch an dem Wettbewerb der politischen Allgemeinplätze beteiligen. 

Wer aber meint, die "neuesten" seien auch die "frischesten" und besten, der sollte vielleicht "Apvienība Latvijai" wählen (registriert am 29.4.22), eine Partei, deren Name mit "Verein für Lettland" zugegebenermaßen unzureichend übersetzt wäre. Aber, wie in so vielen Fällen, sind hier dann auch wieder Politiker und Politikerinnen zu finden, die schon in anderen Parteien aktiv waren - vielleicht wäre der Name mit "neuer Aufguss" besser gewählt?

Genaues Hinsehen lohnt: hinter den scheinbaren Allgemeinplätzen können sich auch einfach eine kleine Gruppe radikaler Impfgegner verstecken, Trump-Fans, und sogar Vorbestrafte hindert es offenbar nicht, sogar als Spitzenkandidat ihrer Partei für das Amt eines Regierungschefs zu kandidieren.

Andererseits: wer nach einer, vielleicht aus anderen Ländern Europas gewohnten politischen Farbenlehre sucht, nach dem Prinzip "links ist wo der Daumen rechts ist" (oder umgekehrt), dem fallen vielleicht die "Nationale Vereinigung" (eindeutig national?), "Die Progressiven" (ist "progressiv" gleich "fortschrittlich"?), "Die Konservativen" (eindeutig konservativ?) oder auch die "Christliche progressive Partei".(vielleicht christlich, fortschrittlich, und konservativ gleichzeitig?) ins Auge. 

Es wird nicht einfacher, wenn wir nach "Sozialdemokraten" oder "Grünen" suchen. Die Grünen (Latvijas Zaļā partija) haben sich nach 20 Jahren von der Listenverbindung mit der "Bauernpartei" (Zemnieku savieniba) gelöst. An deren Slogans hatten wir uns fast gewöhnen können: wir sind diejenigen, die zu Hause das kleine Stückchen Land beackern und nicht in der ausländischen Ferne das vermeintliche Glück suchen. Die Grünen hatten sich schon bisher mit (im europäischen Vergleich) sehr konservativen Werten geschmückt (Slogan: "wir sind für die Natur, nicht für die Schwulen"). Jetzt sind sie Teil einer "Vereinigten Liste" zusammen mit der "Liepāja Partei" (Liepājas partija) und dem "Verband der Regionen" (Latvijas Reģionu Apvienība) an. Im gemeinsamen Parteiprogramm, verziert von einer Margerite als blumiges Parteisymbol, wird die Entstehung der Liste als Paradox beschrieben: "unparteiische Fachleute" seien vom Geschäftsmann Uldis Pilēns eingeladen worden, und somit sei sichergestellt, dass es kompetente, energische, professionelle und patriotische Menschen seien. Das funktiniert wohl nur mit lettischer Logik: drei schon lange existierende Parteien (gegründet 1990, 2004 und 2014) schließen sich zusammen, alle Spitzenkandidaten (Frauen sind keine darunter) ziehen schlichte, weiße Hemden an und behaupten, sie seien ab jetzt - unparteiisch. Garantie dafür: das Geld eines Unternehmers (der natürlich selbst dann gern Regierungschef werden will).  

Was wurde also aus der bisherigen Liste der "Grünen und Bauern" (Zaļo un Zemnieku savienība ZZS), wenn dort nun keine Grünen mehr zu finden sind? Statt dessen holten sich die Bauern ausgerechnet die "Sozialdemokratische Arbeiterpartei" (Sociāldemokrātiskā strādnieku partija LSDSP) als Partner ins Boot - in Lettland eine Splitterpartei, die bei den letzten Wahlen nie über 1% der Stimmen holte und deren Wahlerfolge aus der Zeit der Jahrtausendwende stammen. Der Chef der Bauernpartei kommentierte das so: "Wir wissen, dass wir viele grüne Landwirte haben, also werden wir diese Ideen am Laufen halten." (lsm) Die Parteisymbolik bleibt dabei weiterhin die gelb-grün stilisierte Ähre - Rotes bleibt vorerst außen vor, und auch auf der Webseite der LSDSP gibts keine Info über die gemeinsame Liste mit der Bauernpartei. Auch eine Art der Zusammenarbeit.

Gundars Bojārs wiederum, zwischen 2001 und 2005 Bürgermeister von Riga auf dem Ticket eben dieser "Sozialdemokratischen Arbeiterpartei", kandidiert nun in seinem jetzigen Wahlkreis Ādaži für wen? Für die Grüne Partei. Warum? Weil er "immer schon grün gedacht habe", so die eigene Aussage. (delfi.lv) Argumente braucht es wenig, um in Lettland Parteien zu wechseln.

Die andere Partei, welche den Zusatz "sozialdemokratisch" im Namen führt, ist die "Saskaņa" ("Einklang", deutsch meist mit "Harmonie" übersetzt). Deren Image hat ziemlich gelitten, seit in Russland Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. Lange hatte die Partei am Aufbau des eigenen Images gearbeitet, sich selbst als unverzichtbar für eine moderate Zusammenarbeit zwischen lettischer und russischer Volksgruppe darzustellen. 2009 schloss "Saskana" ein Kooperationsabkommen den Putin-Unterstützern von "Einiges Russland" ab, und aus dem Jahr 2017 sind noch Zitate des jetzigen Spitzenkandidaten Ivars Zariņš überliefert, der dieses Abkommen als "zweitwichtigstes nach dem mit der NATO" beurteilte (tvnet). War die Partei bis 2018 immer für mindestens 20% der Stimmen gut, so lassen Umfragen vermuten, dass sie in diesem Jahr eine wesentlich geringeren Einfluss auf mögliche Regierungskoalitionen haben wird.

Und wer sich sonst langweilen sollte bei der Durchsicht der Partei- und Kandidat/innenlisten, kann sich auch weiterhin einen Spaß daraus machen nachzulesen, welche Fahrzeuge zu welcher Person passen - denn das ist oft aus dem vom Wahlamt herausgegebenen Infos herauszulesen. Wer hätte gedacht, dass Ieva Akuratere, einst als Sängerin der Band "Pērkons" eine Frontfigur der "Singenden Revolution", nun BMW 318 fährt? Oder dass Kunstprofessor Aigars Bikše, inzwischen auch politisch aktiv, gleich sechs Autos besitzt (von denen allerdings fünf ein älteres Baujahr aufweisen - ein Oldtimer-Sammler also?)? Oder vielleicht ist Kandidat Arturs Krišjānis Kariņš interessanter, der als Arbeitsplatz "Ministerpräsident Lettlands" angibt, und laut seinen eigenen Angaben außer seinem Toyota Hybrid auch noch ein Boot hat und Moped fährt?

Parteien und Kandidat/innen (lettisches Wahlamt)

Parteien und Kandidaten (Kurzeinschätzungen englisch, lsm)

7. September 2022

Normales Leben?

"Viss normāli !" - die vielleicht am meisten genutzte Antwort von Lettinnen und Letten auf die Frage nach dem eigenen Wohlbefinden. Alles normal? Zumindest der Spruch ist so sehr ins lettische Selbstverständnis übergegangen, dass, wer möchte, sich das zum Motto des eigenen Outfits machen kann. 

Da mag eine einfache Umfrage, so wie sie jetzt in Lettland das Institut SKDS durchführte, als ziemlich profan erscheinen. Es wurde die Frage gestellt: "Wie viel müssten Sie monatlich verdienen, damit Sie (und Ihre Familie) ein normales Leben führen können?" 

Die Antworten, so wie sie auch in der lettischen Presse wiedergegeben werden (lsm), sagen Folgendes aus: die zu "normalem Leben" notwendige Summe beläuft sich demnah auf 1646 Euro und liegt damit 2022 um 177 Euro (oder 12 % ) höher als im Vorjahr. SKDS-Direktor Arnis Kaktiņš.wies bei der Vorstellung der Umfrageergebnisse auf den Unterschied zum Jahr 2000 hin, als sein Institut dieselbe Frage erstmals stellte. Damals waren Lettinnen und Letten, laut Umfrage, noch mit 494 Euro zufrieden (2006 waren es dann 691 Euro, 2012 gaben die Befragten 844 € an, und 2020 waren es 1338 €). Nur in schwierigen Krisenjahren sei diese Angabe gesunken, meint Kaktiņš: 2009 um 14% und 2020.um 9%. 

Und auch noch eine andere Fragevariante gab es bei der SKDS-Umfrage. Wie viel Geld würden Sie benötigen, um "alle Ihre gegenwärtigen Träume zu verwirklichen"? Diese Summe habe bei 3759 Euro gelegen, so die SKDS. Nun könnten wir ja mal nachschlagen, was Lettinnen und Letten TATSÄCHLICH verdienen - und wir haben so etwas wie die statistische Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. 

Das lettische Fernsehen LTV hat mal versucht, Preisvergleiche zu ziehen, und dabei das Angebot einer der großen Supermarktketten in Lettland untersucht. Hier sind einige der Ergebnisse: 

  • die billigste Butter kostete 9,39 € / kg (in Polen hergestellt) - da diese aber ausverkauft war, lag der nächstgünstigere schon bei etwas über 12 € / kg
  • die günstigste Milch (1 Liter, 2% Fettgehalt) lag bei 0,79 Cent, produziert in Lettland
  • die billigsten Eier (Größe M) waren für 14 Cent das Stück im Angebot, produziert außerhalb von Lettland
  • für Hähnchenschinken wurde ein Aktionspreis für 2,65 € / kg ausgemacht
  • der günstigste Zucker kostete 99 Cent / kg

Eine weitere SKDS-Umfrage ergab übrigens, dass Lettinnen und Letten immer weniger Bücher lesen (TVNet / Jauns.lv). Nun, sparen wir uns die ganz kurze Antwort (zu teuer?), schauen wir auf die Details.  59,9% der Befragten gaben an, in den vergangenen sechs Monaten kein einziges Buch gelesen zu haben (im Jahr 2013 waren es noch 47,1%). 38,8% der Befragten gaben diesmal an, mindestens ein Buch gelesen zu haben, 9,7% gaben an zwei Bücher gelesen zu haben, 7.5% sogar drei oder vier. 1,7% fiel es sogar schwer zu sagen, wie viele Bücher sie genau gelesen haben.Erstaunlicherweise erwiesen sich die Befragten im östlichen lettischen Landesteil, in Latgale, als die (statistisch) eifrigsten Leserinnen und Leser. 

Nun ist ja Bücher lesen und Bücher kaufen auch noch ein Unterschied - auf die Frage, ob sie in sechs Monaten mindestens ein Buch gekauft haben, antworteten noch 24,3% mit "Ja". Der Buchkauf wurde dabei häufig in Riga erledigt, so die Umfrage

5. August 2022

Jetzt wird geholzt!

Angesichts der kurzfristigen Notwendigkeit, ganz dem Gas aus Russland zu entsagen, beschloss nun die lettische Regierung den Holzeinschlag in den lettischen Wäldern zu erhöhen. Das lettische Landwirtschaftsministerium arbeitet an Vorschlägen, die von einem Mehreinschlag (des "grünen Goldes") von einer Million Kubikmetern ausgehen - das würde eine Steigerung um gut 10% ausmachen.

Die lettische Forstverwaltung dagegen ("Valsts meža dienesta" VMD) betont immer wieder das Bestreben, die Wälder nachhaltig zu sichern - es entsteht aber die Frage, für wen das gesichert werden soll: für den Erhalt der Natur? Oder nur für die Sicherstelllung der weiteren Nutzung? Im März hatte der Verein der lettischen Waldbesitzer (Latvijas Meža īpašnieku biedrība LMIB) eine Pressemeldung herausgegeben, in der es heißt: "Die Forstwirtschaft kann die vollständige Unabhängigkeit der Wärmeversorgung von russischem Gas sicherstellen!" (derselbe Verband beteiligte sich auch an einer Kampagne für die Nutzung von Atomenergie in Lettland).

Auch die lettischen Staatsforsten (“Latvijas valsts meži” LVM) scheinen schon bei der Auswahl des Vorsitzenden auf Imagegewinn zu setzen: Pēters Putniņš (was übersetzt Peter Vögelchen heißen würde) wurde kürzlich zum Chef der Lettischen Staatsforsten  gewählt. Die LVM bewirtschaftet 1,62 Millionen Hektar Land in der Republik Lettland. Getragen wird die LVM vom lettischen Ministerium für Land- und Forstwirtschaft, von der „Lettischen Industrie- und Handelskammer“, vom Baltisches Institut für Corporate Governance und dem Verband der Waldbesitzer. 

Bisher war die Regel, dass ein Beschluss einen Baum zu fällen dann erfolgen kann, indem der Durchmesser des Stammes in 1,30m Höhe gemessen wird. Bei Espen geschieht das in der Regel nach mindestens 41 Jahren, bei Schwarzerle und Birke nach 71 Jahren, Fichten nach 81 und Kiefern nach 101 Jahren. Die Gesetzesänderung besagt jetzt, dass auch Bäume geschlagen werden können wenn sie das angegebene Alter noch nicht erreicht haben. Jetzt können auch dünnere Bäume gefällt werden: der Durchmesser wird bei Birken auf 25 cm, bei Fichten auf 26 cm und Kiefern auf 30 cm reduziert. Dabei weist das Ministerium darauf hin, dass es diese Bestimmungen zum Durchmesser in Schweden und Finnland gar nicht gäbe, und in Estland sogar noch dünnere Bäume gefällt werden könnten (IR). 

Bei bisherigen Änderungen an diesen Regeln, zuletzt 2019, hatte noch das lettische Umweltministerium Einspruch erhoben - und empfahl eine genaue Kartierung ökologisch wertvoller Lebensräume. Diese Kartierung wurde auch gemacht - aber jetzt bewußt beiseite geschoben, so etwa nach dem Motto: wir haben Krieg, wir brauchen Holz! 

Als Lösung für die gegenwärtigen Auswirkungen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine auf Lettland schlug Landwirtschaftsminister Kaspars Gerhards jetzt die Erhöhung des Holzeinschlags vor (siehe: mk.gov.lv) - ohne Rücksprache mit Naturschutzverbänden. Das Ministerium rechnete vor, aufgrund der Änderungen 20% mehr Holzhackschnitzel zu produzieren und deren Preis zu senken - Umweltschützer aber kritisieren, dass diese ja sowieso meist in den Export nach Skandinavien gehen würden, die lettischen Verbraucher hätten also nichts davon. 

Ein neuer Film der lettischen
ornithologischen Gesellschaft
soll den Wert des Waldes als
Lebensraum verdeutlichen

Steigt also der Grad der Abholzungen lettischer Wälder sogar um bis zu 20%, wie es manche voraussagen?

Viesturs Ķerus erinnert sich in einem Beitrag für die lettische ornithologische Gesellschaft (Latvijas Ornitoloģijas biedrība, deren Vorsitzender er ist) an eine ähnliche Diskussion im Jahr 2009; damals habe Kristaps Klauss, Vertreter der lettischen Holzindustrie (Latvijas Kokrūpniecības federācija) gesagt: "Wir brauchen 11 Millionen Kubikmeter Holz im Jahr". "Dieser Satz ist mir in Erinnerung geblieben," meint Ķerus, "denn er bedeutet ja: wir brauchen, also muss der Wald liefern" (LOB).Sich nicht damit zu befassen, was der Wald liefern kann, sei eines der großen Probleme der lettischen Waldwirtschaft, meint Ķerus, und inzwischen sei der Holzeinschlag nun auch schon auf 13 Mill. m³ gestiegen. Seine Voraussage: wenn die nächste Krise kommt, wird es dem Wald weiter an den Kragen gehen. 

Gleichfalls interessant ist zur der Beurteilung der Situation ein Blick auf die Besitzer großer Waldflächen. Klar ist, dass sehr viele lettische Waldbesitzer weniger als 5 ha ihr Eigentum nennen. Ein Blick auf die 20 größten Unternehmen, die in Lettland Wald bewirtschaften, zeigt aber, dass diese 20 Firmen insgesamt über 300.000 ha verfügen (lursoft-blog). Dominierend dabei sind die Schweden: von den 20 größten gehören 5 zur schwedischen "Södra"-Gruppe (die erst 2018 noch einmal viel Wald aufkaufte), und weitere sechs stützen sich auf Kapitalanteile aus Schweden. Drei weitere große Unternehmen kommen aus den Niederlanden, und je eines aus Dänemark und Luxemburg.

19. Juli 2022

Neuer Trend: Jugendlich-europäisch

Wenn es um Europafragen in Lettland geht, stellt sich eigentlich die "Europäische Bewegung" (Eiropas kustība Latvijā) dafür zur Verfügung. Als Befürworter/innen der Europäischen Idee" lassen sie sich gerne bezeichnen, und sie waren, bald nach ihrer Gründung 1997, sicher eine wichtige Lobbygruppe für den EU-Beitritt Lettlands 2004. 

International ist man vernetzt mit "European Movement", in Deutschland mit der "Europa Union". Letzterer ist wiederum auch ein Jugendverband angeschlossen, die "Jungen Europäischen Föderalisten" (JEF). Im Gegensatz zur "Union of European Federalists" mit Sitz in Brüssel unterhält JEF Deutschland in Lettland eigene Kontakte, Partner ist hier "Klubs Maja" ("Haus"), wo nach eigenen Worten "junge Menschen Veranstaltungen, Seminare, Vorträge, Konferenzen, Camps, Wettbewerbe, thematische Teeabende und andere Veranstaltungen organisieren." 

Etwas kompliziert also, diese europäische Vernetzung. Zumindest aber scheint das Angebot ausreichend, wer sich in Sachen Europa in Lettland engagieren möchte. Warum also gründen lettische Jugendliche noch weitere europäisch orientierte Vereine? 

Ernests Barons zum Beispiel war fünf Jahre alt, als seine Eltern sich entschlossen nach Norwegen zu ziehen. Als sich seine Eltern einige Jahre später entschieden, wieder zurück nach Lettland zu gehen, entschied Ernests sich in Norwegen zu bleiben - zusammen mit seiner Schwester. "Ich hatte schon einmal das Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit verloren, ich wollte das nicht noch mal erleben," erzählt er im Interview mit der Zeitschrift "IR". Aber dennoch pflegte Ernests seine lettischen Wurzeln, sang in Norwegen in einem lettischen Chor, und nahm 2019 im badischen Freiburg an einem Seminar für junge Führungskräfte teil (Jauno līderu skola). Dort trafen sich Lettinnen und Letten aus verschiedenen Ländern Europas; nur drei Monate später gründeten 13 von ihnen in Oslo die "Eiropas Jaunieši (EJ)" (Jugendliche Europas). "Dreizehn von uns waren in Oslo dabei, aber insgesamt haben noch ungefähr 60 Leute die Veranstaltung online verfolgt", erklärt Ernests. 

Ziel des neuen Vereins sei es, Neuankömmlingen aus Lettland bei der Eingewöhnung in ihr neues Land zu helfen. „Wenn jemand nach Norwegen zieht, können wir helfen, angefangen mit Ratschlägen, wo man "Kāruma"-Snacks kaufen kann, bis hin zu Möglichkeiten, eine Wohnung zu finden", meint Ernests. (IR) Wer zwischen 18 und 30 Jahren alt ist, darf Mitglied werden - so legt es die Vereinssatzung fest. Wer allerdings 35 Jahre und älter ist, darf kein Vorstandsamt mehr annehmen. 

Eine der Vereinsaktivitäten gab sich sportlich: es wurde der "Olimpiskais Lāčplēsis" verliehen, 2021 durchgeführt in Norwegen, Dänemark und Deutschland (2022 in Schweden statt Norwegen, 2019 auch Italien). Beworben weitgehend auf Instagram und Facebook und mit Hilfe des lettischsprachigen Portals "Latviesi.com", finanziell unterstützt vom lettischen Kulturministerium und anderen lettischen Fördergeldern. So eine Art "Spiel ohne Grenzen" (wer erinnert sich noch?) auf lettisch. Lieder singen am Lagerfeuer ist natürlich ebenfalls unverzichtbar. Eine andere Wiederentdeckung: es wird "tautasbumba" gespielt ("Völkerball"), ein Spiel das in Deutschland eher in der Kritik steht (Deutschlandfunk).

Längst hat auch das lettische Aussenministerium mit Elita Gavele eine "Beauftragte für Diasporafragen" ernannt, die gerne den Gedankenaustausch mit den EJ-Jugendlichen aufnimmt (lvportals). Gavele zeigte sich erfreut, dass die Jugendlichen ihre Veranstaltungsteilnehmer/innen auch auf die Möglichkeiten hinweisen an den Parlamentswahlen im Oktober teilzunehmen. Auch die lettische "Stiftung für soziale Integration" (Sabiedrības integrācijas fonds SIF) förderte, neben der "Bärentöterolympiade", inzwischen "Diaspora"-Projekte in 20 verschiedenen Ländern (delfi)