21. November 2018

Vor fünf Jahren ...

konnte in Riga von Glück sagen, wer nicht spät nachmittags noch auf den Gedanken kam, schnell einkaufen gehen zu wollen. Das Dach einer Filiale der Kette "Maxima" im Stadteil Zolitude stürzte komplett ein - mit bösen Folgen.

Hier einige Fakten des genauen Ablaufs, so wie er heute feststeht:
21. November 2013, 8.00 Uhr - Die "Maxima”-Filiale Priedaines ielā 20 öffnet ihre Türen für die Kunden. Auf dem Dach wird an einer Begrünung und einem Spielplatz gearbeitet.
16.15 Uhr - Die Arbeiter verlassen das Dach.
16.20 Uhr - Der Feuermelder des Gebäudes schlägt an. Eine Stimme warnt in drei verschiedenen Sprachen vor einer gefährlichen Situation im Gebäude. Ein Brand wird aber nicht entdeckt.
17.05 Uhr - Die Warnmeldungen werden ausgeschaltet. Ein Teil der Kunden der den Laden verlassen hatte kehrt zurück.
17.44 Uhr - Bei der Überwachungsfirma ertönt ein Alarmsignal: "erweiterte Schäden".
17.22. Uhr 21 Sekunden - Das Dach des Ladens bricht zusammen.
17.46 Uhr - Beim Rettungsdienst geht ein Notruf ein.
18.00 Uhr - 14 Minuten nach dem Alarm erreichen die ersten Retter den Ort des Geschehens.
18.08 Uhr - Die Retter bergen die ersten Verletzten.
18.18 Uhr - Der erste Tote wird gefunden.
19.04 Uhr - auf 900qm Fläche brechen weitere Gebäudeteile ein - ausgerechnet dort, wo auch schon Rettungsmannschaften tätig waren
19.52 Uhr - Die Polizei beginnt ihre Untersuchungen um die Ursachen der Katastrophe zu finden.
21.27 Uhr - Mit Spezialkränen werden Betonteile angehoben, um weiter Überlebende zu bergen.

In den Folgetagen:
Am 22. November wird drei Tage Staatstrauer verkündet.
Auch unter den Rettungsmannschaften gibt es drei Tote und 12 Verletzte.
Bis zum 23.November abends werden 54 Tote geborgen. Nochmals bricht ein weiteres Teil des Gebäudes zusammen, diesmal ohne weitere Verletzte.
Am Nachmittag des 25. November werden die Rettungsarbeiten abgeschlossen, an denen insgesamt 557 Menschen und 25 technische Einheiten beteiligt waren.
(zusammengestellt nach lsm)

Damals trat der lettische Ministerpräsident Dombrovskis - heute Mitglied der EU-Kommission in Brüssel - zurück (siehe Blogbeitrag).

Bis heute ist vor Gericht in dieser Sache noch kein Urteil gesprochen worden. Es wurden viele Zeugen gehört und Angeklagte befragt. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift noch geändert, Details sind bisher nicht öffentlich. Einen Urteilsspruch wird es zumindest 2018 nicht mehr geben. Der Beginn des Verfahrens wurde in das Konferenzzentrum Ķīpsala verlegt, dort waren alle 460 Zuschauerplätze besetzt.
Auf der Anklagebank sitzen bisher neun Menschen; fünf sind wegen Nichtbeachtung von Bauvorschriften angeklagt, drei wegen Verletzung ihrer Amtspflichten und einer wegen Verstosses gegen Bestimmungen der Arbeitssicherheit.

Im Laufe von drei Jahren gab es bereits 150 Gerichtstermine in dieser Sache. Richter Erlens Ernstsons ist zuversichtlich den Prozeß auch abschließen zu können (lsm). 
Befragt wurden bisher mehr als 400 Personen, darunter 12 Experten, auch vom Unglück Betroffene und Überlebende. Die Hinterbliebenen haben sich mit "Maxima Lettland" auf eine Kompensation von je 100.000 Euro geeinigt.
Heute abend fand vor Ort eine Gedenkfeier an das Geschehen statt.

15. November 2018

Kirsons gibt den Löffel ab - aber nur in Berlin

missverstandene Kirsons-Werbung?

Schnelllebige Schnellrestaurants

Es war vielleicht eine Überraschung für Berlin, als im Mai 2016 (Blogbeitrag) gleich zwei Restaurants der aus Lettland bekannten Kette "Lido" (in Berlin = "Kirsons") eröffnet wurden. Und als Ende 2016 klar wurde, beide Restaurants machen auch in der Wintersaison weiter ("Kirsons überwintert"), galt es als positives Zeichen - und noch im Frühsommer diesen Jahres wurde "2 Jahre Kirsons in Berlin" gefeiert. Nun ist plötzlich Schluß im "Kirsons Charlotte". "Aus technischen Gründen" - diese vorläufig klingende Begründung ziert die Eingangstür allerdings bereits seit mehreren Wochen.

Was tun, wenn man hungrig auf lettische Speisekarte ist? Rüber zum "Alexa", der zweiten "Kirsons"-Filiale in Berlin. Dort tummelt sich überraschend viel Personal mit überraschend offener Auskunft: Nein, das "Charlotte" wird nicht wiedereröffnen. Ob denn die eigene Filiale im "Alexa" erhalten bleibe? Das wird zwar positiv beantwortet, aber der zugehörige Gesichtsausdruck sieht alles andere als zuversichtlich aus. Ebenfalls bedenklich stimmt, dass die "Weihnachtsdekoration" des Ladens noch aus dem Vorjahr zu stammen scheint. Ungern erinnert man sich in Lettland an die Krisenzeiten, als auch Ķirsons seinen Angestellten den Lohn schuldig blieb (bnn-news).

Aus für "Charlotte", Schrumpfung bei "Alexa"?

Auch die Auswahl an Speisen im "Alexa" scheint ausgedünnt: auf lettische Art geräuchertes Hühnchen? Schon lange nicht mehr ("das war eine Sonderlieferung"). Lettisches Sauerkraut? Heute nicht. Maizes supa? Vielleicht morgen. Einzig das "Užavas"-Bier (+ Piebalgas in Flaschen), und die lettischen Backkartoffeln scheinen noch vertraut von der lettischen Speisekarte. Im Angebot: ein "Business-Lunch" (Hühnchenbrust süß-sauer, mit Reis und Gemüse), der ähnlich auch in einem billigen Asia-Imbiss zu haben wäre.

Zwei Jahre zuvor tönte der Firmenchef noch davon, insgesamt 15 Restaurants allein in Berlin eröffnen zu wollen (lsm). Berliner, die im "Charlotte" öfter zu Gast waren berichten von einem scheinbar stets gut besuchtem Lokal. Hat hier also der lettische Unternehmer einfach das gemacht, was ja europaweit und global offenbar längst üblich ist? Subventionen der EU in Millionenhöhe genutzt, dazu Finanzen der lettischen Investitionsagentur - um dann nach Auslaufen dieser Finanzierungsquelle einfach wieder zu schließen, und das noch unangekündigt durch die Hintertür?
Aus der Werbung der LIDO-Kette: immer stolz auf die Firmengeschichte

In Lettland kassiert, in Deutschland abgeschöpft

Ganz anders dagegen in Lettland: eine aktuelle Übersicht zu den umsatzstärksten Restaurants in Lettland (firmas.lv / Leta) sieht die LIDO-Ketten von Gunārs Ķirsons im Jahr 2017 mit 5,8% Umsatzsteigerung gegenüber dem Vorjahr auf nun 38.584 Millionen Euro klar auf Platz eins. Im Mai war ein Interview mit in der lettischen Presse zu lesen, in dem eine komplette Renovierung des Rigaer "Stammlokals" ("Vērmanītis") für 800.000 Euro angekündigt wird. Gleichzeitig wollte der Unternehmenschef damals die Frage nach eventuellen Schließungen von Filialen nicht beantworten (tvnet).

Dabei ist auch in Riga das Überleben von Restaurants auch für diejenigen nicht selbstverständlich, die bisher bereits als gut eingeführt und bekannt galten. So steht laut einem Pressebericht offenbar das Restaurant "Bergs" in der Passage "Berga bazars", das sich selbst als "Lettlands bestes Boutique-Hotel" anpreist, kurz vor der Schließung (Jauns). Das 2003 eröffnete Fünfsternehotel "Bergs" errang europaweit Anerkennung, als das Restaurant 2010 unter die "50 besten Restaurant Europas" gewählt wurde (BalticTravelnews, Dienas bizness) - allerdings könnten das auch Marketingmaßnahmen der Branche gewesen sein, denn die zu dieser Rangliste gehörende Webseite ist inzwischen komplett wieder aus dem Internet verschwunden. Das Lokal also vielleicht bald ebenso.

Berlin ohne Lettisch - who cares?

Und in Berlin lettisch essen gehen wollen - eine Illusion, die keiner braucht? Auch das Restaurant "Schwalbennest" im Berliner Nikolaiviertel, die "Berliner Zeitung" war bei der Eröffnung noch ganz euphorisch, schloss bereits im September 2016 wieder seine Pforten (nur die Facebookseite existiert noch). Dann investierte Kirsons 3 Millionen in Berlin. Manche fanden ja gleich zu Beginn schon die "Trachtenmädels" und andere Details eher "peinlich" (wetravel24). Wer anonymen Bewertungen traut, schaut bei "Kununu" nach - dort haben drei angeblich bei "Kirsons" Angestellte ihre Bewertungen hinterlassen: "Für Gäste toll, für Mitarbeiter nicht zu empfehlen" ist da genauso zu lesen wie auch 'Lettische Mitarbeiter/innen mögen keine deutschen Kolleg/innen". Wo wohl die Wahrheit liegt? Irgendwo "in der Mitte"?

neue Firmenchronik?
Am Fenster der Ex-Filiale in der Charlottenstraße 13 klebt ein Zettel der besagt, dass die Genehmigung auch draußen Tische und Stühle hinstellen zu dürfen, noch bis zum 24.Januar 2019 gültig ist. Auch der "Nach-Hause-Lieferservice" wird online noch eifrig beworben (mit "Kirson Alexa GmbH" als neuer, eigenständiger Firma?). Also, vielleicht gibts bei "Charlotte" demnächst noch eine "Open-Air-Sylvestersause" zum Abschluß? "Viss kārtībā", wie man so auf Lettisch sagt. Zuzutrauen wäre es Kirsons allemal!

4. November 2018

Mein Vater, der Retter

Am 25. Oktober war in Lettland Kinostart für einen neuen Film des Regisseurs Dāvis Sīmanis jr.: "Tēvs nakts" (engl. Titel "The mover") erzählt von Žanis Lipke, der während der Besetzung Lettlands durch die deutschen Nazis etwa 50 Jüdinnen und Juden vor dem sicheren Tod rettete. Es ist der erste Spielfilm der lettischen Kinogeschichte, der das Holocaust-Thema aufnimmt - nach Rodrigo Rikards Dokumentarfilm "Žanis un citi" aus dem Jahr 1999.

Neuer Fokus

"Mit Hilfe des Films wird es hoffentlich möglich Žanis Lipke als Mensch zu zeigen," meint Lolita Tomsone, Direktorin des 2012 auf der Daugava-Halbinsel Ķīpsala eröffneten Lipke-Museums. "Lipke lebte eigentlich ständig auf des Messers Schneide." Žanis Lipke (*1. Februar 1900 in Jelgava; †14. Mai 1987 in Riga), war ein einfacher Hafenarbeiter, der auf der Halbinsel Ķīpsala ein Holzhaus gemietet hatte. Während der Besetzung Lettlands durch die Nazis arbeitete er auch für die deutsche Luftwaffe, und musste verschiedene Transporte organisieren - so bot sich die Gelegenheit, für Juden hier und dort Verstecke vorzubereiten.

"Es ist wichtig, dass wir Letten selbst über den Holocaust reden", meint Regisseur Sīmanis, der zugibt, auch das Urteil von Marģers Vestermanis, Historiker und selbst Holocaust-Überlebender, sei ihm sehr wichtig gewesen. "Den Holocaust hat man in Lettland bisher nur als Thema für Dokumenationen angesehen, nicht für Spielfilme."

Generation der Söhne

Sīmanis, 1980 geboren als Sohn bekannten und vielfach ausgezeichneten Kameramanns Dāvis Sīmanis (1942-2007), kennt sich mit geschichtlichen Ereignissen gut aus; nach Abschluß der Mittelschule studierte er bis 2005 zunächst Geschichte und Philosophie. Mit 17 begann er auch bei "Kaupo Film" zu arbeiten und lernte dort Schnitttechnik und Kameraführung. Er arbeitete dann als Assistent bei verschiedenen Filmen mit, auch zusammen mit seinem Vater.
Spätestens mit "Pelnu sanatorija" (engl. Titel "Exiled"), der 2016 ins Kino kam, mit Ulrich Matthes in der Rolle eines Arztes in einer Psychatrischen Klinik während des 1.Weltkriegs, zählt auch Sīmanis junior zu Lettlands bekannteren Filmemachern. Nun also wieder ein Thema aus der Geschichte Lettlands.

Junge mit Hund

Der Film hat jedoch nicht nur die dokumentarischen Fakten rund um zur Grundlage, sondern ein Buch: Lettlands anerkannte Kinderbuchautorin Ineses Zandere legte ihren Roman “Puika ar suni. Stāsts par nosargātu noslēpumu” ("Der Junge mit Hund - Erzählung über ein beschütztes Geheimnis") 2017 vor. Hauptfigur dieser Geschichte ist der Sohn von Žanis Lipke: Zigfrīds Ojars, genannt "Zigi". Als er 8 Jahre alt ist, beginnt der 2. Weltkrieg. Dem Jungen ist es ein beindruckendes Erlebnis wie trotz der schweren Umstände des Krieges der Vater Menschen rettet, die von den Nazis mit dem Tode bedroht werden. Und es gibt viele Dinge, die Zigi zunächst unverständlich bleiben. Da gibt es viele Geheimnisse, Ängste - aber auch Zigis bester Freund, der Hund "Džeri".

Matīss Kipļuks spielt den Zigi - ausgesucht unter 600 lettischen Achtjährigen. "Wichtig war uns einen Jungen zu finden, der vor der Kamera nicht übertreibt - was ziemlich oft der Fall ist", erklärt Produzent Gints Grūbe (Mistrus media) die Auswahl (LA). Die Hauptrolle, Zigis Vater Žanis, spielt
Schauspieler Artūrs Skrastiņš. Die Figur der Johanna Lipke spielt Ilze Blauberga sehr überzeugend - und bekam dafür bereits eine Nominierung für die beste weibliche Nebenrolle für den lettischen Filmpreis "Lielais Kristaps" (insgesamt ist der Film in 12 Kategorien nominiert). "Aber die übrigen Rollen wollte ich mit Leuten besetzen, die noch nicht vom TV-Bildschirm bekannt sind - dann ist es einfacher deutlich zu machen: diese Menschen sind welche von uns." meint Regiseur Sīmanis (LA). "Wenn diese Menschen überleben, dann überleben wir auch!" so sagte es Johanna Lipke, die selbst Polnisch, Russisch, Deutsch und sogar Jiddisch verstand, Jahre später im Interview mit dem Filmemacher Hercs Franks (delfi)

Familienvater, Mensch

"Über Žanis Lipke könnte man auch ein Fortsetzungsgeschichte drehen," meint Regisseur Sīmanis. "Er hat sich mal mit den Nazis, mal mit den Sowjets angelegt. Unser Film widmet sich aber nur dem einen Moment in seinem Leben, als er sich entschloss einigen Juden das Leben zu retten."
Warum wurde Lipke zum Lebensretter für so viele Juden? Warum setzte er sein eigenes Leben und das Schicksal seiner Familie aufs Spiel? Weder Dāvids Zilbermans, der mehrere Bücher über Lipke, schrieb, noch die überlebenden Juden konnten darauf bisher eine Antwort geben - so versucht es auch der Film nicht. Zu Sowjetzeiten musste sich Lipke mehreren Verhören durch den KGB unterziehen - Kommunist war er nicht, und so unterstellte man ihm, seine Dienste gegen Gold und Brillianten angeboten zu haben.

Lipke als Familienvater. Die Tochter Anna (Aina) musste fliehen, kehrte dann nach Riga zurück, aber ihr leben endete tragisch im Alter von nur 26 Jahren.Der Sohn Alfrēds wird 1943 zum Dienst in der deutschen Armee gezwungen - hätte er sich verweigert oder sich verstecken versucht, wäre es unweigerlich zu größeren Durchsuchungsaktionen bei Lipke gekommen. Nach dem Krieg geht Alfrēds nach Australien - von ihm wird erzählt, er habe sich dort noch immer nicht gern an einem Tisch gesetzt mit Russen oder Deutschen, da er beide für schuld daran hielt, dass er nicht in sein Heimatland zurückkehren konnte. Einzig der jüngeste Sohn Zigi blieb in Riga.

Geschichte im Kino

Gedreht wurde "Tēvs nakts" nicht auf Ķīpsala - denn die dortige Bebauung sieht heute völlig anders aus als zu Kriegszeiten. Art-Direktorin Kristīne Jurjāne fand das geeignete Haus in Kauguri nahe Jūrmala. "Völlig unberührt, mit originalen Fliesen und Fensterläden!" Das Äußere wurde dann nach alten Fotografien gestaltet. Und außer in Riga fanden sich geeignete Locations auch in Tukums, wo die Atmosphäre der früheren östlichen Vorstadt Rigas nachgestellt werden konnte.

Regisseur Dāvis Sīmanis arbeitet derweil bereits am nächsten Projekt: der Verfilmung der abenteuerlichen Geschichte um Pēteris Mālderis ("Peter the Painter") und einer Gruppe lettischer Anarchisten, die 1909 / 10 London unsicher machten. Es wird eine litauisch-tschechisch-lettische Koprodution werden, mit einem tschechischen Schauspieler in der Hauptrolle.