5. Juni 2018

Sigulda will Olympiastadt werden

Es wäre eine sportliche Überraschung: Olympische Spiele in Lettland? Wie kann das gehen? Oder, anders gefragt: ist das sinnvoll? Für die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele 2026 bewerben sich bisher das kanadische Calgary, Cortina d'Ampezzo in Italien, Sapporo in Japan, Graz in Österreich, Sion in der Schweiz, Erzurum in der Türkei und Stockholm in Schweden. Der 31.März 2018 war der Stichtag für interessierte Ausrichter.

Das Lettische Olympische Komitee (LOK) machte sich jetzt für die Idee eines "schwedischen Umwegs" stark: in einem Brief an das lettische Ministerkabinett bat das lettische LOK um Unterstützung für eine Bewerbung Siguldas als Partner für die Bewerbung Stockholms (TvNet / LOK). Ministerpräsident Māris Kučinskis soll sich auch bereits positiv dazu geäussert haben. Die Initatiative dazu kam von schwedischer Seite, und findet inzwischen Unterstützung bei der Stadt Sigulda und den Betreibern der Bob- und Rodelbahn Sigulda. Lettland wurde das Angebot gemacht, die Olympischen Wettbewerbe im Bobfahren, Rodeln und Skeleton 2026 auszutragen. In Schweden gäbe es keine gleichwertigen Anlagen, heißt es. Sigulda liegt immerhin 465 km (Luftlinie) entfernt von Stockholm, der Verkehrsweg über Straße und Fähre ist sogar 570 km lang (via Riga, sonst via Tallinn nochmals 100 km mehr).

Würde Sigulda Olympiastadt, so wäre es wohl mit der
bisherigen romantischen Beschaulichkeit der
Verkehrsmittel - inmitten der Natur - bald vorbei.
Die Strategie, sich mit anderen Ländern für eine Bewerbung zusammenzutun, entspringt der Kritik an unnützen Millionenaufwändungen der Vergangenheit und damit zusammenhängenden nicht nachhaltig genutzten Anlagen. So hatte sich auch Graz in Österreich mit dem deutschen Schladming in Oberbayern zusammengetan, nachdem eine Kandidatur Innsbrucks an einem Bürgervotum gescheitert war. Stockholm erwähnt in den Bewerbungsunterlagen bisher keine lettische Beteiligung - die Presse diskutiert den Vorschlag allerdings bereits seit einigen Monaten (DN / Aftonbladet / SVT). Besonders das Nachhaltigkeitsgebot (langfrististige Nutzung der Sportanlagen) wie auch Kostengründe sprechen aus schwedischer Sicht für eine Teil-Auslagerung nach Lettland. Zunächst war ein Neubau einer Bobbahn vorgesehen gewesen, das hätte (geschätzt) 850 Millionen schwedische Kronen (ca. 82 Mill. Euro) gekostet (siehe auch: Kalkulation Stadt Stockholm).

Aber auch die Bahn in Sigulda muss für solche Ziele verbessert werden, besonders für die Viererbob-Wettbewerbe. Daher wird es auch noch entsprechener Gutachten bedürfen, um den hierfür erforderlichen Kostenrahmen genauer einzuschätzen. Noch sind Umfrageergebnisse wie in Schweden nicht bekannt - 53% der Schwedinnen und Schweden lehnen eine Olympiabewerbung ab (DN 19.2.2018), nur 34% sind uneingeschränkte Befürworter/innen. Unter den Einwohner/innen Stockholms soll es sogar 60% mit ablehnender Haltung geben; einige schwedische Parteien fordern daher eine Volksabstimmung zu diesem Thema.

Lettische Medien weisen auch auf zwei andere große Bauprojekte hin, die bisher ohne Bezug zu möglichen Olympischen Spielen in Planung sind: die Bahnstrecke "Rail Baltica" (rauscht voraussichtlich ohne Halt an Sigulda vorbei !), und eine Verbesserung der Schnellstraßen in Lettlands Norden. Insbesondere für die Umweltverträglichkeit wird es kein Vorteil sein, wenn gerade ein europäisches Schnellbahnnetz eine Olympiastadt um 15 km (ohne Halt) verfehlt.
So wird in Schweden gerodelt:
im Sommer auf Rollen, im Winter
im Ausland
Das lettische LOK dagegen meint offenbar Lettinen und Letten mit "baltischer Konkurrenz" motivieren zu können: "Wenn wir uns erinnern, wie fruchtbar die Ausrichtung der Segelwettwerbe in Tallinn 1980 waren, erinnern wir uns auch wie neidisch Lettinnen und Letten waren, dass dies nicht in Riga oder Jūrmala durchgeführt wurde." (TvNet)

Mit Blick auf Schweden ruft vielleicht Erstaunen hervor, dass ein solches Wintersportland, was Bobfahren und Rodeln angeht, auf im übrigen Europa eher unbekannte Trends zählt. So sind auf der Webseite des schwedischen Bob- und Rodelverbandes Disziplinen wie "Alpinrodeln" oder "Kälke" zu bewundern (Schlittenfahren im Schnee?) - gerodelt wird im Sommer auf Rollen, im Winter im Ausland.

Der 23.Juni 2018 wird übrigens in Schweden als "Olympischer Tag" gefeiert - mit Wettbewerben oder Schnupperkursen. Ob diesmal auch lettische Flaggen dabei zu sehen sein werden? Lettlands diesjähriger "Olympischer Tag" wird am 8.Juni 2018 übrigens ganz dem Tennis gewidmet sein - wohls als Nachklang auf den Ostapenko-Sieg bei den French Open in Paris genau vor einem Jahr.
Eine eigene "Lettland-Olympiade" wird seit 2004 ausgerichtet - die "Sommerversion" bisher zweimal in Ventspils, einmal in Liepāja und einmal in Valmiera, die "Wintervariante" seit 2005 dreimal in Sigulda. Hier können lettische Atlethen auch beim Edelmetall mal richtig "zuschlagen": das Städteranking 2016 gewann Riga mit 66x Gold vor Ventspils mit 35x Gold und Jūrmala mit 19 Goldmedaillien (Diena).

Im Oktober 2018 wird das IOC darüber entscheiden, welche der Bewerberstädte ernsthafte Kandidaten für Olympia 2026  bleiben. Nachdem von vielen anderen Bewerberstädten größere Kontroversen um die Olympiabewerbung bekannt sind - so z.B. auch in Österreich, in der Schweiz steht am 10.Juni eine Volksabstimmung zum Thema bevor - ist es völlig offen, wer dann den Kandidatenstatus aufrecht erhalten wird. Ziemlich unwahrscheinlich ist allerdings, dass Lettland NICHT per Volksentscheid über die Teilnahme abstimmen darf.
Sigulda kramt lieber eifrig andere Heldenstatistiken hervor: zählt man nur die vergangenen drei Winterolympiaden, so ist Sigulda bei den Herkunftsorten der Medaillengewinner auf Platz 1 - gerechnet nach Medaillen pro Einwohner. Demnach liegt Sigulda mit 1867 Einwohner/innen pro Medaille vor anderen Regionen in Norwegen und Finnland. Für Sigulda als Austragungsort der "Lettischen Winterolympiade" warb man mit mittelalterlichen Kampftraditionen mit Feuer und Schwert (siehe Imagefilm).

Zumindest die lettische Sportpresse scheint noch nicht uneingeschränkt olympia-euphorisch gestimmt zu sein: es wird gewarnt, ebenso kostenbewußt zu planen wie die Schweden (Sportacentrs). "Nur ein paar Medaillen mehr wiegen hohe Kosten nicht auf", warnt der Journalist Māris Noviks.
Die Bob- und Rodelbahn in Sigulda wurde, noch zu Sowjetzeiten, 1986 fertiggestellt und ist heute Austragungsort auf Weltcup-Niveau.