4. April 2018

Wo kein Mensch, da kein Buch

Während manche Europa-Optimisten die Situation noch schönreden und meinen, die massenhafte Arbeitsmigration von Lettinnen und Letten in Richtung reicher EU-Länder, und die damit zusammenhängende Landflucht sei ein vorübergehendes Phänomen, sind die Folgen dieser Entwicklung dort zu spüren, wo die wenigsten wirtschaftlichen Interessen dagegen stehen: auf dem Lande. Dort, wo sowieso schon wenig Steueraufkommen die städtischen Dienstleistungen absichern konnte, steht nun alles unter Prüfzwang (auch "Spardiktat" genannt).

In vielen Landgemeinden sind es die Bibliotheken, die als Informations- und Anlaufstelle dienen. Doch als der Stadtrat von Limbaži im Dezember vergangenen Jahres beschloss, die Öffnungszeiten in 8 der insgesamt 14 Landbibliotheken der Gemeinde zu verringern - in dreien davon sogar um die Hälfte - da regte sich bald Widerstand. Schon über die genaue Summe, die durch die Sparvorschläge eingespart werden könnte, herrscht Uneinigkeit: manche beziffern diese Summe auf 8.000 Euro jährlich, andere auf 25.000-30.000 Euro.

Die Bibliotheken in den kleineren Städten und Dörfern in Lettland sind über ihre bildende Funktion hinaus vor allem auch als Informationsstelle: noch vor wenigen Jahren wurden erhebliche Mittel dafür aufgewandt, dass jede kleine Landbibliothek einige Computer zur Verfügung hat, um Interessierten den kostenfreien Zugang zum Internet zu ermöglichen - wer also keine andere private Möglichkeit hat, der hat sie zumindest hier. Auch WLAN - kabelloses Internet - ist eingerichtet worden. Im Bezirk Limbaži arbeiten 15 öffentlich zugängliche Bibliotheken, die insgesamt 99 PCs für den Internetzugang bereitstellen.

Von den Befürwortern der Einsparungen waren vor allem drei Arten von Argumenten zu lesen:
1. Die kleinen Landbibliotheken seien Überbleibsel aus der Sowjetzeit und völlig veraltet.
2. Es wohnen immer weniger Menschen auf dem Lande, daher müsse die Verwaltung Möglichkeiten der Einsparung von Ressourcen nutzen.
3. Teilweise seien die Räume der Bibliotheken schwer zugänglich, zum Beispiel Menschen mit Behinderungen oder im Rollstuhl.

 “In den vergangenen 25 Jahren haben wir schon so viel verloren," wird dagegen der lettische Schriftsteller Aivars Kļavis zitiert, dessen Bücher teilweise historische Themen aus dem Bezirk Limbaži thematisieren. "Nun gibt es wirklich rote Linien, die wir nicht überschreiten dürfen. Bibliothek gehören nicht den Staatsbeamten, sondern den Menschen. Und es sind ja auch die Bücher der lettischen Schriftsteller, die in den Landbibliotheken gesucht und gelesen werden." (LA 4.4.18, siehe auch Twitter).Die Sorge um die Bibliotheken geht auch von der Befürchtung aus, dass eine Einschränkung der Öffnungszeiten auch die schrittweise Schließung bedeuten könnte.

auch bei Google-Maps ist leicht erkennbar:
in Ārciems gibt es eine Bibliothek
Die Bibliothek Limbaži kann auf eine Tradition seit 1886 zurückschauen, als damals der Komponist Kārlis Baumanis, der selbst nahe des damaligen "Lemsal" wohnte, 300 Bücher in lettischer, russischer und deutscher Sprache aus seiner privaten Beständen spendete, um die Bücher allgemein zugänglich zu machen.

Gegenwärtig hat der Bezirk Limbaži, 87km entfernt nördlich von Riga gelegen, noch 17.500 Einwohner aufzuweisen; 7200 davon entfallen auf den Hauptort Limbaži - im Jahr 2000 waren es noch 9.200. In ganz Lettland ging die Einwohnerzahl in den vergangenen Jahren um 13% zurück (siehe Statistik); am stärksten ist der Rückgang in Latgale (21,1%), aber auch Vidzeme verlor 17,5% seiner Einwohner/innen. Der Bezirk Limbaži verlor allein in den Jahren 2005 bis 2013 12% seiner Einwohner. Die Zahl der Nutzer/innen in den Bibliotheken ging, alle Einrichtungen des Bezirk Limbaži zusammengerechnet, von 109.887 im Jahr 2015 auf 89.324 im Jahr 2017 zurück (-14,2%). Allerdings machen diese Zahlen nur 56% der Nutzungen aus - der Rest erfolgt bereits online per Internet. Einzelne Bibliotheks-Außenstellen haben eine ziemlich geringe Zahl registrierter Nutzer/innen: 69 sind es beispielsweise in Ārciems, einem kleinen Dörfchen von nicht mal 100 Einwohnern - früher einmal Haltebahnhof einer Schmalspureisenbahnstrecke. In Bīriņi, der Gemeinde mit dem 150 Jahren alten schönen Schlösschen am See - aber nur 110 Einwohnern - nutzen 59 die Bibliothek. Aber selbst diese Zahlen lassen ahnen, dass in Prozentzahlen das Bild etwas anders aussieht:  durchschnittlich nutzen 42% aller Einwohner/innen Lettlands Bibliotheken (lett. Kulturministerium). Jede/r Nutzer/in besucht statistisch durchschnittlich 15mal pro Jahr eine Bibliothek, die mittleren Ausgaben pro Nutzer/in betragen 49,55 Euro jährlich.

Die Gehälter der Bibliotheksangestellten in Limbaži wurden ab März 2018 leicht erhöht: auf monatlich 624 Euro (brutto). Dzintra Dzene, Bibliotheksleiterin in Limbaži, ist vor allem auch entsetzt über die Art und Weise, wie die Gemeinde sparen wollte:ohne eine Befragung der Bürgerinnen und Bürger, oder der Bibliotheksangestellten. Aber inzwischen gibt es Unterstützung zumindest vom lettischen Kulturministerium - es sollen Gespräche geführt werden mit der Gemeinde, und auch dem lettischen Gemeindeverband (Latvijas Pašvaldību savienība LPS). Diejenigen, die in Landgemeinden wohnen, hoffen, dass es auch sie mit ihren Interessen und Bedürfnissen nicht allein gelassen werden.