28. August 2014

Ukraine, Rußland und das Baltikum – Angela Merkel in Riga

Schon 2008 während des kurzen Krieges zwischen Georgien und Rußland, haben die baltischen Staaten Partei ergriffen für die kleine kaukasische Republik, obwohl damals zweifelsfrei deren Präsident den ersten kriegerischen Schritt unternommen hat. Seit nun in der Ukraine Aufständische russischer Nationalität offensichtlich vom großen Nachbarn Unterstützung erfahren, herrscht Angst im Baltikum, insbesondere nach der Annexion der Krim. Gemeinsam mit Polen wünscht man sich daher, daß nicht nur irgendwelche Fliegerkräfte vor Ort für Sicherheit sorgen, sondern möglichst eine Basis der NATO in einem der genannten Staaten etabliert wird. Dahinter stellen sich sowohl Poens Präsident Bronisław Komorowski als auch der lettische Verteidigungsminister Raimonds Vējonis. Die Ministerpräsidentin Norwegens, Erna Solberg, wiederum äußerte sich in diesem Punkt kritisch. Sie wie auch verschiedene deutsche Experten einen solchen Schritt für eine Provokation Rußlands halten.

Bundeskanzlerin Merkel besuchte am 18. August Riga und hielt eine kurze Ansprache vor dem Freiheitsdenkmal gemeinsam mit ihrer lettischen Amtskollegin Laimdota Straujuma. Sie versicherte den baltischen Staaten vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Ukraine die Solidarität Deutschlands und des Westens. Die NATO werde künftig in den östlichen Mitgliedsstaaten eine viel stärkere Präsenz zeigen als bisher. Stützpunkte der Allianz in Osteuropa lehnte Merkel mit Hinweis auf Versprechungen an Rußland aber erneut ab. Dieses Abkommen von 1997 habe Rußland mit seiner Annexion der Krim bereits gebrochen, entgegnete dem bereits vor Monaten der estnische Außenminister Urmas Paet. Immerhin gibt es verstärkte Militärmanöver in Lettland, an denen mindestens zehn Staaten der NATO beteiligt sind. Dazu kommt die Entsendung von Marineinfanteristen aus den USA. Diese Aktivitäten können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die baltischen Staaten Teil der NATO sind, deren 5. Artikel – der Bündnisfall – und der entsprechende Beistand der Bündnispartner auch für Estland, Lettland und Litauen gilt.

Für viele Beobachter, darunter auch den Autor dieser Zeilen, sollte das im Gegenteil zur Ukraine und auch zu Georgien, die noch 2008 von Deutschland und Frankreich als mögliche Bündnispartner gegen George Bush den jüngeren abgelehnt wurden, daß eine akute Gefahr für einen Angriff Rußlands auf die baltischen Staaten nicht gegeben ist. Richtig. Es gibt eine große russische Minderheit gerade in Lettland und Estland, deren öffentliche Meinung durch das russische Fernsehen rpo-Putin beeinflußt wird. Es sollte aber auch nicht vergessen werden, daß eine Entscheidung zugunsten der Assoziierung mit der EU, die im Frühjahr zu Massendemonstrationen in Kiew geführt haben und in der Absetzung der amtierenden Regierung endeten, die Aufstände im Osten der Ukraine ausgelöst haben. Vergleichbare Aufstände gab es auch in mehrheitlich russisch besiedelten Gebieten Lettlands und Estlands nicht einmal, nachdem 2004 beide Staaten der EU und der NATO beitraten. Zweifelsohne hat Rußland auch andere Möglichkeiten der Einflußnahme. Seit langem werden von reichen Personen aus Rußland Immoblien besonders im Badeort Jūrmala nahe Riga erworben. Außerdem trifft die Landwirtschaft der baltischen Staaten die Reaktion Rußlands auf die Sanktionen des Westens wegen der Ukraine-Krise ein Boykott von Lebensmitteln. Dennoch, am Rathaus der litauischen Hauptstadt Vilnius hängt eine Tafel mit einem Versprechen von George Bush dem älteren, daß nämlich, wer sich Litauen zum Feinde mache, automatisch die USA als Feind habe.

Politische Konsolidierung in Lettland möglich

Lettland wählt im Herbst nach nur drei Jahren wieder ein neues Parlament. Eigentich dauert eine Legislaturperiode vier Jahre, doch die 11. Saeima durfte nur drei Jahre arbeiten, weil es 2011 eine außerordentliche Wahlgegeben hatte nach der Parlamentsauflösung durch den damaligen Präsidenten Valdis Zatlers. Nach der lettischen Verfassung ist dann der neu gewählte Volksvertreter nur so lange im Amt, wie die Amtszeit des aufgelösten Parlamentes gedauert hätte.

 Die lettische Politik war während der vergangenen 20 Jahre immer eher unübersichtlich. Allein schon weil der Gesetzgeber die Listenverbindungen von Kleinstparteien nie untersagt hat, gab es in der 10. Saeima von 2010 unter fünf Fraktion nicht weniger als 18 Parteien. Dabei ist typisch für Lettland auch, die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Neugründung von Parteien befriedigen zu wollen. So suchen sich alle Bekannte aus der Politik und Quereinsteiger immer neue Wege.

Vor dem nun anstehenden Urnengang dürften sich die Parteien von Ministerspräsidentin Laimdota Straujuma (Einigkeit), die schon lange existierende Union aus Bauern und Grünen wie auch die vowiegend von der russischen Bevölkerung bevorzugte Partei Harmoniezentrum etabliert haben. Daß die Nationalkonservativen der mehrfach fusionierten Parteien aus der Unabhängigkeitsbewegung, Für Vaterland und Freiheit und „Alles für Lettland!“ ebenfalls den Sprung ins Parlament schaffen werden, scheint sicher. Neben dem Harmoniezentrum als ewiger Opposition und letztmalig zweitgrößter Partei im Parlament, bilden die genannten Parteien auch die derzeitige Regierung. Wie gut sie bei den nächsten Wahlen abschneiden werden, bleibt offen.

Umfragen in Lettland befördern meistens die Unentschlossenen zur größten Fraktion. Hinweis könnte allein der Erfolg der Einigkeit bei den Europawahlen im Frühjahr sein, als sie überraschend gut abschnitt und mit dem vergangenes Jahr wegen eines Supermatkeinsturzes zurückgetretenen ehemaligen Ministerpräsidenten Valdis Dombrovskis erneut ins Europaparlament brachte, wo er bereits vor seiner Amtszeit als Regierungschef in Riga gesessen hatte. Konkurrenz kommt allerdings von verschiedenen Seiten.

Für das nächste Parlament kandidieren auch „Einig für Lettland“, „Von Herzen für Lettland“, „Vereinigt für Lettland“ und „Für die Entwicklung Lettlands“. Das sind bei einer Parlamentswahl der vergangenen 20 Jahre mehr denn je Neugründungen, während die wesentliche Neugründung vor der letzten Wahl, die Reformpartei, verschwindet. Der frühere Präsident Valdis Zatlers hatte diese Partei nach seiner Nichtbestätigung im Amt gegründet und war mit kompetenten Kandidaten in den Wahlkampf gegangen. Doch erstens spalteten sich gleich nach der Konstitutierung des Parlamentes 2011 mehrere Abgeordnete ab, und zweitens traten wichtige Politiker und derzeitige Regierungsvertreter zur Einigkeit über, darunter der Außenminister Edgars Rinkēvičs und Innenminister Raimonds Kozlovskis.

Bemerkenswert unter den Neugründungen ist „Einig für Lettland“, die mit Ivars Godmanis und Aigars Kalvītis zwei ehemalige Ministerpräsidenten vereint mit dem Gründer des Harmoniezentrums, Jānis Jurkāns, dem ehemaligen Mitglied der erzkonservativen „Für Vaterland und Freiheit“, Jānis Straume sowie dem schillernden früheren Verkehrsminister Ainārs Šlesers, der während der 2000 Jahre gleich zwei politische Parteien gegründet hatte, zu den wichtigsten Oligarchen gezählt wird und sich schon einmal in einem Wahlkampf selbst den Spitznamen Bulldozer eingefangen hat. Schöne Reden solle man von Dichtern verlangen, Politisches Handeln aber von Bulldozern. Mit Edgars Zalāns gesellt sich ein eher farbloser Politiker hinzu, der als Bürgermeister von Kuldīga seine Karriere begann und für die heute nicht mehr existierende Volkspartei von Ex-Premier Kalvītis im Kabinett saß. Ivars Godmanis, der nach fünf Jahren im Europäischen Parlament nach Brüssel nicht wiedergwählt worden war, gab der Zeitung Neatkarīgā (Die Unabhängige), die als Organ eines zweiten Oligarchen in Lettland gilt, nämlich dem Bürgermeister der Hafenstadt Ventspils, Aivars Lembergs, ein langes Interview. Das Zusammengehen dieser sehr verschiedenen Personen rechtfertigte er damit, daß alle erfahren und durch dick und dünn gegangen sei, und daß man eben im Interesse Lettlands gemeinsame Ziele verfolge. In seinem Gespräch wurde er sehr konkret betreffend Steuer-, Bildungs- und Gesundheitspolitik, so daß sich die Frage stellt, warum die erwähnten Politiker seinerzeit im Amt diese Ideen nicht umgesetzt haben. „Einig für Lettland“ dürfte bei der Wahl ohne Bedeutung sein, weil ihr bisheriger Chef, Wirtschaftsminister Vjačeslavs Dombrovskis, es vorzieht, ebenfalls für die Einigkeit zu kandidieren.

Dagegen ist „Für die Entwicklung Lettlands“ ist der Versuch von Einārs Repše, in die lettische Politik zurückzukehren. Repše war während der Unabhängigkeit Nationalbankchef und wegen des künstlich stark gehaltenen Wechselkurses des Lats beliebt. Er ging 2002 mit der Anti-Korruptionspartei „Neue Zeit“ ins Rennen und gewann den Sessel des Regierungschefs, auf dem er wegen andauernder Querelen mit den Partnern und in der eigenen Partei aber weniger als ein Jahr saß. Es ist nicht zu erwarten, daß die Wähler seinen erneuten politischen Start ernst nehmen werden.
Anders verhält es sich dagegen mit „Vom Herzen für Lettland“ der ehemaligen Chefin des Rechnungshofes, Inguna Sudraba. Die eloquente Dame wurde durch ihr forsches Auftreten auch in den Medien beleibt und über den Schritt in die Politik lange spekuliert. Unstimmigkeiten zwischen ihr und ihren Partnern in der neuen Bewegung lassen jedoch Zweifel aufkommen, ob sie den Sprung über die fünf Prozenthürde schafft.
Bleibt die „Regionale Allianz“, eine Verbidung von politischen Kräften aus den Regionen und Kreisen, vergleichbar vielleicht mit den Freien Wählern in Deutschland. Die auf nationaler Ebene in Lettland agierenden Parteien sind auf kommunaler Ebene nur schwach verwurzelt. Vielerorts werden die Kommunen von lokalen Vereinigungen regiert, die mit keiner Partei in direkter Verbidung stehen. Der Versuch einer Zusammenarbeit dieser politischen Kräfte ist für Lettland neu, und es wird sich erweisen, welchen Erfolg sie haben werden. Unter dem Strich steht der großen Zahl an jungen politischen Kräften, die in diesem Herbst bei der Wahl zur 12. Saeima ihr Glück versuchen, großer Zweifel gegenüber, ob es auch nur eine dieser Kräfte wirklich schafft, landesweit 5% zu erlangen.

Am Ende könnte eine Parlamentszusammensetzung herauskommen, welche sich von der derzeitigen bestefalls durch einige Kräfteverschiebungen zwischen den bestehenden Fraktionen auszeichnet. Damit stünde auch zu Debatte, ob Laimdota Straujuma, die im Januar als Nachfolgerin des zurückgetretenen Valdis Dombrovskis erst nach zähem Ringen ins Amt kam, eventuell ihr Amt fortsetzen kann. Sie gilt als eher moderierend und zurückhaltende und wird in Lettland natürlich gerne mit Angela Merkel verglichen. Gleichzeitig könnten Kozlovskis und Rinkēvičs in ihren Ämtern verbleiben wollen. Die ebenso als potentielle Kandidatin gerechnete ehemalige Sozialministerin Ilze Viņķele mußte bei der Koalitionsneubildung im Januar dem neuen Partner der Union aus Bauern und Grünen weichen. Der frühere Verteidigungsminister Artis Pabriks, der noch im Januar von seiner Partei, der Einigkeit, dem Präsidenten gleich zwei mal als Ministerpräsident vorgeschlagen und abgelehnt worden war, wurde im Frühjahr ins Europaparlament gewählt. So lange Andris Bērziņš bis nächstes Frühjahr Präsident ist, ist mit seiner Nominierung ebenfalls nicht zu rechnen.

Bauen bleibt gefährlich in Lettland

Jüngst sollte in Riga in der Bīķernieku Straße ein neuer Maxima-Supermarkt eröffnet werden. Das ist dieselbe litauische Kette, deren Markt im Rigaer Stadtteil Zolitūde vergangenen Herbst eingestürzt ist. Nachdem die Untersuchungen ergeben hatten, daß für den Bau nicht taugliche Schrauben und Verstrebungen verwendet wurden, sind Beobachter hellhöriger geworden.

Nicht jedoch die Bauaufsicht, wie sich derzeit herausstellt. Erneut wurden Materialien und darunter Schrauben verwandt, für welche die ausführenden Bauunternehmen keine Klassifizierung vorweisen konnten. Und das war nur eines von mehreren Beispielen für Unklarheiten während des Baus. Es scheint, als habe die Branche aus dem Unglück von 2013 nichts gelernt. Und das ist nun der Grund, warum der Staat die Eröffnung des neuen Supermarktes untersagt hat.

19. August 2014

Die Deutschland-Versteher

Nach Angela Merkel werden in Riga schon Straßen benannt! So oberflächlich könnte man es sehen, wollte man die Beliebtheit der Vorsitzenden einer großen konservativen deutschen Partei in einem seit Jahren konservativ regierten Land bemessen.
Einen Tagestrip immerhin widmete die deutsche Kanzlerin, die gerne als eine der mächtigsten Frauen in Europa bezeichnet wird, Lettland und Riga.

Das offizielle Riga - Regierung und Amtsträger - sind stolz, "Merkele kundze" zu Gast zu haben - schließlich mussten die Zeiten, als deutsche Regierungschefs stets erstmal brav nach Moskau fuhren, um dann Riga die dort vorsortierten Gesprächsthemen zu präsentieren, mühsam überwunden werden.
Die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt ist daher nicht weit - im Bewusstsein der lettischen Öffentlichkeit jedenfalls. Erst Ende Juli hatte ein Beitrag in der in London erscheinenden "The Independent" behauptet, Merkel habe sich längst mit Putin "heimlich" geeinigt und einen Deal "Land for Gas" (ich gebe Dir die Krim, Du mir günstiges Gas) eingefädelt. Das fand auch in Lettland eifrig Anklang - viele sind in der Öffentlichkeit leicht bereit zu gehaupten, "Deutschland sei nun mal so" - also Großmacht bleibe Großmacht (da müssen sich die Deutschen selbst erst dran gewöhnen, dass sie als Großmacht gesehen werden ...).
Da hilft es auch nicht viel darauf zu verweisen, der "Independent" habe einen russischen Eigentümer, und aus der Ukraine angemerkt wurde, der Versuch Merkels Ruf zu schädigen sei eben darin begründet weil sie die Ukraine unterstütze (Kas Jauns).

Ja, "Deutschen-Bashing" ist in Lettland eigentlich keine schwere Übung. Und wirkliche Deutschland-Kenner, die sich mit der Entwicklung Deutschlands auseinandersetzen und dies nicht nur auf Mauerfall und Merkel-Verehrung reduzieren, sind in Lettland ebenso schwer zu finden. Die 28 lettischen Schriftsteller/innen und Künstler/innen jedenfalls, die sich genötigt sahen vor dem Besuch einen offenen Brief an Merkel zu verfassen, sind es jedenfalls nicht (Text siehe tvnet). Diesen 28 sollte man eigentlich zurückschreiben: gut, man kann versuchen sich einzuschmeicheln bei einer Frau, die selbst in einem Unterdrückerstaat groß geworden ist und meinen, dadurch seien die Probleme Ost- und Mitteleuropas heute besser verständlich. Aber wer behauptet, allein die Sowjetunion habe den Kalten Krieg vom Zaun gebrochen und deren verrückte Ausprägungen zu verantworten - der erinnert aus diesen Zeiten (des Kalten Kriegs) offenbar nur die verrückte Illusion eines im Westen angeblich existierenden Paradieses - als Deutschland-Kenner weist man sich mit solchen Plattitüden keinesfalls aus.

Regierungschefin Straujuma, diesmal
bemüht, sich wenigstens in Kleidung
und Frisur von Merkel abzugrenzen
Was können Letten von der berühmten Merkel erwarten? So fragte Jung-Journalistin Sanda Kvaste bei TVNet, und fragte Unidozent Māris Cepurītis um eine Meinungsäußerung. Seiner Meinung sei der Besuch hauptsächlich mit Wirtschaftsfragen verknüpft, aber auch mit der EU-Ratspräsidentschaft Lettlands im ersten Halbjahr 2015. Und schließlich hoffen die Letten ja auch, einen wichtigen Posten für ihren Ex-Regierungschef Dombrovskis in der EU-Kommission zu bekommen.
Deutsche Medien betonen fast ausschließlich, Merkel würde wegen aktueller Fragen der Ukraine-Krise nach Lettland gefahren sein - auf die Frage verkürzt, ob sie neuen NATO-Truppen an der EU-Ostgrenze zustimmen würden, ist die Ablehnung bei der Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit klar (siehe TAZ, Tagesschau). Und wer in Deutschland als Ergebnis der Gespräche titelt "Merkel verspricht baltischen Staaten NATO-Beistand" (z.B. "Die Welt"), der riskiert eine Flut protestierender Leserzuschriften.

"Wiederholte Besuche der Kanzlerin zeigen, dass Europa Lettland nicht vergessen hat", meint immerhin auch Kommentator Māris Cepurītis. Auf lettischer Seite müht sich die Presse in der Prägung neuer Mythen: so wie man die eigene, politisch immer noch nicht besonders bedeutende Regierungschefin (im Oktober stehen Wahlen an) "kleine Merkel" getauft hat, so war jetzt von "Deutschlands eiserner Lady" die Rede ("Diena"). Nun ja, abseits der lettischen Hoffnung nach einer starken Frau (auch mal eine Variante!), wird das Stichwort "Ribbentrop" in den Köpfen dennoch nicht weit verdrängt sein.

Und die Alltagssorgen ebenfalls nicht. Wenn einige lettische Schriftsteller und Intellektuelle also glauben, die langsam gewachsenen Sympathien für Lettland (in der deutschen Öffentlichkeit, in den deutschen Medien) dadurch aufs Spiel setzen zu können, dass sie - mit einem anstehenden Obama-Besuch im Baltikum im Rücken - fordern zu können: "nur wer Soldaten schickt versteht uns!" - der könnte genau diese Sympathien auch schnell wieder aufs Spiel setzen. Alternativvorschlag: Vielleicht endlich mal die eigenen Werke ins Deutsche übersetzen lassen - das würde mehr deutsch-lettisches Verständnis fördern!

Stichwort Alltagssorgen - Schlagzeile vom selben Tag: Lettland steht auf der Rangliste der sozialen Ungleichheiten weit vorn - als 48. unter 187 Ländern (nach Human Development Report). Unter den hochentwickelten Ländern nimmt die Ungleichheit in Lettland eine Spitzenposition ein (siehe DIENA).

17. August 2014

Lettische Jugend auf dem Weg nach Europa

Zwei etwas wiedersprüchliche Statistikzahlen im Monat August 2014:auf 10,7% sei die Arbeitslosenquote im Monat Juli 2014 gefallen, berichtet das zuständige Ministerium stolz. Es sei die niedrigste Quote seit Beginn der Wirtschaftskrise 2009.
Doch gleichzeitig pendelt die Zahl der Einwohner des Landes nur noch um die 2 Millionen. Schon Jugendliche wandern doppelt so häufig wie der Durchschnitt ihrer Altersgenossen in anderen EU-Ländern aus Lettland aus - das ist eines der Feststellungen einer Konferenz zum Thema "Jugend in Lettland 2015-2020", die vor einer Woche in Riga stattfand.

Das lettische Statistikamt geht davon aus, dass Personen zwischen 13 und 25 Jahren als Jugendliche zu bezeichnen sind. Dieser Definition zufolge gibt es 291.964 Jugendliche in Lettland (15% der Einwohnerzahl). Umfragen unter ihnen zeigen, dass 64% in ihrer Freizeit gerne etwas am Computer tun, 53% treiben Sport, 40% schauen Fernsehen, 30% lesen etwas und 13% tanzen gern (Quelle: CSB).Übrigens ist unter den Jugendlichen die alte Legende, es gäbe in Lettland prozentual sehr viele Frauen, nicht anzutreffen: mit 51% haben die Jungs nur einen knappen Überhang.

Grafik: Lettisches Statistikamt CSB
22% aller Arbeitssuchenden in Lettland sind Jugendliche.17% aller Jugendlichen suchen sich Arbeit in anderen EU-Ländern - im europäischen Mittel seien es nur um die 10%. (LETA) Staatliche Behörden reagieren auf diese Tendenz relativ hilflos: man müsse Jugendliche eben auch zur Mitarbeit in nichtstaatlichen Organisationen bewegen, meint zum Beispiel Sanda Brūna als Vertreterin des zuständigen Ministeriums vor der lettischen Presse. Außerdem sei der Aufbau von Strukturen zu lebenslangem Lernen wichtig, um möglichst vielen den Einstieg oder Wiedereinstieg ins Arbeitsleben zu ermöglichen. Allerdings genießen gerade staatliche Vertreter und Politiker bei lettischen Jugendlichen mit das geringste Ansehen.

An lettischen Hochschulen wurden im akademischen Jahr 2013/2014  89.671 Studierende registriert. Im Jahr 2012 befanden sich 1.745 Studierende in Austauschmaßnahmen mit Hochschulen im Ausland in 42 verschiedenen Ländern: am beliebtesten waren deutsche Hochschulen mit einem Anteil von 12,3%, gefolgt von Litauen mit 8,3% und Spanien mit 6,8%.
8% aller Jugendlichen unter 25 Jahren sind bereits verheiratet, und zusammengenommen haben sie 4.469 Kindern das Leben geschenkt, rein statistisch. Trotz allen Zahlengewirrs, die Schlagzeile bleibt: auch die jungen Leute in Lettland suchen derzeit ihr Glück im Ausland - ob mangels Möglichkeiten in Lettland das Auskommen zu sichern, oder einfach als scheinbar bessere Alternative.

8. August 2014

Die kleine Merkel und die 13 Wege zur Macht

Nachdem eine Reihe bisher bekannter lettischer Politiker sich "nach Europa verabschiedet" haben stellt sich die lettische Politik jetzt neu für die Parlamentswahlen am 4. Oktober auf.
Einerseits wirkte der Wahlsieg der "Vienotība", die vier der insgesamt acht EU-Mandate holte, sehr überzeugend. Andererseits ist die Regierung Straujuma, von einigen lettischen Journalisten ironisch als "kleine Merkel" belächelt, nur durch die Rochaden des Ex-Ministerpräsidenten und wohl zukünftigen EU-Kommissars Dombrovskis in Amt und Funktion gehoben. Und: trotz der kurzen Amtszeit gaben mit Justizministerin Baiba Broka und Gesundheitsministerin Ingrida Circene schon zwei Frauen ihre Ministerposten auf. Die politischen Rochaden haben also schon begonnen.

Sternmarsch auf Riga
Wer die nächste Legislaturperiode mitregieren will, muss sich jetzt positionieren. 13 politische Parteien und Listenvereinigungen haben ihre Kandidatenlisten beim Wahlamt eingereicht, und da es fünf Wahlbezirke gibt (Kurzeme, Vidzeme, Zemgale, Latgale, Riga), werden dort auch überall Spitzenkandidaten gesucht.
Drei Monate vor dem Wahltermin stellt die staatliche Wahlkommission (CVK) die Grundlagen fest: 1.551.440 Wahlberechtigte waren am 4.Juni in Lettland registriert. Davon verteilen sich 495.890 Wählerinnen und Wähler auf Riga (inklusive der im Ausland registrierten), 402.615 auf Vidzeme, 226.966 auf Latgale, 226.430 auf Zemgale und 199.539 auf Kurzeme. Dem entsprechend werden aus Riga 32, aus Vidzeme 26, aus Latgale 15, Zemgale 14 und Kurzeme 13 Abgeordnete ins Parlament zu wählen sein.

Wieder einmal sind auch neue Parteien dabei, mit sehr kreativen Namensgebungen. Wer sollte entscheiden, ob "Souveränität", "Gleichklang", "Einheit", "Wachstum", "von Herzen", "Geeint", "Entwicklung", oder "frei von Ängsten, Hass und Ärger" das beste für Lettland sind, - oder welche eigentlichen Ziele solche Parteien überhaupt haben? Nur bei "Konservativen", "Bauern", "Grünen", "russischer Vereinigung", "alles für Lettland" oder "Allianz der Regionen" könnte man schon vom Namen ahnen, was gemeint ist - zumindest bei denen, die sich einer dieser Interessengruppen "verwandt" fühlen.

Alle 13 Listen müssen also möglichst 5 Spitzenkandidatinnen oder -kandidaten aufstellen. Bei der regierenden ""Vienotība" sind diese Außenminister Edgars Rinkēvičs (eigentlich in Jūrmala lebend, startet aber in Riga als "Lokomotive"; Parlamentspräsidentin Solvita Āboltiņa für Kurzeme (sie lebt in Riga); Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma in Vidzeme (lebt in Riga), in Latgale Verkehrsminister Anrijs Matīss, (der in Carnikava bei Riga wohnt) und für Zemgale startet an der Spitze Jānis Reirs, der tatsächlich auch in Dobele wohnt und eigenen Angaben zufolge gern Motorroller fährt.

Die voraussichtlich stimmenstärkste der bisherigen Oppositionsparteien "Saskaņa" stellt in Riga wieder einmal den Absolventen der Landwirtschaftshochschule Jānis Urbanovičs auf, der im Gegensatz zu seinem Parteikollegen und Bürgermeister Nils Ušakovs bisher noch nie ausreichend Unterstützung für ein höheres Amt erhielt - aber selbst als Steigbügelhalter gilt. Für Vidzeme ist es der Wirtschaftsökonom Ivars Zariņš, der seinen Wohnsitz in Jēkabpils hat; für Latgale führt Andrejs Elksniņš aus Daugavpils die Liste an, und in Kurland ist Valērijs Agešins, ein Historiker, Dozent und Jurist die Nr. 1 (der ebenfalls in Riga lebt).

Hoffen aus Plus und Minus
Im Gegensatz zum deutschen Wahlsystem ist in Lettland noch nicht alles mit der Reihenfolge der Kandidatenaufstellung vorbestimmt. Die Wählerinnen und Wähler können zusätzlich zur Wahl einer der 13 Listen diese mit "plus" oder "minus" versehen und so die Prioritäten ändern - so kam es schon vor, dass Minister durchfielen oder hintere Listenplätze nach vorn rutschten.

Eine ganz besondere Neuschöpfung stellt die Partei "Einig für Lettland" dar, die mit Ivars Godmanis, Aigars Kalvītis, Jānis Jurkāns, Jānis Straume, Edgars Zalāns und "Bulldozzer" Ainārs Šlesers gleich zwei Ex-Ministerpräsidenten und vier Ex-Minister aus ehemals vier verschiedenen politischen Strömungen auf seinen Spitzenpositionen aufweist. Die eigentliche Absicht dürfte aber darin bestehen, bei den Wählern in Ungnade gefallene, aber mit genügend Finanzen und Wirtschaftsmacht ausgestatteten Figuren wieder zu politischem Einfluss zu verhelfen. Die Liste bietet einen "bunten Strauss" von ehemals anderswo Aktiven: von Priestern einer Sektenbewegung bis hin zu ehemaligen der unseligen "Ziegerist-Partei".

Eine andere Besonderheit ist dann noch die "Reformpartei". 2011 als "Zatlers Reformpartei" gegründet - also von Unterstützern der Entscheidung des damaligen Präsidenten Zatlers, durch die Entlassung des Parlaments und Ausrufung von Neuwahlen den Einfluss von den sogenannten "Oligarchen" zu begrenzen. Bei den dann angesetzten Neuwahlen 2011 erlangte die Partei zunächst 20% der Wählerstimmen und 22 Parlamentssitze.
Aber schon Zatlers Versuch, die Oppositionspartei "Saskaņa" in eine Koalition mit Lettlands rechter Mitte einzubinden, brachte ihm (und seiner Partei, laut Umfragen) viel Gegenwind. Kurz danach bezeichneten sich 6 der auf der Reformpartei-Liste Gewählten als "unabhängig" und distanzierten sich somit von der Partei. Zatlers selbst ist nun wegen eigener gesundheitlicher Probleme nicht mehr politisch aktiv, es war absehbar dass die Reformpartei in diesem Jahr nicht wieder antreten würde - im Mai empfahl der Parteivorstand seinen Spitzenleuten, es für die Zukunft mit einer Karriere beim momentanen Koalitionspartner "Vienotība" zu versuchen.
Der bisherige Parteichef, Vjačeslavs Dombrovskis, aktuell noch als Wirtschaftsminister im Amt, steht nun als Nr.3 auf der "Vienotība"-Liste in Zemgale. Ex-Parteichef Edmunds Demiters fasste den Niedergang der Partei kürzlich so zusammen: "Wir können ja nicht die Gesellschaft im Mithilfe bitten, wenn wir selbst nicht in der Lage sind im Team zu arbeiten."

Einige weitere bekannte Namen verbergen sich hinter neugeschaffenen Parteibezeichnungen: Ex-Premier Einars Repše versucht es jetzt mit "Für Lettlands Entwicklung" ("Latvijas attīstībai"), Ex-Rechnungshof-Chefin Inguna Sudraba bildete den eigentlichen Kern zur Schaffung von "von Herzen für Lettland", und Mārtiņš Bondars, Ex-Kanzleichef des Präsidenten und auch schon mal von der Reformpartei umworben, steht nun als "Gesicht" für die "Regionale Allianz" zur Verfügung.

Alles klar?

Ritvars Eglājs, Mitglied der zentralen Wahlkommission Lettlands (CVK) äusserte kürzlich die Vermutung, dass es gerade in den ländlichen Gebieten noch viele Menschen gibt, die eigentlich im Ausland leben und arbeiten, dies den Behörden aber (noch) nicht angezeigt haben (Latvijas Avize). Für die einen, die eher im Ausland leben, wird nun durch ein neues Papier der Regierung die Zusammenarbeit mit der sogenannten "Diaspora", also außerhalb Lettlands lebenden Letten, vielleicht zum Wahlkampfthema. Mit der Rückwanderung "nach Hause" als Ziel.
Für die anderen, die mit den lettischen Verhältnissen klarzukommen versuchen, werden die Parteien versuchen die Krise in der Ukraine und die Folgen der schlechter werdender Beziehungen zu Russland zu eigenem Nutzen zu wenden. Und darüber hinaus ist offensichtlich: die meisten möchten gern damit werben, am besten neue Arbeitsplätze schaffen zu können - nicht zufällig sehen gleich zwei Parteisymbole fast wie Kennzeichen lettischer Arbeitsämter aus.

Rein (wahl)-rechtlich bleibt jedenfalls bis Oktober alles beim Alten. Es gab einige Überlegungen, das lettische Wahlsystem zu reformieren: von Vorschlägen entweder die Mandate nur nach Zahl der tatsächlich abgegebenen Stimmen aufzuteilen ist da zu lesen, wie auch ganz Lettland als einheitlichen Wahlbezirk auszuzählen (s.d.). Aber vorerst bleibt alles wie bisher: fünf Bezirkslisten und insgesamt 1156 Kandidatinnen und Kandidaten wollen Teil der nächsten, der 12.Saeima werden.

Übersicht der Wahlkommission CVK

5. August 2014

Magic Mofa

Lettische Kulturschätze - da denken die meisten doch wohl an die Sängerfeste, an die Rigaer Altstadt oder die Jugendstilhäuser, vielleicht an die Kokle, Töpferei in Latgale, an Liven oder Suiti und natürlich die Dainas. Im "Lettischen Kulturkanon" jedoch, der von einer Expertengruppe ausgearbeitet wurde um öffentlich festzulegen, was die wertvollsten Elemente lettischer Kultur ausmacht, finden sich außerdem auch unerwartete Dinge - so zum Beispiel ein Erzeugnis aus der Blüte der Sowjetzeit.

Abbildung: persönliches
Archiv von Gunārs Glūdiņš
(Kulturkanon.lv)
Hergestellt wurde es vom "Roten Stern" (Sarkanā Zvaigzne), und Ende der 1970iger, Anfang der 1980iger Jahre galt es als eine Art Kultobjekt für alle, die in den Genuß kamen eines zu besitzen. "Seit den 1960iger Jahren wurde der Begriff 'Design' auch in Lettland eingeführt," so die Erläuterung der Macher des Kulturkanon, "und in allen Ländern wurden nach diesen Grundsätzen gestaltete Produkte durch den Aufstieg der Industrialisierung für den Außenhandel, aber auch für den Inlandsmarkt hergestellt." Seit 1964 gab es an der Rigaer Kunstakademie eine Abteilung für Industriedesign. Aus diesem Studiengang ging eine Generation "lettischen Designs" hervor, das zumindest auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion seine Wirkungen erzielte. Den höchsten Beliebtheitsgrad erzielten die Modelle "Riga-14", "Riga-18" und "Stella".

Träume gratis mitgeliefert - die heute vom
Rigaer "Motormuseum" organisierten Ausstellungen
erfreuen sich großer Beliebtheit
Die Werkstätten des "Rote Stern", deren Anfänge bis 1927 und die Fahrradfabrik "Ērenpreiss" zurückreichen, überlebten noch bis ins Jahr 1998 - seit 1958 hatten sie bis dahin etwa 10 verschiedene Modelle an Motorrollern, Mopeds und Mokicks entwickelt. Gunārs Glūdiņš war für das Design der meisten Modelle verantwortlich, einer der ersten Absolventen des Rigaer Studiengangs "Industriedesign".Abseits des guten Aussehens hatten die Modelle auf der technischen Seite allerdings so ihre Macken und Wehwehchen - doch für den gegenwärtig in Lettland aufkommenden Retro-Trend, das Wiederaufleben lassen vergangener Zeiten der vor-sowjetischen ("ulmanischen") und sowjetischen Zeit taugt es noch allemal.Und eines hat sich bis heute erhalten: um das "Goldene Moped" (Zelta Mopēds) werden auch heute noch regelmäßig in Riga und anderen Orten Lettlands Rennen gefahren.

Lettischer "Kulturkanon" / Rigas Motormuseum (virtuelle Tour)


.... was sich alles mit einem schicken Riga-Moped anstellen ließ ....


... drei Folgen sowjetlettischer Mopedhistorie ...