31. Oktober 2018

Merkele kundze geht. Na und?

Eine eigene Straße wird wohl nicht nach ihr benannt werden in Lettland - so wie nach dem Aufklärer und Gutsherren-Kritiker Garlieb Merkel. Aber nach dem Russland nicht nur freundlich gesonnenen, sondern sogar persönlichen Profit dabei nicht scheuenden Kanzler Schröder atmeten viele 2005 in Lettland erstmal auf: vieles an Kanzlerin Merkel erschien sympatischer als bei ihren Vorgängern. Sie versteht und spricht selbst Russisch, kann also die schwierigen Diskussionslagen gegenüber Russland im einzelnen nachvollziehen. Sie ist geboren als Kind der DDR, kann also auch die ex-sowjetischen Zwangslagen und Umstellungsschwierigkeiten Lettlands gut verstehen. Und sie hat in der Zeit ihrer Kanzlerschaft die Kommunikationslage zwischen Berlin und den baltischen Staaten wesentlich verbessert - steht heute ein Besuch des russischen Präsidenten in Deutschland, oder ein deutscher Staatsbesuch in Russland an, kann man davon ausgehen, dass kurz vorher die Regierungen der baltischen Staaten über die deutschen Absichten informiert wurden und ein Meinungsaustausch stattfand - an Ähnliches war noch zur Statthalterzeit Helmut Kohls nie auch nur zu denken gewesen (siehe auch: "Latvijas Vēstnesis", Blogbeitrag 2014).

Kam den Lettinnen und Letten schon immer eher
verdächtig vor: die Logik der Merkel-Vergleiche
(hier rechts gemeint: Laimdota Straujuma,
lettische Regierungschefin 2014-16)
Aber auch für die baltischen Staaten war das Entgegenkommen der Regierung Merkel gegenüber den Flüchtlingsströmen irritierend: seitdem haben sich die rechtskonservativen Frontleute stärker profilieren können. Nun heißt es manchmal generell: ist denn überhaupt alles, was aus dem Westen kommt, gut für uns? Und, obwohl die Mehrheiten pro EU-Mitgliedschaft und Euro auch in Lettland bisher unumstößlich erscheinen: nun wird an einer Front mit einer Anti-Flüchtlingshaltung auch Anti-Abtreibung, die Gegnerschaft zu gleichgeschlechtlichen Ehen, ja sogar eine Nichtbeteiligung an Wahlen hoffähig (mit dem Argument, Wahlen bestätigten ja sowieso nur die gegenwärtigen Machthaber).

Wie sehen die Reaktionen  auf den angekündigten Abgang Angela Merkels in Lettland aus? Einige Tage lang - (eisiges?) Schweigen. Merkel-Lob scheint gerade nicht populär zu sein. Es dominiert der relativierende Blick auf Europa. Das "Baltic News Network" (bnn) zitiert John Henley vom britischen "The Guardian", der die Stabillität Europas gefährdet sieht. Paula Justoviča und Ina Strazdiņa betiteln ihren Beitrag zum angekündigten Merkel-Abgang mit dem Begriff "Stabiltät" (lsm). Reaktionen der europäischen Presse zusammenfassend schreiben sie, Merkel sei bisher eine Führungsfigur in Europa gewesen, die Europa auf einem einheitlichen Kurs gehalten habe. Was sie selbst dazu sagen? Fehlanzeige. Macron, Juncker, Rutte - sogar das Weiße Haus und der Kreml werden zitiert (die sich beide eines Kommentars zu Merkel enthalten) - aber kein einziges Zitat von lettischer Seite.

Nun ja, Lettland befindet sich mitten in einer schwierigen Regierungsbildung. Nicht umsonst heißt es: "auch das übrige Europa erlebt einen Stimmenrückgang für traditionelle Parteien" (lsm). Im neu gewählten Parlament kämpfen jetzt sieben Parteien um eine Beteiligung an der Macht - Ausgang offen.

Varianten der Berichterstattung zur Merkel-Nachfolge erlaubt sich die "Latvijas Avize", in kleinen Details: hier wird neben den Namen Kramp-Karrenbauer, Merz und Spahn auch "Christian von Stetten" vorgestellt, ein - Zitat - scharfer Kritiker von Merkels Griechenland-Rettungspolitik und der Grenzöffnung für eine Million Flüchtlinge" (LA). Seltsam nur, dass auf von Stettens eigener Webseite von einer evtl. Kandidatur nichts zu finden ist. In deutschen Medien (FAZ, Welt) ist lediglich zu lesen, dass sich von Stetten frühzeitig für eine Kandidatur von Friedrich Merz ausgesprochen habe - also kein Zeichen guter Deutschlandkenntnisse bei der lettischen Presse, an dieser Stelle. Oder ist es gar noch mehr "lettisches Wunschdenken", falls hier Christian mit seinem Vater Wolfgang verwechselt wurde, dem langjährigen Vorsitzenden der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe im Bundestag?

Andere Kommentare gibt es vereinzelt in den "sozialen Netzwerken". "Merkel war auch KGB-Agentin und glaubte immer noch an dieselben Ideologien wie in ihrer Kindheit," schreibt ein 'Gregory' auf "Delfi.lv". "Deshalb hat sie auch die illegalen Einwanderer nach Europa reingelassen. Außerdem geht sie für 'Nordstream2' auch über Leichen". - "Gut, sie unterstützt 'Nordstream2", stimmt 'Uldis' zu, "und das Flüchtlingsproblem wird nicht so schnell verschwinden. Aber 'Nordstream2' wird auch mit einem anderen Kanzler gebaut. Ob aber die Sanktionen gegenüber Russland aufrecht erhalten werden, das betrifft doch Lettland am meisten", meint er. "Es wurde auch Zeit für Merkel", meint 'Driks'. "Es bedarf jemand der mit frischem Blick die Probleme in Deutschland anpackt."

Schließlich wagt auch Juris Paiders von der "Neatkarīga" einen Kommentar: "Das Ende des Merkelreichs naht." Innenpolitisch habe Merkel das Image einer "eisernen Lady" gehabt, meint er, aber ihr Stern sei seid 2015 doch arg gesunken. Als Deutschland 2015 beschlossen habe, die "Dublin Konvention" zu ignorieren, habe dies in der Realität zur Folge gehabt, dass jeder illegale Einwanderer nach Deutschland, sofern er es nur geschafft habe als syrischer Flüchtling anerkannt zu werden, großzügig aufgenommen und auch noch finanziell belohnt werde. Also hätten sich alle Flüchtlinge auf den Weg nach Deutschland gemacht, und in den deutschen Großstädten habe sich das Kriminalitätsniveau seitdem erheblich erhöht, meint Paiders. Seiner Meinung nach sei die Unterstützung für Flüchtlinge in Deutschland manchmal größer gewesen als für ortsansässige Rentner oder arme Leute. Paiders zufolge habe das die Unterstützung für die größeren regierenden Parteien in Deutschland erheblich vermindert, und andere Kräfte erstarken lassen.

Paiders wagt sogar einen Vergleich der lettischen mit der deutschen Politik - allerdings nicht auf Flüchtlinge bezogen. Auch die Führungsfiguren der lettische Liste der "Bauern und Grünen" (ZZS) habe zu lange an die Richtigkeit von Reformen geglaubt, während sich die Wählerinnen und Wähler und die eigenen Mitglieder bereits abgewandt hätten. "Hier enden aber auch die Gemeinsamkeiten," schreibt Paiders. "In Lettland stammen sowohl der Präsident wie auch der bisherige Regierungschef aus den Reihen der ZZS. Niemand in der Führung der ZZS hat aber so gehandelt wie die deutsche Kanzlerin. Im Gegenteil. Schließen wir unsere Reihen fester, versuchen es jedem Recht zu machen, auf dass wir nur irgendwie wieder zwei Ministerien bekommen, und dann werden wir sehen ..."

Für "Diena" kommentiert Andis Sedlenieks dann am 31.10. Er sieht wachsende Radikalisierung und innenpolitische Gegensätze in Deutschland, sonst aber wenig Änderungen. Ein "Abgang in Ehren", aber auch ein unklares neues Zeitalter. Interessant auch ein Leserkommentar dazu. "Ach, das ist ja eine Aufregung ähnlich damals, als Breschnew starb; da heulten unsere kommunistischen Hunde auch beinahe schon einen heraufziehenden neuen Krieg herbei - aber sein Platz blieb ja nicht lange leer. Nirgendwo in der Welt wird die Pensionierung einer einzelnen Frau größere Löcher verursachen."

28. Oktober 2018

Lidlogie letztendlich lettisch

Nach Litauen wird nun auch in Lettland wieder über verschwindende und neu auftauchende Supermarktketten diskutiert. Es war 2006, als in der lettischen Tageszeitung "Diena" ein Beitrag zu lesen war, dem zufolge LIDL seine Pläne in Lettland aufgebe; schon damals soll es konkrete Pläne für Rīga, Jūrmala, Liepāja, Rēzekne, Jelgava, Daugavpils, Tukums und weitere Standort gegeben haben. Der Rückzug damals sei selbst für die Verantwortlichen in den betroffenen Gemeinden überraschend gekommen, so der Bericht. Aber: es war die Zeit noch vor der Wirtschaftskrise, als die Grundstückspreise noch ungebremst anstiegen, und der Konzern hatte sich damals noch nicht alle notwendigen Grundstücke und Baugenehmigungen gesichert.

Schon 2017 machten Journalisten der "Latvijas
Avize" den Verlgeichstest durch Probeeinkäufe
bei LIDL in Litauen. Ergebnis: meist ist LIDL günstig
Noch vor einem Jahr gab es eine starke Gegnerschaft zur LIDL-Expansion: von "Stop-Lidl"-Initiativen bis zu Sorgen, die Billigpreis-Konkurrenz könnte zum Schaden vor allem der regionalen lettischen Produkte ausgehen (delfi). Sieben große Lebensmittel-Discoounter zählte die Zeitung "Diena" im Jahr 2017 in Lettland, davon nehmen die beiden Ketten MAXIMA und RIMI 60% des Marktsegments und etwa 2000 Verkaufsstellen ein. Wer sucht, der findet vielleicht auch noch einen der 700 Läden von "LaTs", 500 von "Aibe", 180 von "Elvi" und 100 von "Mego/Vesko".

Nun will LIDL, einem Bericht der Tageszeitung "Neatkarīga" zufolge, doch 10 Filialen plus ein Logistikzentrum in Lettland bauen, davon wahrscheinlich fünf in Riga. Die ersten Läden sollen Anfang 2020 eröffnen, die Suche nach Arbeitskräften habe bereits begonnen. Sowohl Lettlands Wirtschaftsminister Arvils Ašerādens gratulierte Lidl zu der Entscheidung zum Markteinstieg, wie auch Rigas Bürgermeister Nils Ušakovs. Die Nutznießer der LIDL-Expansion seien die lettischen Verbraucher - so zitiert die Deutsch-Baltische Handelskammer den deutschen Botschafter in Lettland, Ralf Schütte.

Die Konkurrenz ist inzwischen kleiner geworden: Valdis Turlais gab von Seiten "Rimi Latvija" bekannt, dass Läden mit der bisherigen Bezeichnung "Supernetto" bis Anfang nächsten Jahres vom Markt verschwinden würden (delfi). Ihm zufolge würden 600 Produkte, die bisher bei "Supernetto" zu finden gewesen seien, zum selben Preis demnächst von "Rimi" übernommen werden. "Die Kunden wollen mehr Auswahl", so seine Diagnose. Eigentümer der RIMI-Kette ist die schwedische ICA-Gruppe 

Das auf 47.000qm projektierte LIDL-Logistikzentrum an der Ulbroka iela 42 wird gebaut von "Merks", einer Tochter der estnischen AS Merko Ehitus. 42 Millionen Euro soll der Bau kosten und Anfang 2020 eröffnet werden. In Litauen gibt es inzwischen 39 LIDL-Filialen.

18. Oktober 2018

Die Hunderjährigen

Vor einhundert Jahren wurde Lettland erstmals als unabhängiger Staat begründet. Das ist lange her, könnte man denken. Aber mit dem Privileg, einhundert Jahre alt zu sein, ist der lettische Staat nicht allein.

Bereits zum wiederholten Male lud Raimonds Vejonis, Lettlands Staatspräsident, am 25. August zum Treffen der Hundertjährigen ein - diese Tradition hatte vor 25 Jahren Ex-Präsident Guntis Ulmanis begründet (president.lv). Geboten wurde diesmal im Kulturzentrum "Ziemeļblāzma" ein Konzertprogramm mit anschließendem Festessen. Bereits an einer Veranstaltung im Schloß Rundāle am 15. Juli hatten 35 der 42 Menschen, die in Lettlands 2018 ihren einhundertsten Geburtstag feiern, teilnehmen können (lsm).

Auch die Stadt Riga zeigt sich aufmerksam: 150 Euro bekommen Rigenserinnen und Rigenser als Geschenk zu ihrem 100.Geburtstag ausbezahlt. Über die Höhe der Summe lässt sich vielleicht streiten - aber sie wurde im 1.Halbjahr 2018 bereits 43mal ausgezahlt (delfi). Dabei muss auch keinerlei Antrag gestellt werden: der Sozialdienst der Stadt sucht die Betreffenden zu Hause auf. Wer einhundert Jahre alt wird, oder älter, bekommt also mindestens zum Geburtstag einmal Aufmerksamkeit.

Ein anderes Projekt ist der Film der lettischen Regisseurin Žaklīna Cinovska, die ebenfalls Lettlands Hundertjährige in den Fokus nimmt. Der Film "Geboren zusammen mit Lettland" ("Latvijas simtgadnieki - Piedzimt kopā ar Latviju") wird gerade abgedreht und soll dann in die Kinos kommen. (aprinkis)
"Viele dieser Menschen, die Teil des Filmes geworden sind, haben sich ihren ganz persönlichen Charme bewahrt, nehmen aktiv am gesellschaftlichen Leben teil, haben eine unerschütterliche Lebensfreude, sind neugierig, und glauben an ihr Land Lettland. Sie sind eine wunderbare Inspirationsquelle für die Jugend und der jungen Generation, die das nächste Jahrhundert Lettlands schaffen werden," kommentiert Regisserin Cinovska ihr Projekt. Die Filmmusik komponierte Mārtiņš Brauns. (edruva)


In ganz Lettland gäbe es zur Zeit etwa 200 Hundertjährige, erzählt Valters Kagainis, der als Geschäftsführer der Filmproduktionsfirma arbeitet. "Zum ersten Vorbesprechung für den Film kamen noch 40, die zusagten am Projekt teilzunehmen, realisieren konnten es dann noch zwölf. (LA) Auch Terezija Mackare, Vorsitzende der "Allianz aktiver Senioren in Riga" (“Rīgas aktīvo senioru alianse” - RASA) "Marta Melgalve zum Beispiel", erzählt Mackare stolz, "sie feierte kürzlich ihren 103.Geburtstag und hat sich erst kürzlich mit dem Computer vertraut gemacht, nutzt nun auch 'Skype'. Es freut mich, dass gerade sie auch im Film zu sehen ist."
Ebenfalls einen ganz besonderen Feiertag hatte die lettische Astronomin, Doktorin der Physik und emeritierte Wissenschaftlerin Ilga Daube. Genau an ihrem 100. Geburtstag fiel es ihrem Staat Lettland ein, Wahlen abzuhalten; immerhin kam sie so zu der Ehre, im Wahllokal mit Blumen vom Wahlkommittee empfangen zu werden (lsm) "Ich interessiere mich auch für Politik, ich lese Zeitungen, bilde mir auch eine Meinung zu diesen Leuten. Ich habe mein Vertrauen auf den guten Willen der Politiker noch nicht verloren", meint die Jubilarin. 

10. Oktober 2018

Die Auserwählten

Der Wahltag ist vergangen, die Regierungsbildung wird vielleicht mehrere Wochen dauern. Dennoch lassen sich aufgrund der Personen, die auf ihren Wahllisten gewählt wurden, einige Rückschlüsse bereits ziehen.

Bei der "Saskaņa" war Bürgermeister Ušakovs, (der
nicht für das Parlament zur Wahl stand) allgegenwärtig.
Ob es zum Stimmenrückgang beigetragen hat?
Viele Frauen
Wenigstens ist klar, welche 100 Frauen und Männer einen Sitz im lettischen Parlament (Saeima) einnehmen werden. Überraschenderweise ist es ein Rekord weiblicher Repräsentanz geworden: 31 von 100 Abgeordneten werden Frauen sein. Seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit waren es nie mehr, im bisherigen Parlament waren es 19 Frauen, in der Periode davor 21 Parlamentarierinnen.

Keine Grünen mehr im Parlament
Seit  Edgars Tavars 2011 das Ruder bei der Grünen Partei Lettlands (Zaļa Partija) übernahm (und inzwischen auch mit der Tradition zweier gleichberechtigter Vorsitzender brach), ist deren Mitgliederzahl auf beinahe 900 gewachsen (siehe auch: Blogbeitrag). Doch offenbar wächst damit auch der Gegensatz zwischen Traditionalisten und Karrieristen in der Partei: ein Amt übernehmen, um danach bei den Grünen einzutreten, wird gern genommene Taktik. Während die einen am 1.September zum 30. Mal "Beten für das Meer" (“Lūgšana pie jūras”) zelebrierten (so wie immer), sichern sich die anderen die entscheidenden Posten in der Parteispitze. Anda Čakša und Raimonds Bergmanis, beide bisher Minister und im neuen Parlament jetzt noch als einzige mit einem Parteibuch der "Grünen", stehen beide für den karrierebezogenen Weg. Die Medizinerin Čakša wurde 2016 Gesundheitsministerin, trat im November 2017 bei den "Grünen" ein; Ex-Gewichtheber und "Strongmen"-Kämpfer Bergmanis trat immerhin schon 2014 für die Partei bei Wahlen an. Als dann Raimonds Vejonis, ebenfalls ein Grüner, zum Präsidenten gewählt wurde, rückte Bergmanis als Verteidigungsminister nach. Verblassen also die politischen Erfolge angesichts dieser drei grünen Karrieren? Tavars selbst meint dazu: "Jeder, der neu zu uns kommt, nationalpatriotisch denkt und mit uns erreichen will dass wir nicht vom Osten oder Westen gesteuert werden sondern dass Lettland selbst entscheidet, und für unsere Natur und unser Volk arbeiten möchte, ist bei uns willkommen."(Vides Vestis)

Nicht zum Osten, aber auch nicht zum Westen gehören - ob das die Erfolgsformel ist? Nach ihrem Parteikongress im April waren die Grünen noch zuversichtlich: zusammen mit der Bauernpartei strebe man 30 Mandate an, und wolle gerne auch wieder das Ministerium für Umwelt und Regionales übernehmen (LA 9.4.18). Im Ergebnis sitzt ab sofort nun keiner mit einer langjährigen (nachhaltigen) grünen Überzeugung mehr im Parlament. Aber was soll's? Kritische Stimmen sagen es seit einiger Zeit so: "sie sind grün wie der Dollar, daher werden sie weiter bestehen." (Igors Lukjanovs)

Rigaer Stadtrat rotiert
Für deutsche Lettland-Interessierte vielleicht überraschend ist die Nachricht, dass sich aufgrund der Ergebnisse der lettischen Parlamentswahlen auch die Zusammensetzung der Delegierten im Stadtrat von Riga erheblich ändern wird. Kandidat/innen für politische Ämter versuchen es in Lettland gern mal auf verschiedenen Tickets: klappt es nicht ins Parlament, versuche ich es mal im Stadtrat, und sitze ich schon im Stadtrat, hindert mich nichts es mitten in der Legislaturperiode auch schnell mal ins Europaparlament oder anderswohin zu verabschieden. Nachrücker auf lettischen Wahllisten kommen daher manchmal auch lange nach der eigentlichen Wahl noch zu politischen Ehren.
Öffentlich einsehbar: wie viele Schulden hast Du,
wo liegt Dein Eigentum, welches Auto fährst Du,
Kandidat/in?
Diesmal sind zehn amtierende Stadträte oder Stadträtinnen ins Parlament gewählt worden - das bedeutet, dass ein ganzes Drittel derjenigen, die im Stadttrat gegenwärtig in der Opposition arbeiten, ausgetauscht werden. Bürgermeister Nils Ušakovs wird von einer Koalition seiner Partei "Saskaņa" (Harmonie) mit der Gruppierung "Gods kalpot Rīgai!" ("Es ist eine Ehre Riga zu dienen") gestützt. Von der "Saskaņa" wechselt nur eine Stadträtin ins Parlament, von der Jaunā Konservatīva Partija (Neue Konservative Partei) aber gleich sieben der bisher neun Vertreter/in-nen im Stadtrat ("LA", "Kas Jauns").

Parlament der Autofahrer 
Ebenfalls ungewohnt für deutsche Augen sind die detaillierten Angaben, die jede Kandidatin und jeder Kandidat öffentlich zu seiner Person bekannt geben muss: Grundstücke, Schulden und aufgenommene Darlehen, Details zum Ausbildungsweg und Arbeitsplatz, und sogar die genauen Marken der auf die Kandidatin / den Kandidaten angemelden PKWs sind den Wahlliste präzise zu entnehmen. Und so wissen wir auch jetzt schon, dass von 100 gewählten Parlamentarier/innen genau 30 keine Angaben zu Autos machen (vielleicht fahren sie das ihrer Frau / ihres Mannes?). Unter den übrigen 70 stehen die Besitzer eines Toyota an der Spitze (11), gefolgt von VW (9), BMW (7), dahinter Opel, Mazda, Honda, Mercedes und Volvo (je 5). Ebenfalls 5 bevorzugen ein Motorrad, 3 sogar einen Land Rover. Erstaunlich die Vielfalt der Marken: je ein oder zweimal genannt werden noch Škoda, Saab, Kia, Jeep, Ford, Subaru, Renault, Nissan, Peugeot, Audi, Fiat, Citroen, VAZ/Lada, GAZ, Mitshubihi, Hyundai und Chrysler. Den erstaunlichsten Fuhrpark besitzt der künftige Abgeordnete Ivars Zariņš, der zwischen zwei Wohnung in Sigulda und Riga wechseln kann: gleich drei Motorräder (2x KTM, 1x Honda), zwei Mercedes-PKW und ein "Kvadracikls" (Allrad) nennt er sein eigen. Aber auch Ēriks Pucens aus Kuldiga steht dem nicht viel nach: sein Fuhrpark besteht aus drei Audis, drei VW-Golfs, einem Renault, einem Subaru und zwei Traktoren (die PKWs zumeist etwas älteren Baujahrs).

Wir sehen also: neben dem politischen Ergebnis bietet so eine Parlamentswahl auch immer drumherum genug Gesprächsstoff.

7. Oktober 2018

Neu gewürfelt: sieben auf einen Streich

Dem vorläufigen Wahlergebnis zufolge sieht das Ergebnis der Wahlen zur lettischen Saeima (Parlament) vom 5.10. wiefolgt aus:

Liste 9 - "Saskaņa" - Sozialdemokratische Partei "Harmonie" - 19,8% (23 Sitze)
Liste 15 - "Kam pieder valsts" KPV LV ("Wem gehört der Staat") - 14,25% (16 Sitze)
Liste 2 - Jaunā konservatīvā partija - Neue Konservative Partei - 13,59% (16 Sitze)
Liste 10 - Attīstībai/Par! - Entwicklung / Dafür - 12,04% (13 Sitze)
Liste 4 - Nacionālā apvienība "Visu Latvijai!"-"Tēvzemei un Brīvībai/LNNK" - Nationale Vereinigung - 11,1% (13 Sitze)
Liste 16 - Zaļo un Zemnieku savienībaListe d. Grünen u. der Bauernpartei ZZS - 9,91% (11 Sitze)
Liste 13 - Jaunā VIENOTĪBA - Neue Einigkeit - 6,69% (8 Sitze)

buntes Bild: Zusammensetzung der
frisch gewählten Saeima

Das neue lettische Parlament bilden also Vertreter/innen von sieben verschiedenen Parteien. Drei andere ambitionierte Gruppierungen blieben unter der 5%-Grenze: Latvijas Reģionu Apvienība 4,14% (Verband der Regionen, ehemals 8, momentan noch 7 Sitze im Parlament), "Latvijas Krievu savienība" 3,2%, (Vereinigung der Russen Lettlands), beim vorigen Mal mit 1,58% noch deutlicher abgeschlagen, und die neu gegründeten "Progressiven" mit 2,61%.(Detaillierte Zahlen siehe CVK)

Unentschieden bis zurückhaltend

Auffällig war diesmal, dass jeder Dritte sogar bei der Nachwahlbefragung nicht verraten wollte, welche Partei er / sie gewählt hatte - und so blieben am gestrigen Samstag abend alle Kommentare ohne sicher Grundlage. Wenig aufheiternd auch die niedrige Wahlgeteiligung von insgesamt nur 54,6%.

Eines scheint klar zu sein: niemand kann sich als alleiniger Gewinner fühlen. Einen realistischen Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung hätten die Möchtegern-Sozialdemokraten der "Saskaņa" sicher nur bei einer Prozentzahl nahe der 30% gehabt - statt dessen gegenüber 2014 ein Rückgang um 3,2%, trotz aller großformatiger Werbung mit Bürgermeister Ušakovs.

Regierungschef mit reduzierter
Gefolgschaft: "Helden der
Arbeit"?
Die Nationale Liste (Rückgang -5,5%, 13 statt 17 Sitze), Bauern und Grüne (Rückgang -9,6%, 11 statt 21 Sitze) und die "Neue Einigigkeit", die 2014 noch als "Einigkeit" antrat und damals 15,18% und 15 Sitze mehr errangen - alle drei können froh sein im Parlament vertreten zu sein und damit sich potentiell an einer neuen Regierung beteiligen zu können.

Für Veränderungen - aber in welche Richtung?

Die beiden neu (aus den Resten anderer Parteien) gebildeten Gruppierungen "Neue Konservative" und "Entwicklung / dafür" sehen sich in der Situation, lediglich in etwa gleichauf mit ihren heftig bekämpften Konkurrenten gelandet zu sein. Beide wären sicher gern mehr richtungsbestimmend gewesen: die einen beim Thema Anti-Korruption, aber mit sehr traditionellen Werten, die anderen offen liberal mit dem Willen, aus der Enge des moralinsauren Konservatismus entfliehen zu wollen.

Und die Schauspielerpartei KPV? Wäre ich Parteichef Artuss Kaimiņš, würde ich erst mal suchen, wo die mich filmende Kamera steht, und den Wählerinnen und Wähler fest in die Augen schauen. Schon am Morgen nach der Wahl meinte ein Vertreter dieser Partei im lettischen Radio auf die Frage, mit welchen anderen Parteien nun wegen einer Koalition gesprochen werden soll: "Es kommt nicht auf die Parteien an, sondern auf die Gesellschaft, auf die Menschen!" Wenn das so ernst gemeint ist, wird die KPV einfach das tun, was ihnen die besten Schlagzeilen bringt, wenn sie nur weiterhin scheinbar irgendwen entlarven können, der dem lettischen Staat angeblich Böses will. In einigen Wahllokalen in Irland haben über 60% die KPV gewählt! Da heißt es sehr laut zu schreien, um die eigenen Wählerinnen und Wähler zu erreichen.

Personalwechsel

Zwei bisherige Minister wurden nicht mehr ins Parlament gewählt: Justizminister Dzintars Rasnačs von der "Nationalen Vereinigung" NA und Innenminister Rihards Kozlovskis (Jauna Vienotiba); auch sein Parteikollege Bildungsminister Kārlis Šadurskis ist wahrscheinlich nicht mehr dabei. Alle drei traten im Wahlbezirk Riga an. Kaspars Gerhards, bisher Minister für Umwelt und Regionalentwicklung (NA), stand nicht mehr zur Wahl (Diena).
Nur in Riga bleibt Nils U. weiterhin der Größte

Zumindest einige Leitfiguren haben ihre Position in ihrer Partei gestärkt - durch das lettische Wahlsystem, bei dem jede/r Wähler/in innerhalb der ausgewählten Liste für jede Person auf der Liste plus und minus verteilen kann, wird Beliebtheit und Wählers Rache auch oft gleich sehr deutlich ausgewiesen. 33940 Pluszeichen konnte Vjačeslavs Dombrovskis ("Saskaņa") sammeln - ganz gut für jemand, der vorher für eine ganz andere Partei schon mal Minister war und erst seit wenigen Monaten Parteimitglied ist. Mit ihm als Spitzenkandidat liegt die als "Russenpartei" verschriehene "Saskaņa" nun in Riga über 30%, in ganz Lettland nur bei 20%. Als "Heimatregion" könnte Daugavpils genannt werden, dort liegt die Partei bei 51%.

Bei der KPV.LV ist es umgekehrt: in Riga liegt die Partei unter 10%, in ganz Lettland bei 14%. Starke Region ist Kurzeme, dort liegt die KPV bei 20%. Dazu kommen 35,67% der Auslandsstimmen.

Mit 11376 Pluszeichen auf seiner Wahlliste muss sich der bisherige Premier Māris Kučinskis trösten - vier Jahre zuvor, als vor den Wahlen niemand ahnte Kučinskis könnte Ministerpräsident werden, waren es noch 2302 Plus-, aber auch 2123 Minuszeichen (cvk). Die lettische Presse rechnete schon eifrig, sowohl die Kučinskis-Partei ZZS wie auch die bisher regierende "Jauna Vienotiba" hätten, gemessen an den veröffentlichten Ausgaben für den Wahlkampf, über 40.000 Euro pro tatsächlich erlangtem Mandat ausgeben müssen - haben, oder nicht haben, ist hier wohl die Frage.

Innen und außen

Noch ein Wort zu den Auslandsletten (der "Diaspora"). In Großbritannien beteiligten sich 10.803 Menschen an der Wahl, in Deutschland 3064, in den USA 2423 und in Schweden 2005. Danach folgt Irland mit 1961 abgegebenen Stimmen, Norwegen mit 1934, Dänemark mit 1118, die Niederlande mit 938 und Australien mit 878 (Diena). Auch die Prozentzahlen fallen im Ausland anders aus: 35,67% für die KPV, 15,26% für "Attīstībai/Par" und 6,07% für die "Progressiven". Dagegen nur 6,45% für "Saskaņa" und nur 2,9% für Bauernpartei und Grüne.

Wie lange nun die Parteien für eine Einigung auf Gemeinsamkeiten für ein Regierungsprogramm brauchen werden, ist völlig offen. Präsident Vejonis hat ja laut Verfassung die Aufgabe einer Kandidatin oder einem Kandidaten, der/dem eine Regierungsbildung zugetraut wird, damit zu beauftragen. Er hat angekündigt, sich dafür zwei Wochen Zeit nehmen zu wollen. Auch diese Frage - wer die nächste Regierung führen wird - ist trotz bereits lange andaurernder Diskussionen darüber noch völlig offen.

5. Oktober 2018

Erst Irland, dann Weltspitze

Sanita Pušpure
Der Name Sanita Pušpure ist vor allem in der Welt des Rudersports bekannt. Ihre erste Medaille gewann sie bereits 2003 bei den U23-Weltmeisterschaften. Eigentlich ist die 1981 geborene Lettin für kaum etwas anderes öffentlich bekannt als für ihre Rudererfolge. Doch seit dem 16. September 2018 ist es ein wenig anders: dank Sanita Pušpure wurden die Ruder-Weltmeisterschaften 2018 im bulgarischen Plowdiw die erfolgreichsten überhaupt, für ... Irland. Der bisherigen Weltmeisterin Jeannine Gmelin aus der Schweiz blieb im Einerrennen der Frauen nur der zweite Platz (20min).

Eine Lettin in Irland - keine Seltenheit. Tausende hat es ja auf der Suche nach Arbeit dorthin gezogen. Sanita Mikilpe-Mikgelbe, so der Mädchenname der Sportlerin, begann im Alter von 15 Jahren mit dem Rudern.Zunächst in Majori / Jūrmala, dann am Sportgymnasium Murjāņi.

Ruderin Sanita mit Familie
Eigentlich sollte es dann ein Trainingsaufenthalt in den USA werden - doch Sanita traf ihre große Liebe, Kaspars. Neue Perspektiven waren notwendig. "2006 beschlossen wir unsere finanzielle Situation etwas aufzubessern und in Irland Arbeit zu suchen," berichtet Sanita der lettischen Presse. "Anfangs dachten wir, nur für ein Jahr. Aber als dann unsere Kinder in Irland geboren wurden, haben sich auch die Pläne geändert." (sporto)

Angeblich war es Zufall, dass Sanita nach der Geburt der beiden Kinder Daniela und Patriks plötzlich den irischen Ruderclub an der Islandbridge entdeckte, und wieder mit dem regelmäßigen Training begann. Die Familie zog um nach Cork, wo ein Ruder-Trainingszentrum in der Nähe war. Doch ein gutes Rennboot kostet so um die 6000 Euro. Bei den "Old Collegians" hatte ein Clubveteran ein Boot gekauft, und erlaubte Sanita es zu benutzen. Nun war auch der Entschluß gefallen, nur noch im Einer zu starten. Auch die lettische Trainerin Elita Krūmiņa wurde zur Unterstützung zweitweise nach Irland geholt - denn im Gegensatz zu Lettland sind im Winter in Irland nicht alle Flüsse und Seen zugefroren.

2009 zum ersten Mal irische Meisterin im Einer, startete Sanita Pušpure ab 2010 für Irland, 2011 nach dem Erwerb der irischen Staatsbürgerschaft auch bei internationalen Meisterschaften. 2014 und 2016 gewann sie bei den Europameisterschaften jeweils Bronze.

Und nun - im Alter von 36 Jahren endlich an der Weltspitze angekommen.  Gefeiert wird die Ruderin von der Presse in beiden Ländern (Irish Examiner, RTE, Irish Times, Sporta Ziņas, Lsm). Die lettische Sportpresse konnte sich allerdings nicht verkneifen, auf einen Fehler der irischen Sportministerin Ross hinzuweisen, die in einer Pressemitteilung Frau "Dominant Puspure" zum Sieg gratuliert hatte - und damit offenbar einer Schlagzeile der irischen Presse gefolgt und die Siegerin mit einem falschen Vornamen versehen hatte (sportacentrs). - Ein wenig Neid ist also vorhanden. Die Schlagzeile "eigentlich kennen wir unsere Sanita doch besser" war unschwer herauszulesen (youtube).

Tja, zehn Jahre Irland - und die Irinnen und Iren kennen immer noch nicht deinen Namen - so sollte die Botschaft wohl heißen. Jedenfalls ein ganz neues Gefühl für Lettland - eine Lettin gewinnt, aber im Medaillenspiegel hilft es nichts. Im Rudern muss ja ein Alter von 36 Jahren auch noch nicht unbedingt das Ende sein. Gewinnen in Grün, oder in Bordeaux-Rot, Ruderin Sanita sagte es so: "Die unsichtbaren Kräfte in meinem Boot, das sind mein Mann und meine Kinder!"