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29. Oktober 2024

Mehr als ein 0:1

Was Sportbegegnungen zwischen Lettland und Deutschland angeht, so sind vor allem Basketball und Eishockey im Gedächtnis deutscher Sportfans: als Deutschland 2023 überraschend Weltmeister im Basketball wurde, gab es im Viertelfinale den "Thriller in Manila", den knappen 81:79 Sieg Deutschlands, mit einem verworfenen Dreier der Letten in letzter Sekunde. Und obwohl im Eishockey meistens Deutschland bei den Länderspielen gegen Lettland die Oberhand behält (eine WM-Begegnung gewann Lettland zuletzt 2012), sind es doch immer Spiele auf Augenhöhe. Als 2023 Deutschland sensationell Eishockey-Viceweltmeister wurde, gewann Lettland - mindestens ebenso sensationell - die Bronzemedaille

Bollwerke und Zwerge

Aber Fußball? Wer alt genug ist, sich zu erinnern, muss vielleicht an "Rumpelfußballer", ein Begriff der um die Jahrtausendwende herum aufkam, denken. Und beim 0:0 im Spiel gegen Lettland bei der EM des Jahres 2004 schien nichts besser geworden zu sein. "Gescheitert am lettischen Bollwerk", so schrieb der "Spiegel" damals. "Blamage" war wohl eine häufig verwendete Vokabel für die Leistung der Deutschen, galt doch Lettland als "Fußball-Zwerg" (sport1). Im Vorfeld des Spiels war Torhüter Oliver Kahn als "Viertel-Lette" bezeichnet worden, was einigermaßen Aufsehen erregte (Kahn: "Meine Großmutter ist Lettin und mein Vater wurde dort geboren“). Teil der lettischen Mannschaft damals: der lettische Rekord-Nationalspieler Astafjevs ebenso wie Stürmer Māris Verpakovskis, von dem es hieß, dass er die deutsche Abwehr "in Angst und Schrecken versetzte". 

Rigas Schule für Europa

Bankett für die Gäste: die lettische Fußball-Delegation in Frankfurt

Nun spielt also eine lettische Mannschaft aus Riga in der UEFA Europa League - und wer die drei Buchstaben RFS aufzulösen und zu deuten vermag, wird es mit "Rigas Fußball-Schule" übersetzen. Also ein Nachwuchs-Team? Eigentlich nicht. Wichtig vielleicht der Unterschied zwischen "RFS" (Rigaer Fußballschule) und FK RFS (Fußball-Klub Rigaer Fußballschule). Und wer ist Generaldirektor beim lettischen Europaleague-Teilnehmer? Der "alt bekannte" Māris Verpakovskis. "Uns fehlt natürlich noch ein wenig die Erfahrung, in solchem Rahmen und vor solchem Publikum zu spielen", gibt er zu (IR). So ging das erste Spiel in Bukarest mit 1:4 verloren, aber beim Heimspiel gegen Galatasaray aus der Türkei wurde immerhin ein 2:2 Unentschieden erreicht (kicker). Und zu Gast bei Eintracht Frankfurt "nur" 0:1 zu verlieren, erscheint ebenfalls als sehr respektable Leistung. 

Seltene Gelegenheiten

Schon 15 Jahre ist es her, dass ein lettischer Klub in der UEFA-Europa-League spielen konnte - damals war es FK Ventspils (der inzwischen, nach einigen Skandalen, nicht mehr existiert). 2009 gab es noch eine Aufteilung in Gruppen, und Ventspils spielte unter anderem einmal Unentschieden gegen Hertha BSC.  Der "Kicker" schrieb als Spielbericht: "Viel Krampf, wenig Spektakel: den biederen Letten genügten die Grundtugenden, um indisponierte Berliner in Schach zu halten." Die "BILD" schrieb von "lettischen Nobodys". 

Nach dem Spiel von RFS gegen Frankfurt fallen die Berichte doch etwas anders aus, und es wurde sorgsam registriert, dass 56.600 Zuschauern im Stadion waren (die größte Zuschauermenge, vor der RFS bisher je gespielt hatte), und dass auch 600 Letten dabei waren (RFS).Und, siehe da: auch von einem "lettischen Bollwerk" war wieder die Rede (sportschau). Fünf Millionen Euro habe RFS allein schon für das Erreichen der Europa-League von der UEFA eingenommen, verrät Manager Verpakovskis, und für ein Unentschieden gibt es immerhin noch einmal 150.000 Euro (IR)

Homeground im Winter

Spezielle Vorbereitungen wird der Rigaer Fußballklub unternehmen müssen, um laut UEFA-Spielplan am 23. Januar 2025 das Europaleague-Spiel gegen Ajax Amsterdam in Riga austragen zu können. Im Stadion Daugava in Riga sei kürzlich aber eine Rasenheizung verlegt worden, die Ende November in Betrieb gehen werde, meint Verpakovskis. Zusätzlich wolle man den Platz rechtzeitig vorher gegen Schnee abdecken (IR). Die UEFA-Regeln schreiben vor, dass gespielt wird, solange die Außentemperatur nicht unter -15 Grad fällt. In der obersten lettischen ersten Fußball-Liga (Virsliga) dauert der Spielbetrieb in der Regel von Mitte März bis Anfang November - aktuell führt Rīgas FS zwei Spieltage vor Schluß die Tabelle mit sechs Punkten Vorsprung an (Kicker).

Was wird passieren, wird Verpakovskis gefragt, wenn trotz aller Mühen ein Fußballspiel in Riga im Januar nicht möglich sein wird? - Wir schauen uns schon nach Möglichkeiten in Tallinn oder Vilnius um, so die Antwort. "Und wenn das nicht geht, spielen wir in einem anderen neutralen Land." Und dann erinnert sich der Ex-Goalgetter doch tatsächlich an die Qualifikationsspiele zur Teilnahme an der Europameisterschaft 2004. "Da haben wir ein Länderspiel in Riga gegen die Türkei Mitte November gehabt. Der Boden war gefroren, das kannten die Türken nicht". Lettland gewann 1:0, das Rückspiel endete 2:2. Torschütze in beiden Spielen: Māris Verpakovskis. (IR)

22. Juli 2024

Nur Händchen halten

Es ist vielleicht schwer sich vorzustellen: ich gehe mit meiner Freundin Hand in Hand durch den Park, es sind romantische Stunden, wir genießen die Zweisamkeit. Plötzlich raunzt uns jemand grob von der Seite an und versetzt uns einen Fußtritt - mit der bloßen Begründung, seine Gefühle seien verletzt, wenn wir so offen unsere Liebe zeigen. Schließlich droht er uns auch noch einen Faustschlag zu versetzen. Was ist zu tun? Vielleicht die Polizei zu Hilfe rufen? 

Gnade für Agression

Ähnliches passierte tatsächlich am 8. November 2020 in Riga. Allerdings: es waren in diesem Fall zwei Männer, die sich "Händchen haltend" und in inniger Umarmung in der Öffentlichkeit zeigten. Die herbeigerufene Polizei befragte den Angreifer auch nach den Gründen für sein Tun; dieser erklärte offen, er habe durch das Verhalten der beiden Männer auf deren sexuelle Orientierung geschlossen und sich durch deren offene Zurschaustellung beleidigt gefühlt.
Er gab sogar zu, die beiden Männer böse beschimpft und körperlich angegangen zu haben, so dass sich der Bedrängte in einen Blumenladen flüchten und die Eingangtür von innen zuhalten musste. - Sechs Monate später stellte die lettische Polizei die Untersuchungen ein und stufte das Vergehen lediglich als Ordnungswidrigkeit ein, verbunden mit einer Geldstrafe von 70 Euro (lsm). Der Beschuldigte akzeptierte das Strafmaß. (siehe: Urteil Europäischer Gerichtshof)

Kein Versteckspiel

Der Angegriffene legte gegen diese Entscheidung Beschwerde bei der zuständigen Staatsanwaltschaft ein und verlangte eine Verurteilung gemäß Abschnitt 150 des lettischen Strafgesetzbuchs. Dort ist festgelegt, dass schüren von Hass oder Feindschaft aufgrund des Geschlechts, des Alters, einer Behinderung oder anderer Merkmale einer Person strafbar ist. Interessant ist nun die Begründung der lettischen Staatsanwaltschaft: diese Paragraphen könnten nicht zur Anwendung kommen, da sich ja die Taten des Angeklagten nur gegen eine bestimmte Person gerichtet habe - auch der Partner war anwesend, wurde aber nicht attaktiert. Weitere Personen seien ja nicht dabei gewesen, daher sei der Vorgang auch nicht als allgemeiner Hass gegen sexuelle Minderheiten zu bewerten gewesen.

Nun ja - sei es, wie es sei. In diesem Fall war der Leidtragende kein Unbekannter: es ist Deniss Hanovs, seines Zeichens Kulturwissenschaftler und Professor an der Kunstakademie Lettlands in Riga (RSU).  Wissenschaftlich erfahren, und kundig im Bereich der Menschenrechte. Logisch, dass er sich keineswegs mit plumpen Entschuldigungen zufrieden geben wollte.

Am 18.Juli 2024 fand der Streitfall seine Entscheidung vor dem Europäischen Gerichtshof, denn Hanovs bestand darauf, dass der lettische Staat angemessenen Schutz vor homophoben Angriffen gewähren muss - auch, indem eine wirksame Strafverfolgung von Tätern sichergestellt wird. Der Gerichtshof verurteilte den Staat Lettland zu einer Zahlung von 10.000 Euro an Hanovs - den Betrag will er einem Kinderkrankenhaus in Kiew (Ukraine) spenden (lsm)

3. Juli 2024

Reiseabenteuer - Zug für Zug

Für ältere Westdeutsche mag es vielleicht langweilig klingen - oder sogar wie ein Rückblick auf die 1970iger oder 1980iger Jahre. Zitat Wikipedia: Es entstand im Kontext einer Zeit, "in der die klassischen Familien- und Pauschalreisen, die sich in Europa während der 1950er und 1960er Jahre etabliert hatten, von jungen Menschen der 68er-Bewegung in Frage gestellt wurden ..."
1972 kam eine gemeinsame Fahrkarte verschiedener europäischer Eisenbahngesellschaften in den Verkauf.  Begründung, ebenfalls bei Wikipedia abgeschaut: um dem aufkommenden Rucksacktourismus von jungen Leuten bis 21 Jahre eine preisgünstige Möglichkeit bieten, Europa kennenzulernen. Vielleicht auch, um die vielen "Tramper" ("Anhalter") am Straßenrand nicht ohne Alternative zu lassen. 

In der Verlosung

Na klar, es geht um "Interrail". Anfangs waren sogar DDR und Polen dabei - die stiegen aber schon 1973 wieder aus. Inzwischen ist das Ticket nicht mehr ganz so preisgünstig wie damals - aber immerhin werden derzeit jedes Jahr Tausende Interrail-Pässe an 18-Jährige verlost (siehe: DiscoverEU). Der aktuellen Auswertung zufolge (siehe "factsheet") liegen bei der Zahl der jungen Antragsteller/innen die Länder Deutschland, Italien und Spanien weit vorn; viele Bewerbungen gibt es auch aus der Türkei, Frankreich, Polen, Schweden und den Niederlanden. Aus Lettland gab es 2024 nur 925 Antragsteller/innen, 152 davon hatten Erfolg. (Litauen 1229 / 224, Estland 446 / 107). 

Familienunternehmen

Kennt man in Lettland etwa nur die "Billigflieger"? Wohin könnte man denn mit einem Zug, der in Lettland mit relativ geringem Durchschnittstempo dahintuckert, reisen? Lettland ist erst seit 2020 dem Interrail-System angeschlossen - also für die Einwohner/innen des Landes ein ziemlich neues Angebot. (LA)
In der lettischen Zeitschrift "IR" findet sich nun ein Erlebnisbericht einer Familie Bergmani wieder, die drei Wochen Reisen mit "Interrail" als "Abenteuer fürs Leben" bezeichnet. "Ein wenig habe ich mich an die Träume meiner Jugend erinnert", gibt Frau Bergmane zu. Auch die beiden Töchter der Familie, 11 und 8 Jahre alt, seien sofort begeistert gewesen. Und Herr Bergmanis meint: "Ich dachte: wenn wir das überleben, wird unsere Ehe nichts mehr erschüttern können!"

Die Preise für Interrail-Pässe fielen günstig aus - denn für Kinder unter 12 Jahren sind sie kostenlos. Entschieden habe man sich dann für eine Monatskarte, die sieben Reisetage beinhaltet. Und innerhalb drei Wochen ist die Familie dann in Polen, Ungarn, Kroatien, Slowenien, Österreich, Schweiz, Deutschland und Lettland gewesen. Ewas Übung habe die Planung der Übernachtungen verlangt: Zimmer nur mit kurzfristiger Stornierungsmöglichkeit vorbestellen, und darauf achten, dass der Direktontakt zum Hotel manchmal besser ist als sich nur auf große Buchungsportale zu verlassen. Und natürlich: nicht so viel Gepäck mitnehmen, denn zwischendurch muss immer mal wieder mit Gepäck zu Fuß gegangen werden. Das wichtigste also: bequeme Schuhe! 

Planung mit Adrenalingehalt

Soweit lesen sich diese Erfahrungen vielleicht ähnlich wie Reiseberichte von Deutschen. Für eine lettische Familie mag es aber neu sein, wenn es hier über das Zugfahren heißt: "Im Allgemeinen macht Zugreisen Spaß. Man kann nie ganz sicher sein, ob man pünktlich oder überhaupt ankommt. An manchen Stellen kann man gar nicht wissen, ob man auf dem richtigen Bahnsteig steht, denn die Informationen werden meist in einer uns fremden Sprache verkündet." In Kroatien habe es überhaupt keine Lautsprecherdurchsagen gegeben, und auch der Versuch mit "Google Maps" den Aufenthaltort herauszufinden, sei gescheitert. 

Den richtigen Bahnsteig finden

Für die beiden Töchter sei es eine gute "Lebensschule" gewesen. Gefragt seien Anpassungsfähigkeit, Kreativität und logisches Denken. Den richtigen Bahnsteig finden - auch schon mal eine Übung für die Kinder. "Ich war überrascht, dass es in jedem Land nicht nur unterschiedliche Kulturen, sondern auch eine völlig andere Infrastruktur für die Bahn gibt," meint Frau Bergmane. "Ich dachte vorher: Züge sind Züge, überall gleich. Aber ich kann nur raten, die Zuginfrastruktur jedes Landes zu studieren und in den Foren Rezensionen über die Züge, die Genauigkeit ihrer Abfahrtszeiten und andere Nuancen zu lesen." 

Deutsche Leser/innen werden vielleicht gespannt darauf warten, was eine lettische Familie über Bahnfahren in Deutschland sagt. "Wer nicht mit dem Kopf auf dem eigenen Rucksack auf dem Bahnsteig schlafen möchte, sollte Länder auswählen, die für bequeme Züge und Pünktlichkeit bekannt sind", meint Frau Bergmane. Als bestes Beispiel dafür nennt sie ... die Schweiz. "Die Züge kommen und fahren so präzise, ​​dass man die Uhr danach ausrichten kann." (IR)

10. Juni 2024

Das sind die neun

Diese neun Abgeordneten (acht Männer, eine Frau) werden Lettland im Europaparlament vertreten:

Valdis Dombrovskis ("Jaunā Vienotība")
Sandra Kalniete ("Jaunā Vienotība")
Roberts Zīle (Nacionālā apvienība)
Rihards Kols (Nacionālā apvienība)
Nils Ušakovs ("Saskaņa")
Ivars Ijabs ("Latvijas attīstībai")
Reinis Pozņaks ("Apvienotais saraksts")
Mārtiņš Staķis ("Progresīvie")
Vilis Krištopans ("Latvija pirmajā vietā")

(lsm) Die Wahlbeteiligung lag im Landesdurchschnitt bei 33,82% und war in den verschiedenen Landesteilen unterschiedlich hoch: während in Vidzeme 44,44% der Wahlberechtigten von ihrem Wahlreicht Gebrauch machten, waren es in Riga nur 26,68%, in Latgale nur 24,9%. (cvk)

Die prozentualle Stimmenverteilung der Parteien: 

Jauna Vienotība 25,07% (2 Abgeordnete)
Nacionālā apvienība "Visu Latvijai!" 22,08% (2 Abgeordnete)
"Latvijas attīstībai" 9,36% (1 Abgeordneter)
"Apvienotais Saraksts- Latvijas Zaļā partija, Latvijas Reģionu Apvienība, Liepājas partija" (1 Abgeordneter) 8,18 % (1 Abgeordneter)
"Progressīvie" 7,42% (1 Abgeordneter)
"Saskaņa" sociāldemokrātiskā partija 7,14% (1 Abgeordneter)
Latvija pirmajā vietā 6,16% (1 Abgeordneter)


28. Mai 2024

Nie wieder Eurovison?

Es geschieht nicht zum ersten Mal, dass Abstimmungen auf dem lettischen Portal "Manabalss" ("Meine Stimme") Schlagzeilen erzeugen. Ob für den Erhalt kleiner Schulen auf dem Lande, für ein Verbot der Luchsjagd, für Einführung eines Pfandsystems für Getränkeflaschen oder für ein Verbot von Kahlschlägen in lettischen Wäldern. Momentan wirbt eine Initiative um Beteiligung, die auch international für Verwunderung sorgt: nie wieder lettische Beiträge für die Eurovision! 

Zweifelhaft und unanständig?

Immerhin über 11.000 Unterstützende hat die Initiative schon gefunden. Gefordert wird die Beendigung der Teilnahme Lettlands am Eurovision Song Contest. Begründung: "Es ist sehr zweifelhaft, ob diese Maßnahme das Image und den Ruf Lettlands erheblich verbessert. Menschen, die dort teilnehmen, neigen dazu, sich obszön verhalten, und dies wird auch als Norm beworben." 

Obszön? Der im Original verwendete Begriff "piedauzīgi" wird auch mit "anstößig", "unanständig" oder "abstoßend" übersetzt. Also ein Moralapostel? Eine Idee, wie die frei werdenden finanziellen Mittel verwendet werden sollen, liefert Kristaps Bogdanovičs, der Autor der Eingabe, gleich mit: für den Sport (und für Biathlon im besonderen). Im Sport seien mehr "positive Beispiele für junge Leute" zu finden. An Doping dachte er dabei wohl offenbar nicht.

Internationales Aufsehen

Inzwischen erregen die lettischen "Sportfans" auch international Aufsehen. "Lettland 2025 nicht dabei?" fragen griechische und irische Eurovisions-Fans. Allerdings wird dort das Bogdanovičs-Zitat abgewandelt: statt von "sich abszön benehmen" ist jetzt von "behave wildly" die Rede. Beim litauischen LRT wie auch beim "Baltic News Serive" (BNS) wird es schon zur Staatsaffäre, denn hier ist die Überschrift "Lettland überlegt Ausstieg aus der Eurovision".Da die Initiative über 10.000 Unterstützer/innen hat, ist eine Beratung des Anliegens im lettischen Parlament vorgesehen - aber die steht bisher noch aus.

Wer ist Kristaps Bogdanovičs? 2014 ist dieser Name auf der Liste der "Jaunā konservatīvā partija" JKP fürs lettische Parlament (cvk) zu finden. Aber die JKP erreichte damals lediglich 0,7%, und Bogdanovičs bekam auf dieser Liste von 32 Kandidat/innen die zweitwenigsten Stimmen (cvk). 

... als Kaupers fast wie "Cowboy" klang:
früher war alles besser?

Tugendhafte Kritiker?

Nun also scheint er seine "Fans" gefunden zu haben (oder sollten wir "Anti-Fans" sagen?). Lettlands Teilnahme an der Eurovision kostete 2023 166 000 Euro, rechnet das Portal "Jauns.lv" nach. Die "Latvijas Avize" bringt auch die Aussage von Bogdanovičs, es sei verrückt, wenn der lettische Biathlon-Verband Spenden sammeln müsse um im Weltcup oder bei einer WM auftreten zu können. "Da ist Sport doch mit Sicherheit wichtiger als die Eurovision!" 

Und in einem weiteren Beitrag darf Jāzeps Baško das schildern, was er "die Gedanken einfacher Leute beim Betrachten der Eurovision" nennt. "Ich verfolge die Eurovison schon seit den Zeiten von 'Prāta Vētra' "; schreibt er (das war 2000 Platz 3, siehe Youtube). Baško bezeichnet die Eurovision als "europäische Schwulenparade" und meint, die "LGBT-Flagge" werde hier kräftiger geschwenkt als die Flaggen der teilnehmenden Länder. Dann folgt Bildhaftes: "Eurovision ist eine Veranstaltung der demokratischen Diplomatie. Es ist wie ein Zweikammerparlament, in dem das einfache Volk und die oberen Ränge über die Beziehungen zu den Nachbarländern abstimmen."

Oha, hier wird die Eurovision aber richtig ernst genommen! Originalton Baško: "Putin, die Chinesen und Muslime reiben sich die Hände. Europa ist noch attraktiver, als man es sich vorstellen kann. Es gibt Boden, den es zu kultivieren und wo es Ordnung zu schaffen gilt." (LA) Lobend erwähnt Baško die Beiträge von Frankreich und Israel (ohne nähere Begründung). 

Eurovisions-Fans wehren sich

Denken alle in Lettland so? 2023 machte der lettische "Künstler- und Produzentenverband" ("Latvijas Izpildītāju un producentu apvienības LaIPA") seine ausdrückliche Unterstützung für lettische Teilnehmer/innen bei der "großen Eurovision" öffentlich - die unterstützte Band "Sudden Lights" schied allerdings als elfte schon im Halbfinale aus. Auch 2024 unterstützte die LaIPA "Dons" aus Lettland speziell bei der Werbung für seinen Song schon vor dem Tag des Eurovisionsfinales - und hat vor, Ähnliches auch noch mindestens bis 2026 zu tun. (eurovoix) Der Verband erinnert auch daran, dass 2002 Lettland überhaupt nur deshalb teilnehmen konnte, weil Portugal sich zurückgezogen hatte - und in der Folge dann "Mari N" ("I wanna") gewann, als große Überraschung. 

Der zuletzt erfolgreichste lettische Beitrag zur
Eurovision: Aminata belegte 2015 mit "Love injected"
Platz 6

"Lettland muss sich wegen seiner Teilnahme an der Eurovsion nicht schämen - auch wenn die Finanzierung dieser Teilnahme eher amateurhaft ausfällt", so das Ergebnis einer Expertenrunde aus dem Jahr 2018, in einer Zeit, als Lettland nicht einmal mehr das Finale erreichte (2009 bis 2014, sowie 2017 bis 2023 wurde immer das Finale verpasst). Den damaligen Analysen zufolge gibt es drei Varianten für möglichen Erfolg: erstens eine gute Show auf der Bühne zu zeigen, oder zweitens "irgendwie anders zu sein", oder drittens auf Spezialeffekte zu verzichten und einen Künstler mit Charisma zu nehmen. (lsm)

An einer Antwort auf Kritiker Jāzeps Baško versucht sich Journalist Karlis Streips: "166.000 Euro sollen zu viel sein? Weiß Herr Baško eigentlich, wie viel Geld unser Land ausgegeben hat, damit der lettische Basketballverband dieses Jahr ein Olympia-Qualifikationsturnier veranstalten kann? Etwas mehr als zwei Millionen Euro." Dem wäre hinzuzufügen, dass es auch im Beachvolleyball ein Olympia-Qualifikationsturnier in Lettland gab - mit 400.000 Euro aus lettischen Steuergeldern (sportazinas)

Selbstbewußtsein und Menschenrecht

"Und ich kann mich auch nicht erinnern, dass sich irgendjemand aus Lettland bei seinem Auftritt bei der Eurovision 'obszön' verhalten hätte," fährt Streips fort, "Dons kann es ja nicht gewesen sein." Und seine Schlußfolgerung ist: "Ich verstehe, dass wir Letten ein so sehr, sehr tugendhaftes Volk sind. So tugendhaft, dass Dinge wie Lesben, Transgender und andere „Perverse“ nichts für uns sind. Aber wir leben immer noch im Jahr 2024 und in Europa, wo die universelle Natur der Menschenrechte weithin anerkannt ist. Auch für Schwule. Auch für Trans-Menschen." (LA)

Lolita Tomsone bezeichnete in einem Beitrag für das lettische Kultuportal "Satori" die Eurovision als "politmusikalischen Karneval". Bei der Eurovision habe "jede/r nur drei Minuten Zeit, um die ganze Welt zu überraschen." 

Lettische Zuschauer des deutschen Fernsehens verteidigten den lettischen Beitrag übrigens vehement. Als Moderator Thorsten Schorn beim Vorentscheid "Dons" als "Schlumpf, der seine Mütze verloren hat" titulierte, musste er sich mit Protestzuschriften auseinandersetzen. Ein paar "nette Letten" hätten sich beschwert, gab Schorn dann während der Finalmoderation zu. Offenbar waren es nicht wenige.

30. Januar 2024

Zwischenstudien-Aufenthalt

Der Anteil von Studierenden aus dem Ausland beträgt in Lettland immerhin 14%, so berichtete es die lettische Fernsehsendung "De Facto" (lsm) Das sind im Lehrjahr 2023 / 24 insgesamt fast 11.000 Auslandsstudierende (10.801). Aber nur selten bleibt von diesen Tausenden mal einer oder eine nach dem Studium in Lettland. 

Die aktuelle Liste der Herkunftsländer (Stand 10/23):

Indien – 2676
Uzbekistan – 1266
Schweden – 896
Ukraine – 842
Deutschland – 759
Šri Lanka – 696
Russland – 498
Finnland – 496
Türkei – 325
Azerbaidschan – 240
Norwegen – 222

Durchschnittlich 14% also. (LVPortal) Aber einige lettische Hochschulen sind erfolgreicher beim Einwerben von Studierenden aus dem Ausland: bei der Wirtschaftshochschule "Turība" sind es sogar 40%. "Studieninteressierte entscheiden sich nicht nur für Studiengänge und alles drumherum, sondern auch für die Länder, in die sie gehen.“ So sieht es Imants Bergs, Vorstandsvorsitzender bei „Turība“.

"Für Kanada hat es nicht gereicht, da habe ich Lettland gewählt", so Jogešs aus Indien, der an der Rigaer Technischen Universität (RTU) studiert. Den Angaben des zuständigen lettischen Ministeriums zufolge entschieden sich die meisten ausländischen Studierenden für den Bereich Sozialwissenschaften, Handelswissenschaften und Recht (4190), gefolgt von Gesundheitswesen und Sozialfürsorge (3075) und dann Naturwissenschaften, Mathematik und Informationstechnologien (1461).
"Bei uns wählen die Studierenden in erster Linie Ingenieurwissenschaften, Computersysteme und dann Wirtschaftsprogramme", so sagt Zane Purlaura-Poriņa, an der RTU zuständig für die internationale Zusammenarbeit. 

Selten bleibt jemand da

Studierende aus Deutschland, aber auch aus Schweden, Finnland, Italien und Norwegen sind meist an einem Medizinstudium in Riga interessiert. Bei den Studierenden aus Deutschland zeigt sich zudem noch eine andere Tendenz: sie kehren nach Deutschland zurück, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet (z.B. auch: Fortsetzung des Studiums). (lsm)

Nach Angaben des lettischen Amtes für Staatsbürgerschaft und Migration (Pilsonības un migrācijas lietu PMLP) bleiben nur etwa 500-600 ausländische Studierende nach ihrem Studium in Lettland. Meist aus privaten Gründen. Und auch deshalb, weil vielen die Wahl einer beruflichen Karriere in einem neuen Land leichter fällt, wenn die Landessprache dort Englisch ist. Angeblich liegt die Zahl derjenigen ausländischen Studierenden, die ihr Studium mit Diplom abschließen, bei 50-80%. Dennoch brechen auch einige wegen fehlender Finanzmittel ihr Studium wieder ab. (lsm)

Studierende als Streitobjekt

Doch offenbar gibt es beim Thema der Studierenden aus dem Ausland nicht nur positive Reaktionen. Es gibt Befürchtungen von Parlamentsabgeordneten wie des ehemaligen Verfassungrichters Gunārs Kūtris, dass sich hinter Personen die Studiengebühren bezahlen einfach Arbeitsmigranten verstecken könnten.

Studierende dürfen in Lettland 20 Stunden pro Woche, in den Semesterferien bis zu 40 Stunden pro Woche arbeiten. (lsm) Ein relativ hoher Anteil ausländischer Studierender kommt aus Ländern außerhalb der EU, also zum Beispiel Indien, Uzbekistan, Sri Lanka. Es gibt sogar noch fast 500 Studierende aus Russland, die schon vor Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine ihr Studium begonnen hatten. "Gaststudierende oder Gastarbeiter"? So fragte ein Beitrag im Portal LSM. Anlässlich eines Treffens mit Parlamentariern verteidigen sich Hochschulverteter: nein, diese Studierenden seien tatsächlich zum Studieren gekommen. "Etwa 80% des Unterrichts finden bei Anwesenheit der Studierenden statt, da gibt es gar keine Zeit um noch zu arbeiten", sagt Toms Baumanis, Vizerektor der "Rīgas Stradiņa universitāte" (RSU). Außerdem würden ja auch Studiengebühren erhoben. Und wenn jemand exmatrikuliert werde, dann bekomme das Migrationsamt PMLP innerhalb von zwei Wochen darüber eine Nachricht. 

Steigende Anfragen

Unabhängig davon, wie studierende Gäste aus vielen Ländern aus lettischer Sicht bewertet werden, das Interesse am Studium in Lettland steigt. So vermeldet zum Beispiel die Rigaer Technische Universität (RTU) im Jahr 2023 mit 3700 Studieninteressierten so viele Anfragen wie nie zuvor in ihrer Geschichte (tv3). Es gibt Schätzungen, denen zufolge Studierende aus dem Ausland auch schon in vor-pandemischen Zeiten etwa 300 Millionen Euro nach Lettland einbrachten. Nun müssen sich die Entscheidungsträger/innen nur noch entscheiden, ob sie diese Entwicklung willkommen heißen - oder eher nicht.

15. Januar 2024

Geschmack und Gefallen - und die Suche danach

Lettische Tourismusverantwortliche sind irritiert: gilt es doch durchaus als angesagt, Gästen regionale kulinarische Spezialitäten zu präsentieren. Erst vor wenigen Wochen hatte der "Guide Michelin" zum ersten Mal einem Restaurant in Lettland einen Stern verliehen - was ganz Lettland voller Stolz vermeldete (Max Cekot). 150.000 Euro hat das gekostet, könnte man vielleicht sagen - denn mit dieser Summe hatte die Investitions- und Entwicklungsagentur Lettlands das Michelin-Projekt "Analyse des gastronomischen Potentials in Lettland" unterstützt (lsm). Vom stolzen lettischen Sternekoch Maksims Cekots, dessen Resultate bei Michelin mit "überraschend raffiniert" bezeichnet werden und der auch schon in New York, London und Paris gelebt hat (IR), ist folgendes Lebensmotto überliefert: Wenn Du etwas tun willst, mach es besser als andere, und wenn Du nicht weißt wie, dann lerne von den besten." (delfi)

Sterne und Rankings

Aber wo die einen schon Lettland als neues Gourmet-Paradies sehen, schocken andere die lettischen Traditionalisten mit Hitlisten der "am schlechtesten schmeckenden Speisen". Das Bewertungsportal "TasteAtlas" gewinnt seine Anziehungskraft offenbar vor allem dadurch, dass dort hemmungslos regionale Spezialitäten abgewertet werden können. Und bei den "13 schlechtesten lettischen Speisen" steht was ganz vorn? Ausgerechnet "Sklandrausis", sozusagen der "Stolz Kurlands", wie in Deutschland vergleichsweise Nürnberger Lebkuchen, Thüringer Bratwurst oder Schwäbische Spätzle. "Sklandrausis" ist neben Johanniskäse und Roggenbrot als garantiert traditionelle lettische Spezialität von der EU geschützt (EAmbrosia). 

Wer kennt schon lettische Spezialitäten? So versuchen verschiedene lettische Portale das "Möhren-Kartoffel-Sauerrahm-Törtchen" der Sklandrausis zu bewerben. "Latvianeats" stellt es in eine Reihe mit Champagner, Gorgonzola und Camembert. "Latvianfood" stellt "unverwechselbarer Geschmack durch die einzigartige Kombination der Zutaten" heraus. Und bei "Latviansonline" lernen wir den Unterschied zwischen "skland" und "rausis". 

Tradition und Massengeschmack

Und nun das! "TasteAtlas" identfiziert den "Roggen-Karotten-Pie" (rbb) als schlechtestes Gericht Lettlands und auf Platz 5 der "schlechtesten Gerichte der Welt". - "Die Lebensmittelrankings von TasteAtlas basieren auf den Bewertungen des TasteAtlas-Publikums", so die Eigenwerbung. "Ist Sklandrausis wirklich ein Magnet für Touristen?" fragt daraufhin die Sendung "Kultūršoks" im lettischen Fernsehen und empfiehlt allen Lettinnen und Letten mal darüber nachzudenken, was der Beitrag Lettlands in der globalisierten Welt sein könnte. 

Dženeta Marinska leitet einen von 10 Backbetrieben im lettischen Bäckerberufsverband (Latvijas Maiznieku biedrība), die sich auf Sklandrauši spezialisiert haben. Ihr mangelt es offenbar nicht an Selbstbewußtsein, wenn sie sagt: "Ich habe schon oft erlebt, dass die Leute ihre Meinung über Sklandrauši geändert haben, wenn sie es erst einmal bei mir probiert haben." (lsm) Auch die lettische Tourismuswerbung empfiehlt gerne gerade ihren Betrieb in Kolka, direkt am "Treffpunkt zweier Meere" gelegen (Latvia.travel). Und Nils Ģēvele, Chefkoch beim ebenfalls im "Michelin-Guide" lobend erwähnten Restaurant "Ferma", auch "Lettlands Koch des Jahres 2023", sagt: "Ich war schon an vielen Orten der Welt und habe schlechtere Küche probiert; ich glaube nicht, dass es in 'Lettland einen Grund zur Sorge gibt." 

Dabei ist es nicht nur Sklandrausis, der auf "TasteAtlas" mit einer schlechten Bewertung herausgestellt wird. Unter den "13 schlechtesten Gerichten" findet sich auch Griķi (Buchweizen), Maizes zupa (ein Roggenbrot-Sahne-Früchte-Nachtisch), Skābeņu zupa (Sauerampfersuppe), das Rupjmaize (dunkles Roggenbrot), Debesmanna (ein fruchtiger Nachtisch) und mit dem "Salinātā rudzu rupjmaize" (gesalzenes Roggenbrot) gleich noch ein weiteres durch EU-Recht geschütztes lettisches Traditionsprodukt. Also mit Sicherheit einiges, was regelmäßige Lettland-Besucher weit oben auf der Liste ihrer Lieblingsspeisen haben. Sollten wir also vielleicht schlußfolgern: lettische Küche - nichts für den globalisierten Massengeschmack der Stadtbewohner, die sonst nur Pizza-Bringdienst, Kebab und Hot Dog kennen? 

Schlafende Juwelen, möglichst wie bei Oma

Die lettische Tourismuswerbung hebt gern das Zitat aus dem Blog des britischen Starkochs Jamie Oliver hervor, dem zufolge Lettland ein "unentdecktes kulinarisches Juwel in Europa" sei. Wissenschaftlerin Astra Spalvēna, die den Begriff des "essbaren Kulturerbes" mitprägte, bezweifelt generell, dass allein wegen der lettischen Küche sehr viele Touristen nach Lettland kommen würden. "Und selbst wenn - hat es nicht auch Vorteile, wenn Sklandrausis als angeblich so schlecht dargestellt wird? Einige werden es gerade deshalb selbst mal probieren wollen." Die meisten mögen eben das, an was sie gewohnt sind, sagt sie. (lsm) Und auch die Auffassung davon, welche Speisen als "traditionell lettisch" angesehen werden, habe sich im Laufe der vergangenen 100 Jahre verändert. "Meist wollen wir es so kochen," sagt sie, "wie es der Familientradition entspricht. So wie Mama es gekocht hat, aber wie Oma gekocht hat wissen wir oft schon nicht mehr. Es dauert bestimmt nicht mehr lange, dann werden wir auch Schaschlik, Pelmeni oder Pizza als 'traditionell' bezeichnen werden."

Bei "Max Cekot" steht übrigens "graue Erbsen mit Austern" auf der Speisekarte - vielleicht deshalb, damit die grauen Erbsen nicht auch noch auf der Negativliste landen (NRA). - "Tasteatlas", im Besitz des kroatischen Unternehmers Matija Babić befindlich, soll übrigens, Meldungen aus anderen Ländern folgend, auch "KI", also "künstliche Intelligenz" zur Ermittlung der eigenen Rankinglisten eingesetzt haben (TheVibes). Ein Gegensatz, der wohl auch mit modernsten Mitteln kaum aufzulösen sein wird: Geschmack und Logik.

31. Dezember 2023

Euro(pa)-vision

2014 wird es 10 Jahre her sein, dass Lettland den Euro einführte und den eigentlich so geliebten Lat abschaffte (nur die "Aarzemnieki" sagten damals "Danke, lieber Lat"). Anlass genug für die Agentur "Norstat" für eine kleine Umfrage: Sind Lettinnen und Letten mit dem Euro zufrieden?

Ganz exakt lautete die Frage etwa so: "Vor zehn Jahren hat Lettland den Lats aufgegeben und den Euro eingeführt. Inwieweit stimmen Sie zu, dass der Übergang zum Euro eine gute Entscheidung war?“

Insgesamt halten 22% der Befragten die Entscheidung pro-Euro für gut, weitere 29% noch für "überwiegend gut". Also sind 51% der Lettinnen und Letten eher zufrieden. 17% finden die Entscheidung eher schlecht, 19% völlig schlecht, und die restlichen 13% enthielten sich eines Votums.

Bei der jüngeren Bevölkerungsgruppe bis 29 Jahre steigt der Anteil der Befürwortung auf 68%, in der Altersgruppe 50 - 59 Jahre geht es auf 42% herunter. Landesweit gerechnet wohnen die Euro-Skeptiker eher in Kurzeme, die meisten Befürworter gibt es in Riga. Unter ethnischen Letten liegt die Pro-Euro-Fraktion bei 60%, unter Russischstämmigen überwiegen mit 51% die Gegner.(lsm)

9. November 2023

Fahrer gesucht

Die Anzeige war ganz einfach formuliert: "Fahrer gesucht - mehrere Tausend Euro Verdienst pro Tag!" Die Aufgabenstellung: mit einem Kleintransporter in einen grenznahen Wald in Ungarn fahren, dort warten, nicht aussteigen! Es nähern sich Menschen, die hinten in den Frachtraum einsteigen. Ein kurzes Klopfen als Nachricht für den Fahrer - und los gehts. ("IR")

Die angeworbenen Fahrer ahnen manchmal gar nicht, dass sie nun Teil eines internationalen Netzwerks der organisierten Kriminalität geworden sind, durch Transport von Migrant/innen werden Millionen verdient. In letzter Zeit wuchs die Zahl der Litauer und Letten stark an, die sich als Schleuser für Flüchtlinge betätigen. Allein in Ungarn wurden von den Grenzbehörden inzwischen ein Litauer oder Lette pro Woche festgesetzt - im gesamten Jahr 2021 waren es 31 Litauer und 30 Letten. Inzwischen hat das lettische Außenministerium bereits Warnungen herausgegeben, sich nicht auf verdächtige Arbeitsangebote als "Fahrer" einzulassen. 

Wie "ReBaltica" berichtet, verkünde der ungarische Regierungschef Orban zwar lauthals ein rigoroses Vorgehen gegen Flüchtlinge, aber die Realität sehe anders aus. Ungarn stecke seit Jahren in einer Wirtschaftskrise. Die Polizei sie stark unterbesetzt, unterbezahlt und schlecht ausgerüstet. Sie sind offensichtlich nicht in der Lage, gegen die illegale Migration vorzugehen. Sowohl Einwanderer ohne Papiere als auch ihre Schleuser haben immer noch recht gute Chancen, das Land zu durchqueren. Verhaftete Schleuser aber, so wie Letten und Litauer, sollen schon, Schätzungen zufolge, bis zu 10% der Verhafteten in ungarischen Gefängnissen ausmachen. Wer erwischt wird, muss mit bis zu acht Jahren Gefängnis rechnen - und auch die ungarischen Anwälte nehmen ordentliche Honorare, in der Regel mehrere Tausend Euro. Aber Häftlinge kosten auch den ungarischen Staat Geld, so werden immer mal wieder Internierte einfach mal freigelassen. (rebaltica)

Geworben werden die Fahrer meist für einen Einsatz in Ungarn, Tschechien, Kroatien, Polen und Serbien - alles Länder aus der sogenannten "Balkan-Route", die Flüchtlinge als Durchgangsstation auf dem Weg nach Deutschland Station machen. Und vor Polizeikontrollen müsse man keine Angst haben, so versprachen die Auftraggeber - denn als Ausländer könnte niemand z.B. in Österreich bestraft werden. Eine Lüge.

In vielen Fällen kommt es anders. In der Zeitschrift "IR" wird auch das Beispiel eines 19-jährigen jungen Mannes genannt: er besuchte noch die letzte Klasse eines Gymnasiums, und wollte eigentlich Fotograf werden. Das müsse er jetzt wohl verschieben, denn die nächsten sieben Jahre werde er in einem Gefängnis in Österreich einsitzen müssen. (rebaltica)

In ungarischen Gefängnissen sitzen offenbar schon viele ein, die wegen Flüchtlingstransporten bestraft wurden. Einzelheiten dazu geben ungarische Behörden offenbar nicht einmal gegenüber den diplomatischen Vertretungen der betreffenden Länder heraus. Von litauische Grenzbehörden ist bekannt, dass dort im ersten Halbjahr 2023 schon 23 wegen solcher Transporte verhaftete Letten gemeldet wurden.

18. September 2023

Regieren mit der Opposition

Stellen wir uns nur kurz mal vor, Olaf Scholz würde, angesichts offensichtlicher Schwierigkeiten der regierenden Koaliton zu Beschlussfassungen zu kommen, ankündigen, nun lieber mit zwei anderen Parteien der bisherigen Opposition regieren zu wollen. Und damit nicht genug: er selbst würde zurücktreten, und als Nachfolgerin eine Parteikollegin seiner bisherigen Ministerriege empfehlen - seine Partei stellt Scholz dann Optionen für ein Amt als EU-Kommissar, nach den nächsten Europawahlen, oder vielleicht auch das des Außenministers in Aussicht. 

Unwahrscheinlich? Verrückt? Undemokratisch? Na, ganz ähnlich ist es jedenfalls jetzt in Lettland gelaufen. 

Allerdings fällt es schwer zu beschreiben, warum nun eine Koalition mit der einen Partei gebildet werden kann, mit der anderen nicht. Es fing schon damit an, dass sich vor der letzten Parlamentswahl im Oktober 2022 - mal wieder - neue Parteien gebildet hatten. Die sogenannte "Vereinigte Liste" ("Apvienotais saraksts" AS) hatte die lettischen "Grünen"("Latvijas Zaļā partija" ZP) aus ihrer bisherigen Fraktionsbindung mit der Bauernpartei ("Latvijas Zemnieku savienība" LZS) gelöst, und mit dem Unternehmer Uldis Pīlēns eine neue "Leitfigur" präsentiert. Slogan: keine langen Reden, neue Illusionen oder Populismus, sondern vor allem Entscheidungen müssen her. Die Lösung schien einfach: kein anderer als Pīlēns soll entscheiden. Und es schien erfolgsversprechend: die AS bildete eine Koalition mit der "Neuen Einigkeit" ("Jauna Vienotība" JA) von Regierungschef Krišjānis Kariņš und den Nationalisten der "Nacionālā apvienība" (NA). 

Pīlēns, der zunächst behauptet hatte, selbst kein politisches Amt anzustreben, ließ es dann im Frühjahr 23 gleich auf eine Kraftprobe ankommen. Obwohl ziemlich klar war, dass seine beiden Koalitionspartner wohl eine zweite Amtszeit des bisherigen Präsidenten Egils Levits befürwortet hätten, präsentierte Pīlēns sich selbst als Gegenkandidat. Daraufhin zog sich Levits zurück. Um nicht das Heft des Handelns zu verlieren, sah sich Regierungschef Kariņš genötigt, einen neuen eigenen Kandidaten zu präsentieren - und fand ihn im bisherigen Außenminister Edgars Rinkēvičs. Gewählt wurde dieser tatsächlich schon in der zweiten Wahlrunde mit 52 der 100 Stimmen - offenbar mit Stimmen aus der Opposition. 

Es begann das, was Kariņš "mögliche Erweiterung der Regierungskoalition" nannte. Dies meinten die Koalitionspartner AS und NA ruhig aussitzen zu können - galten doch die Oppositionsparteien entweder als "zu links" ("Die Progressiven" / "Progresīvie" P), oder als "zu belastet", wegen der Nähe der "Bauernpartei" (Zemnieku savienība LZS) zum wegen Korruption verurteilten Oligarchen Aivars Lembergs.

Nun kam es also anders. Warum dazu der Rücktritt von Regierungschef Krišjānis Kariņš und die Amtsübergabe an die bisherige Sozialministerin Evika Siliņa nötig war, wird wohl vorerst ein Geheimnis zwischen den beiden bleiben. Die Vermutung, Kariņš habe sich als möglicher neuer lettischer EU-Kommissar für nach den Europawahlen positionieren wollen, ist jedenfalls noch nicht ganz entkräftet - auch wenn er jetzt als Außenminister ins Kabinett zurückkehrt. 

Zwei Parteien im Parlament kamen für Regierungsämter bei keiner Seite in Frage. Da ist noch die "Stabilitātei!" ("Für Stabilität"), Anti-EU und Pro-Kreml, die vom Niedergang der „Saskaņa“ profitierte - von der es bis dahin hieß sie vertrete die Interessen der Russen in Lettland. Aber Saskaņa hatte sich recht schnell gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ausgesprochen und rutschte bei den Wahlen unter die 5%-Hürde (Stabilitātei errang 6,8% und 11 Sitze).
Bleibt noch "Lettland zuerst" (Latvija pirmajā vietā LPV), die Partei mit dem deutlichen Bezug auf die Sprüche des Ex-US-Präsidenten, unterstützt von radikalen Impfgegnern, Querdenkern, Verfechtern einer "echten Familie zwischen Mann und Frau" und Fans von Parteichef und "Ex-Bulldozer" Ainārs Šlesers, der ebenfalls eher durch zwielichtige Geschäftskontakte, Korruptionsverdächtigungen, große Sprüche und eine unrühmliche Vergangenheit in anderen, inzwischen verflossenen Parteien berüchtigt und bekannt ist.

53 der 100 Stimmen erhielt nun das neue, "erste Kabinett Siliņa" im Parlament. Mit dieser neuen Regierung habe der "Ultraliberalismus und Kosmopolitismus" gesiegt, schreibt Nationalistenführer Raivis Dzintars, der jetzt Opposition organisieren muss. Die Bauernpartei, jetzt also neuer Koalitionspartner, firmiert weiterhin, auch ohne "Grüne", als Fraktion "ZZS" (Zaļo un Zemnieku savienība, gewissermaßen "Grüne und Bauern ohne Grüne" - jetzt mit der kleinen Splitterpartei "Latvijas Sociāldemokrātiskā strādnieku partija" / "Lettlands Sozialdemokratische Arbeiterpartei"). Die Bauernpartei hat vor allem eines wieder unter Kontrolle: neben den Ministrien für Klima + Energie, für Soziales und das für Wirtschaft, auch das Amt des Landwirtschaftsministers

Spannend wird auch werden, ob die "Progressiven" in Regierungsverantwortung etwas von ihrem ambitionierten Programm werden umsetzen können. Sie stellen jetzt mit der 33 Jahre jungen Agnese Logina die Ministerin für Kultur, ein Amt, das in den vergangenen Jahrzehnten oft von den Nationalisten dominiert und geprägt war. Und auch von Kaspars Briškens, 41 Jahre alt und als Experte des Bahnprojakts "Rail Baltica" bekannt, sind als Verkehrsminister durchaus richtungsweisende Ideen zu erwarten. Die "Progressiven" stellen aber mit Andris Sprūds auch den Verteidigungsminister, ein Themenbereich, wegen dem vielleicht nicht viele gerade diese Partei gewählt haben. Als Akademiker und Historiker eher kein typischer "Militärminister", vielleicht kann er aus seinen Studienzeiten in Krakau Kontakte mit Polen wiederbeleben. 

Also: es ist schwierig, den ganzen Vorgang weiter zu kommentieren. Es gibt ein Regierungsprogramm mit einigen klaren Festlegungen, und es wird vor allem darauf ankommen, ob diese Regierung in der Lage ist, mögliche interne Streitigkeiten und schwierige Diskussionen bei kommenden Parlamentsentscheidungen zu überstehen.

11. Januar 2023

Wer ist Eldars Mamedovs?

Der Name ist ungewöhnlich, aber nicht schwer zu finden: auf dem Portal "Internationale Politik und Gesellschaft" (IPG), betrieben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, wird Eldars Mamedovs als "politischer Berater der Sozialdemokraten im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments" ausgewiesen, zuständig für "die interparlamentarischen Beziehungen zu Iran, Irak, der Arabischen Halbinsel und Maschrik". 

"POLITICO" berichtete allerdings schon am 22. Dezember, die Fraktion der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament habe Mamedovs suspendiert (siehe auch: Le Point). Man habe ihn den belgischen Behörden zur weiteren Strafverfolgung übergeben, steht da zu lesen. Mamedovs ist offenbar lettischer Staatsbürger, und so berichtete die Presse der baltischen Staaten entsprechend, ebenfalls noch vor Weihnachten (lsm / err / bnn /jauns).

Mamedovs Positionen seien aber teilweise "weit entfernt von lettischen nationalen Interessen", urteilte schon im August 22 das Portal "viss-skaidrs". Dort werden Quellen aus Aserbeidschan zitiert die darauf hinweisen, Mamedovs habe sich schon 2007 für eine Zusammenarbeit mit dem Iran entschieden. Danach habe sich Mamedov lange als überzeugter Liberaler und damit als Gegner der iranischen Regierung positioniert, parallel dazu sei er aber auch mehrfach in der iranischen Botschaft in Belgien gesehen worden – auch in den Jahren 2010 bis 2012, mitten in der USA-Iran-Krise. Zu Anfang seiner Karriere soll Mamedovs dieser Quelle zufolge im Bankgewerbe gearbeitet haben, unter anderem als Leiter des Büros der lettischen Parex-Bank in Aserbaidschan. Mamedovs ist geboren am 13. Dezember 1972 in Riga, stammt aber aus Lankaran in Aserbeidschan und ist Sohn des Unternehmers Adigjozals Mamedovs.

Für die sozialistische Franktion im Europaparlament soll Mamedovs schon seit 2009 gearbeitet haben. Mamedovs habe diese zu einer "eher milden" Haltung gegenüber Katar bewegen wollen - ähnlich wie im Fall der Korruptionsaffäre rund um die griechische Ex-EU-Parlamentsvize Eva Kaili (tagesschau / WDR / Spiegel). Es geht um den Verdacht, dass Entscheidungen der Europäischen Union mit hohen Geldsummen beeinflusst worden sein könnten. In diesem Zusammenhang gab es noch einige weitere Untersuchungen, bei denen nun offenbar auch Mamedovs in Verdacht geraten ist. Er soll unter anderem kostenlose Tickets für die WM in Katar erhalten haben (Politico). Weitere Einzelheiten über die konkreten Vorwürfe gegen Mamedovs sind bisher offenbar nicht öffentlich zugänglich.

Auf lettischen Portalen sind noch einige ältere Beiträge von Mamedovs zu finden. In einem Beitrag vom Januar 2014 kritisiert er den deutschen Bundespräsident Joachim Gauck und dessen Entscheidung, nicht zu den Olympischen Spielen ins russische Sotschi zu fahren - und lobt den lettischen Amtskollegen Andris Bērziņš, der sich pro Sotschi entschieden habe. Allerdings schrieb damals sogar die deutsche FAZ, Gauck würde mit seinem Fernbleiben "die große Mehrheit der russischen Bevölkerung kränken." 

Im Mai 2014 trat Mamedovs auf der Liste der "Saskaņa" zur Europawahl an - und landete im Ergebnis auf dem 16. und letzten Platz der Liste. Mamedovs findet sich damals auch als Unterzeichner einer "Selbstverpflichtung" für mehr Transparenz, Integrität, und mehr Schutz für Hinweisgeber in Fällen von Korruption. Auch die lettische "Delna", der lettische Zweig von "Transparency International", reagierte positiv auf diese Initiative. Und für die lettische "Providus", die sich ja auch Korruptionsbekämpfung als Thema vorgenommen hatten, schrieb Mamedovs etliche Beiträge. 

Derweil übt sich der heutige Parteichef der "Saskaņa", Jānis Urbanovičs, in Distanzierungsversuchen. "Mamedovs war nie Mitglied bei uns", behauptet er. Weiterhin habe "Saskaņa" auch nichts mit dem Amt bei der EU zu tun, was Mamedovs ausgeübt habe. Rigas Ex-Bürgermeister Nils Ušakovs gibt immerhin zu, mit Mamedovs einige Jahre zusammengearbeitet zu haben. (tvnet) - ansonsten sei Mamedovs, so stellt es Urbanovičs dar, "einfach ein Karrierediplomat" gewesen.

26. Dezember 2022

Müll-Bilanz

Erstaunlicherweise ist in Lettland zu pandemischen Zeiten die Gesamtmenge an Haushaltsabfällen erheblich gestiegen - so bilanziert es Journalistin Laura Laķe für die Zeitschrft "IR", und beruft sich dabei auf Zahlen des lettischen Zentrums für Umwelt, Geologie und Meteorologie (Latvijas Vides, Ģeoloģijas un Meteoloģijas Centrs LVGMC). Dem zufolge waren es 2019 insgesamt 840.413 Tonnen Hausmüll, im Jahr 2020 dann 908.960 Tonnen, und 2021 869.285 Tonnen. Wie Statistiken von Eurostat zeigen, wurde noch 2014 in Lettland pro Einwohner 318 kg Hausmüll erzeugt - bis 2019 stieg das auf 437 kg an. Und es muss gleichzeitig gesagt werden, dass dieser Anstieg ja wohl nichts mit einem Anstieg der Bevölkerungszahl zu tun haben kann - eher im Gegenteil.

Anders gesagt: in einer Statistik aller 38 Mitgliedsorganisationen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegt Lettland, gemessen an der durchschnittlichen Hausmüllmenge, den 22. Platz. Somit produziert Lettland etwa doppelt so viel Müll pro Jahr pro Person wie die Menschen in den Ländern mit dem größten Aufkommen an Hausmüll. Und das Abfallaufkommen pro Einwohner in Lettland war auch höher als beispielsweise in den anderen baltischen Staaten oder in Polen. Zudem liegt die Recyclingquote in Lettland nur bei 23% (Zahlen von 2021, Deutschland 68%)

2022 war das Jahr, als Lettland endlich ein Rücknahmesystem für Pfandflaschen einführte. Aber beim Thema Müllvermeidung sei man noch nicht sehr weit gekommen, so urteilen lettische Umweltfachleute. Befragt nach den Gründen, warum sie das Pfandrücknahmesystem nutzen, nannten die meisten (59%) die 10Cent als Motivation, die jede Flasche oder Dose einbringt. Nur 37% nannten "Sorge um die Umwelt" als Auslöser (lsm)

Als Ziel der Europäischen Union ist festgelegt, in den Mitgliedsstaaten bis 2035 eine Wiederverwertungsquote von 65 % zu erreichen und weniger als 10% des Abfallaufkommens noch auf Deponien lagern zu müssen. Jānis Aizbalts, Direktor beim Abfallverwerter SIA Eco Baltia (Motto: "Finde den Wert in allem"), schätzt die gegenwärtige Wiederverwertungsquote des Abfalls in Lettland optimistisch auf inzwischen 40% - aber er zweifelt an der Fähigkeit der lettischen Gesellschaft, neue Methoden der Aballtrennung schnell zu lernen.(IR) Umfragen zeigen, dass inzwischen 71% der Bevölkerung das neue Pfandrücknahmesystem regelmäßig nutzen. Aber entscheidend sei auch, so Aizbalts, das entscheidende Schritte auf dem Wege der Abfallvermeidung eingeleitet werden. 

Kaspars Zakulis, Chef von "AS Latvijas Zaļais punkts” (Grüner Punkt Lettlands) sieht es so: "Im Jahr 2011 haben nur 34% der Befragten gesagt dass sie Mülltrennung vornehmen, und auch 2020 lag das nur bei 60%" (lsm) "Kunststück!"- möchte man da dazwischenrufen: wenn Lettland erst 2022 eine systematische Flaschenrücknahme einführt - warum sollte es auch vorher jemand erst trennen (und dann zusammen mit dem anderen wegschmeißen?). Zakulis redet auch vom "Vorbild Deutschland", begründet das aber so: "das liegt ja auch schon in der Mentalität dieser Nation. Diese Ordnung, einerseits. Und andererseits war eben Deutschland nach dem 2.Weltkrieg auch total zerstört, da spielten Sekundärmaterialien wie Metall und Glas immer schon eine wichtige Rolle." - Über "lettische Mentalität" sagt Zakulis an dieser Stelle nichts.

Das lettische Parlament brachte nun eine Entscheidung auf den Weg, aus bisher zehn verschiedenen Regionen fünf Abfallverwertungszentren zu entwickeln (lsm). So soll zum Beispiel die Wiederverwertung von Gebrauchtreifen sichergestellt werden, und auch für Textilien und Schuhe soll es neue Regelungen und ggf. spezielle Rücknahmecontainer im ganzen Land geben. 

Aber auch das, was in Deutschland als "Biomüll" verstanden wird, landet bisher in Lettland noch zu bis zu 60% im Haushaltmüll - so bemängelt es eine Untersuchung des staatlichen Rechnungshofs (bnn) Landesweite Stellen, die Biomüll nicht nur entgegennehmen, sondern daraus auch qualitätsgeprüften Kompost herstellen und zugänglich machen, gibt es bisher nicht. 

Ein weiteres Problem ist die gegenwärtige Beliebtheit von leichten Kunstofftragetaschen in Lettland. Einer neuen europaweiten Erhebung zufolge benutzt jeder Lette und jede Lettin pro Jahr 229 solcher leichten Plastiktüten, in denen ja gern so manches Einkaufsgut verschwindet (2018 waren es sogar schon mal 327 !). Nur Litauen hat da mit aktuell 294 Tütchen einen noch höheren Verbrauch. In Deutschland sind es 45 pro Einwohner/in - was multipliziert mit 80 Millionen Menschen allerdings auch wieder einen stattlichen Müllberg verspricht.

Schon seit Jahrzehnten galt in Lettland der Name "Getliņi" als Synonym für den größten lettischen Müllberg. Aber in 5 bis 7 Jahren wird hier Schluss sein müssen, sagen Experten: die 80ha-Deponie nahe des Ortes Ropaži ist voll. Eine Erweiterung ist dann nicht mehr möglich. Auch hier wird geschätzt, dass allein die getrennte Aussortierung von Biomüll eine Volumenersparnis um 40% bringen könnte (lsm).

7. November 2022

Endlich aufgedeckt: Dumme Deutsche?

Es ist immer wieder eine interessante Frage: welche Vorstellung haben Lettinnen und Letten von Deutschland? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, müssen wir uns die Perspektive wohl zunächst mal aus lettischer Sicht vorstellen. 

Deutschland-Image

Was aus Deutschland in den vergangenen 30 Jahren kam, könnte sich manchmal vielleicht angefühlt wie eine Mischung aus Belehrungen, Misstrauen und Übervorteilung. Seien es die ungleichen Vermögensverhältnisse als Resultat des Übergang von Sowjetwirtschaft hin zur sogenannten "Privatisierung", oder die vielen im voraus des EU-Beitritts zur Akzentanz vorgelegte Regelungen und Gesetze, die sicher oft detailverliebt und bürokratisch wirkten. Auch wie man Krisen übersteht, meinten ja gerade viele Deutsche besser zu können: einfach sparsam sein. Die Flexibilität und Kreativität, auch den Optimismus und die Tatkraft die es brauchte, um das Leben im Lettland der vergangenen 30 Jahre zu überstehen, dafür fehlten in Deutschland sehr oft sowohl Antennen wie Sensibilität. 

Deutschland-Berichterstattung in Lettland: laufen jetzt
alle Deutschen mit Russland-Fahnen herum?

Deutschland weiß oft alles besser - oder tut zumindest so; mit diesem Ruf der Deutschen in Europa müssen wir uns als Deutsche wohl auseinandersetzen. Und wir müssen sogar ergänzen: und wenn es mal anders zu laufen drohte, dann legt Deutschland einfach noch mal ein paar Milliarden Euro drauf, damit der Anschein bestehen bleiben kann (damit zum Beispiel europäische Gesetze mal wieder so gestaltet werden können, dass sie der deutschen Autoindustrie nicht schaden). 

Zeitenwende

Nun aber haben wir "Zeitenwende". Nun müssen offenbar die Deutschen zugeben, was sie alles falsch gemacht haben. Erst Recht, wenn - wie in Lettland - die Solidarität mit der Ukraine in der politischen Agenda allem voran gestellt wird. "Die Deutschen - wie immer gastfreundlich", schreibt da am 4. November Laine Aizupe in der "Latvijas Avize" - "gastfreundlich auch für russische Deserteure." 

Nein, hier geht es offenbar nicht darum, dass russische Soldaten anlässlich des von Putin in der Ukraine angezettelten Krieges lieber desertieren sollten. Was das angeht, kursiert in Lettland das böse Wort von den "Sofa-Sittern" - also denjenigen Russen, denen, wie es heißt, der russische Angriffskrieg in der Ukraine so lange egal war, wie es nicht zur allgemeinen Mobilmachung kam.

Menschen aus der Ukraine - in Deutschland bedroht?

Über eine Million Menschen aus der Ukraine haben bisher in Deutschland Aufnahme gefunden. Aber jetzt seien die Ukrainer in Deutschland besorgt, schreibt Aizupe - und klagt dabei deutsche Parteien fast aller politischen Couleur an: zitiert werden Irene Mihalic von den "Grünen" ebenso wie Johann David Wadephul von der CDU - beide hätten sich für die Gewährung von "humanitärem Asyl" für russische Deserteure ausgesprochen. (siehe auch "Tagesschau" 23.9.) Dabei bleibt es aber nicht. Die lettische Journalistin zitiert benahe genüsslich aus einer ARD-Umfrage: 54% der Deutschen würden die Aufnahme russischer Deserteure in Deutschland befürworten, und darunter seien besonders viele Anhänger/innen der Grünen (77%) und der Sozialdemokraten (64%). Als kleines "Sahnehäubchen" wird noch hinzugefügt: Andrij Melnik, bisher Botschafter der Ukraine in Deutschland, sei anderer Meinung gewesen. (LA) (siehe auch: ARD-Morgenmagazin 29.9./ ARD-Deutschlandtrend / infratest-dimap)

Ausgerechnet die Haltung der Vertreter/innen der AfD bleiben bei dieser Aufzählung aber unerwähnt. Denn auch die 57% AfD-Anhänger/innen in dieser Umfrage, welche die Aufnahme von russischen Kriegsdienstverweigerern ablehnen, taugen wohl nicht als unterstützendes Element bei der lettischen Argumentation der "Latvijas Avize" - so setzt sich die AfD doch sogar für die Wiederaufnahme russischer Gaslieferungen und bedingungslose Zusammenarbeit auch mit dem aggressiv kriegführenden Russland ein. 

Zeitverzug

Auffällig weiterhin: dieser lettische Zeitungsbericht stammt vom 4. November - die zitierten Umfragen und Äusserungen aber bereits von Ende September. Lesen wir zum Beispiel einen Bericht zum selben Thema beim "Redaktionsnetzwerk Deutschland" vom 28.10. nach, dann lassen sich dort wesentlich differenzierte Äusserungen entdecken: jeder Antrag auf Asyl müsse im Einzelfall sorgfältig geprüft werden, Putin sei zuzutrauen Menschen einzuschleusen (Jürgen Hardt / CDU). Oder: "wir dürfen bei aller Hilfsbereitschaft nicht naiv sein" (Strack-Zimmermann / FDP). Oder auch: Deserteure sollten nicht wie Heilige behandelt werden (Wagener / Grüne). Dagegen meint Rüdiger Lucassen für die AfD: ein deutscher Aufruf zur Aufnahme von Deserteuren könne als "Angriff auf das russische Wehrsystem gewertet werden" - das sei eine unnötige Provokation Russlands. (siehe auch: "Das Parlament")

BAMF-Auskunft für russische Staatsbürger/innen in Deutschland

Zahlen

Gemäß dem Bericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zum ersten Halbjahr 2022 waren Menschen aus Syrien mit 11.500 die größte Gruppe, gefolgt von Afghanistan (8.000) und Türkei (5.000). In dieser Statistik sind allerdings weder Ukrainer noch Russen vertreten. Menschen aus der Ukraine müssen gar keinen Asylantrag stellen, und die Mobilmachung in Russland begann erst am 21. September. (BAMF-Bericht zur Lage russischer Kriegsdienstverweiger)

In Russland öffentlich gegen den Krieg demonstrieren - das ist offenbar auch ein sicherer Weg zur Zwangseinberufung (siehe BAMF-Bericht). Aber was bringen lettische Berichte nach dem Muster "Vācieši kā allaž pretimnākoši" (Deutsche wie immer gastfreundlich)? Es ist, wie so oft, offenbar auch ein Stück lettische Innenpolitik. Denn am Schluss des erwähnten Berichts werden dann noch Äußerungen von "Pro Asyl" erwähnt mit der Aussage, kaum ein russischer Deserteur könne ja zur Beantragung von Asyl nach Europa gelangen - dank komplett geschlossener Grenzen in Finnland, den baltischen Staaten und in Polen. Dies bedeutet nämlich in der Praxis nicht nur die Verweigerung von Touristenvisa, sondern auch die Zurückweisung auch von Personen die versuchen Asylanträge zu stellen. So habe Lettland im Jahr 2022 (bis 31.8.) nur insgesamt 123 Personen einen Flüchtlingsstatus zuerkannt - im Gegensatz zu 115.402 Personen in Deutschland (was mit den aktuellen Zahlen des BAMF einigermaßen übereinstimmt). 

Russische Anträge: eher selten

Interessant bei den aktuellen Zahlen: hier sind sogar Anträge von Menschen aus Russland gesondert aufgewiesen. Im Oktober waren es in Deutschland ganze 313 Anträge. Vielleicht war der panikartige Bericht also nur ein einzelner lettischer Zeitungsbeitrag einer unerfahrenen Journalistin? Von Laine Aizupe sind allerdings immerhin noch vier weitere Beiträge über deutsche Themen zu finden: über Lehrermangel, das 9-Euro-Ticket und über Preissteigerungen und den zurückgehenden Verbrauch an Milch in Deutschland. Während aber Aizupe also noch Anfang November von "allzu gastfreundlichen Deutschen" schrieb, behandeln andere lettische Blätter das Thema offenbar tatsächlich anders. "Das deutsche Parlament lehnt Asyl für russische Deserteure ab", schrieb die "Neatkarīga" am 30. September (und meint damit die Ablehnung eines entsprechenden Antrags der "Linken"). Ganz ähnlich berichtete auch "TVNet". Und die "Diena" fand erwähnenswert, dass auch die USA und Irland russischen Deserteuren die Möglichkeit des Asyls angeboten habe.

Also: warten wir doch erst einmal ab, wohin der gegenseitige Lernprozess die lettischen und deutschen Pressevertreter/innen nach tragen möge. Wer gute Gründe hat in fremden Ländern Asyl beantragen zu müssen, der möge es auch bekommen. Wer die Ukraine unterstützen möchte, sollte wohl besser das ganze Potential an Unterstützerinnen und Unterstützern ausschöpfen. Und falls nun wieder Fragen kommen, möglicherweise von Lettinnen und Letten: Wie siehts bei Dir aus? Sind schon viele Russen angekommen? - Dies war der Versuch einer Antwort.