22. Oktober 2016

Der Berg ist unser!

Was werden Besucherinnen
und Besucher in ein paar
Jahren auf Lettlands höchstem
Berg erblicken können?
Dies ...
Hat Lettland Berge? Nun ja, die Besucher sollten sich nicht durch Bezeichnungen wie "Livländische Schweiz" oder "Kurländische Schweiz" täuschen lassen - allenfalls Radreisende sind gelegentlich erstaunt von den "Unebenheiten" bei ihren Touren - aber auf diesem einen Berg, dem "Gaiziņkalns" war angeblich jeder einzelne Lette und jede Lettin mindestens einmal im Leben.

Doch dieses "Dach Lettlands", im östlichen Teil des Landes gelegen, ist heute nur noch als teilweise bewaldete Kuppe zu erkennen - wer die schmalen Feldwege hier herauf überhaupt findet; nur ein kleines Schild erinnert daran, dass die Besucher sich hier auf 311,6m über Meereshöhe befinden.

Eines ist jedoch jetzt neu, und nach jahrelangen Diskussionen frisch beschlossen: "es ist nun sichergestellt, dass der höchste Berg Lettlands wieder zu Allgemeinbesitz wird", verkündeten vor kurzem Inese Apele als Vertreterin der Eigentümergemeinschaft und Kaspars Gerhards, lettischer Minister für Umwelt und regionale Angelegenheiten. Die Spitze des "Gaiziņš" soll nun "im Besitz des Volkes" - also Staatseigentum werden, das legt ein Vertrag fest. Und auch ein neuer Aussichtsturm soll wieder gebaut werden - "ein Turm nicht wie in Saudi Arabien, sondern nach lettischer Eigenart", so Ex-Eigentümerin Apele (Latvijas Avize), die das 9,3ha große Gelände unbedingt dem Staat, nicht aber der Gemeinde überlassen wollte.

.... oder eher dies?
1982 - noch zu Sowjetzeiten - war zuletzt der Bau eines Aussichtsturms begonnen worden. Dieses Projekt wurde aber nicht beendet - so dass Wind und Regen, Frost und Schnee daran nagten. Schließlich wurde am 14.Dezember 2012 der unsicher gewordene Turm gesprengt (siehe Video) - ein neuer Turm konnte, entgegen aller Hoffnung, noch nicht errichtet werden. Alles hing daran, dass das Gelände um die Bergkuppe des Gaiziņkalns sich in Privatbesitz befand. 40m hoch war der bisherige Aussichtsturm - nun fehlt der Rundblick über die Umgebung.

Die örtliche Bauverwaltung hatte lange ihre Zustimmung verweigert, das insgesamt 44ha große Gelände aufzuteilen - falls es weniger als 10ha groß und für eine Bebauung vorgesehen sei, so sei dies gemäß der Bestimmungen der Gemeinde nicht zulässig - auf dieser Formalie bestand die Behörde lange. Kompliziert war auch, dass es insgesamt fünf Eigentümer gab - wovon keiner das Gelände selbst nutzt, sondern weiterverpachtete. Das Eigentum war nach Wiedererlangung der lettischen Unabhängigkeit den Nachkommen der lettischen Eigentümer zurückerstattet worden - die allesamt allerdings nicht in Lettland leben.

... oder vielleicht sogar
dieses Modell hier?
Um irgendwie auf den höchsten Punkt zu erreichen, seien Fahrzeuge auch schon vielfach quer über Wiesen und Felder gefahren, um ihr Ziel zu erreichen. Daher war auch ein Autoparkplatz mitten auf der Bergspitze schon in der Diskussion, mindestens ein Wendeplatz - eine Idee, die nicht von allen geteilt wird, befindet sich das Gebiet doch innerhalb es von der EU besonders geschützten Areals ("Natura 2000").
Durch die Einigung zwischen Behörden und Privateigentümern können nun konkrete Planungen zur Neugestaltung des Geländes beginnen. Auch die Tourismusämter hoffen auf attraktivere Vermarktungsmöglichkeiten.

Angeblich soll vertraglich auch festgelegt sein, dass der Staat sein geschenktes neues Eigentum hier nicht erneut privatisieren darf - was finanziell verlockend wäre, denn Investoren sollen schon mehrere Millionen Euro geboten haben, um auf Lettlands höchstem Berg aktiv werden zu können.

4. Oktober 2016

Lettische Arbeit, schwedische Dividende

Wenn Lettinnen und Letten "lettisch" kaufen möchten - ausgenommen das, was direkt bei den Bauern oder auf Märkten bezogen werden kann - dann heißt es zumeist: gehen wir zu RIMI! Denn jeder weiss schließlich, dass die Supermarktkette MAXIMA litauische Eigentümer hat - erkenntlich auch am Warenangebot. Nun steht hinter der RIMI-Kette allerdings der schwedische ICA-Konzern, und der scheint in Lettland, einem der Länder mit den durchschnittlich ärmsten Menschen in Europa, gute Geschäfte zu machen: in den vergangenen drei Jahren allein 63 Millionen Euro, 55 Millionen Euro wurden den Eigentümern als Dividende ausgezahlt.

Der Erfolg von RIMI hat mehrere Gründe: saubere und frisch renovierte Läden, produktivere Arbeitsprozesse, und billige Arbeitskräfte - so beschreiben es Inga Spriņģe und Sanita Jemberga vom "Zentrum für investigativen Journalismus RE:Baltica" ("IR"/ TVNet). In Schweden bekommen Kassiererinnen und Kassierer dreimal so hohen Lohn wie in Lettland (nach lettischem Preisniveau berechnet), in Estland liegt das Lohnniveau noch um 100 Euro monatlich höher. Der härteste Konkurrent in Lettland, MAXIMA, zahlt allerdings seinen Angestellten in etwa dasselbe. Gibt es da Absprachen?

Verglichen mit dem, was ansonsten an Arbeitsplätzen in Lettland zu finden ist, scheint es bei RIMI noch ganz gut auszusehen: Lohn wird nicht heimlich "im Umschlag", sondern ganz legal versteuert auf Konto überwiesen. Es gibt Aufstiegsmöglichkeiten, Krankenversicherung, Weiterbildung. In den Firmen des lettischen Verbands für Lebensmittelhandel (Latvijas Pārtikas tirgotāju asociācijā), zu dem neben RIMI und MAXIMA noch NARVESEN gehört, wird zu 19% Mindestlohn gezahlt - in anderen Läden sind es 33%. Journalistin Spriņģe verweist auf eine Untersuchung der lettischen Hochschule für Wirtschaft, der zufolge gerade in den kleinen Läden der größte Anteil an "Schattenwirtschaft" (Schwarzarbeit) zu finden ist, an der Spitze liege hier das Bauwesen. RIMI war 2015 mit 5731 Angestellten der drittgrößte Arbeitsgeber in Lettland, nach der lettischen Eisenbahn mit 7173 und MAXIMA mit 9150 Mitarbeitern (db). Aber ihr Lohnniveau macht nur  67% des statistischen mittleren Lohnes in Lettland aus: 2015 lag dieses Mittel bei 550 Euro brutto; Supermarktkassierer bekammen im Schnitt nur 470 Euro.

Nun ja, die Gewerkschaften gelten in Lettland als eher schwach. Und in Estland ist das Lohnniveau beim Schwesterunternehmen vielleicht deshalb höher, weil auch gering Qualifizierte leicht nach Finnland abwandern können.
Auch eine Erhöhung des Mindestlohnniveaus wird momentan diskutiert; nach gegenwärtig gültigen Regelungen würde der Mindestlohn 2018 dann in Estland 470 Euro betragen (in Litauen und Lettland etwa 380 Euro - niedriger ist der Mindestlohn in der EU nur in Bulgarien, Rumänien und Ungarn). Zudem liegen die Steuerabgaben in Lettland mit 40% des Lohnes sogar noch höher als in Estland, wo es nur 34% sind. RIMI begründet die Zurückhaltung gegenüber Lohnerhöhungen momentan mit dem bevorstehenden Bau eines großen Logistikzentrums in Riga, und Investitionen in Höhe von 75 Millionen Euro ("IR"). Zudem ist die Grenze für steuerfreien Mindestverdienst in Estland höher als in Lettland (170 Euro gegenüber nur 100 Euro in Lettland). Erst 2020 wird dieses steuerfreie Minimum auch in Lettland bis 160 Euro steigen.

RIMI verweist unter anderem auf eine Auszeichnung aus dem Jahr 2015 als "bester Arbeitgeber Lettlands". Der Preis wird allerdings nicht etwa von den Gewerkschaften, sondern vom Arbeitgeberverband (Latvijas Darba devēju konfederācija LDDK) verliehen, Antragsteller müssen lediglich einen Katalog von 15 Fragen beantworten - eine Frage zum Lohnniveau ist nicht dabei. Die LDDK hat sich mehrfach gegen eine Erhöhung des Mindestlohnniveaus in Lettland ausgesprochen - ebenso das lettische Finanzministerium und die lettische Zentralbank. Eines der Gegenargumente ist auch die Rechnung, dass bei einer Erhöhung des lettischen Mindestlohns auf - beispielsweise - 410 Euro schon 70% aller Arbeitnehmer/innen in Latgale nur den Mindestlohn verdienen würden (und auch überall sonst, außer in Riga und Umgebung, wären es über 50%). Natürlich könnten die Argumente hinzugefügt werden, die auch in Deutschland von Arbeitgeberseite gewöhnlich oft benutzt werden - aber was hilft das alles, wenn ein Arbeitslohn kein normales Auskommen bietet? Die Lebensmittelkette RIMI ist dafür nur ein Beispiel. Welche Kosten jeder Konsument in Lettland zu bestreiten hat - und wie wenig sich das Preisniveau von dem in wohlhabenderen EU-Ländern unterscheidet - auch das lässt sich allerdings leicht ebenfalls den bunten RIMI-Katalogen entnehmen.