26. September 2023

Wiesen, Wald- und Feldesrand

"Zāle" ist nicht gleich "Zāle" - ließe sich vielleicht auf Lettisch sagen (wer nicht gerade "Nezāle" meint). Gras, oder vielleicht doch Kräuter? In der Mehrzahl verwendet, könnte der Begriff ("zāles") auch auf Medizin hinweisen.

Nur noch auf 0.9% der Landesfläche Lettlands finden sich noch Naturwiesen - aber nur ein Drittel der Bevölkerung ist sich darüber klar, dass solche Wiesen akut gefährdet sind, so eine in diesem Jahr vorgelegte Studie der lettischen Naturschutzstiftung ("Latvijas Dabas fonds" LDF). 18% der Befragten  zeigten sich bei in diesem Zusammenhang durchgeführte Umfragen bereit, Naturwiesen auf dem eigenen Grundstück anzulegen oder zu erhalten, und 14% sammeln sogar Samen auf Naturwiesen um sie auf eigenem Grund auszusäen. (lsm)

Zählt auch die Bekämpfung sogenannter "invasiver Pflanzenarten" dazu, um Naturwiesen zu schützen? 29% antworteten mit "Ja", meinten dabei aber, entsprechend der Fragestellung, nicht nur die Beseitigung von Riesenbärenklau (Sosnovska latvānis / Heracleum sosnowsky), sondern auch zum Beispiel das Ausrotten von Lupinen. Diese seien in Lettland ebenfalls "nicht einheimisch", so heißt es - obwohl sie bereits viele Straßenränder oder das Gelände verlassener Wohnstätten zieren, und mit sehr schönen Blüten erfreuen. Lupinen sind in der Lage, Stickstoff aus der Luft an der Wurzel zu binden und so die Bodenqualität zu verbessern. Der lettische LDF aber ruft regelmäßig auf: "Pflückt so viele Lupinen wie ihr könnt!" (jauns / santa). Einheimische Pflanzen würden auch von Lupinen verdrängt, heißt es. Und die lettische Naturschutzverwaltung hat inzwischen nicht nur eine eigene Webseite eingerichtet, um die Bevölkerung über "invasive Arten" zu informieren (also eigentlich zu warnen), sondern ruft auch dazu auf, das Vorkommen solcher Arten bei den Behörden zu melden. Die Liste der invasiven Pflanzenarten in Lettland weist derzeit 33 Arten auf, darunter auch die "Kartoffelrose" ("Krokainā roze") deren Früchte als "Hagebutten" bekannt sind, und die "Kanadische Goldrute" ("Kanādas zeltgalvīte").

Ähnliches ist aber auch in Deutschland bekannt. Die "Welt" schreibt süffisant von der "SOKO Lupine", der BUND Bayern ruft zum gemeinsamen "Lupinenstechen" auf  und stellt fest: "Seltene Pflanzen, die gerne auf mageren Standorten wachsen, werden von der Lupine verdrängt." Sogar Wanderer werden hier aufgefordert, "Lupinenblüten abstreifen und damit das Samenbilden zu verhindern".

Inzwischen wird der Erhalt von Naturwiesen auch durch die EU gefördert (LDF) Naturwiesen seien in Lettland schlecht geschützt, heißt es hier in den Projektzielen des LDF. Vieles würde einfach gepflügt oder aufgeforstet und gehe dadurch verloren. 

Nicht alles, was sich auf lettischen Wiesen findet
(wie hier nahe Mazirbe in Kurland) ist auch
"natürlich" - hier ist es wohl mal wieder ein
"Gartenflüchter" (bunter Eisenhut / Raibā kurpīte)

Was lernen wir daraus? Auch Lettland ist nicht einfach ein "Paradies unzerstörter Natur", wie es vielleicht manchem westeuropäischen Städter vorkommen mag, der zum ersten Mal sich die Zeit nimmt, Lettlands Landschaften zu erkunden. Sowohl die Land- und Forstwirtschaft, wie auch die Lebensweise nähert sich dem an, was wir auch aus Westeuropa kennen. Dem entsprechend gleichen sich auch die Versuche an, etwas "Natürliches" zu erhalten, ebenso die Diskussion darum, was eigentlich "natürlich" ist. 

Kenntnisse über einheimische Pflanzen sind selbstverständlich auch Bestandteil des Schulunterrichts in Lettland. Da finden sich Sätze wie dieser: "Gewöhnlicher Flieder wird in Lettland seit mehr als zwei Jahrhunderten angebaut, sein Ursprung liegt jedoch in Asien." (uzdevumi.lv) Überall finden sich Hinweise, welche "fremden Arten" es in Lettland gäbe. 

Und wer sorgfältig hinschaut,
findet dann doch manchmal etwas aus
der Artenvielfalt der "lettischen Natur-
wiese" - hier ist es der sogenannte
"Nickende Zweizahn"
(lett. "nokarenais sunītis")

Schwieriger zu finden sind genaue Angaben, was denn unter einer "Naturwiese" in Lettland genau zu verstehen ist. Was wächst dort? Bei der bereits erwähnten LDF-Umfrage wurden am häufigsten roter Mohn (Lauka Magone), Kornblume (Rudzupuķe) und Margeriten (Pīpenes) genannt. Mohn, von "Latvijasdaba" sogar als "Unkraut" bezeichnet, wächst wohl auch auf Brachland, in Kiesgruben oder an Bahnlinien. Die Kornblume, wie der Name schon sagt, gerne zwischen (ungespritztem) Getreide (wenn nicht im eigenen Garten). Die Margerite, zumindest die in Lettland vorkommende Art (Leucanthemum vulgare) ist tatsächlich typisch für Magerrasen - also gerade das, was hier wohl als schützenswert gemeint ist.  Aber selbst die Margerite hat sich inzwischen in Afrika, Indien, China, Australien und Neuseeland ausgebreitet und gilt dort wiederum als "Neophyt" (vom Menschen eingeschleppt, also invasiv). In Lettland gilt sie dagegen auch als "Nationalblume".

Glücklicherweise habe ich schließlich noch die Broschüre "Kas aug dabiskās pļavās?" gefunden, an deren Zusammenstellung auch der LDF beteiligt ist (auch in digitaler Version). Dort sind immerhin 194 verschiedene Arten aufgelistet und mit Illustrationen und Beschreibungen versehen. Hier finde ich auch endlich diejenigen Arten, die mir als "Wessi" in Lettland schon beim ersten Besuch besonders aufgefallen sind: zum Beispiel Wachtelweizen (Birztalas nārbulis), Zichorie (Wegwarte / Parastais cigoriņš) oder Schlüsselblumen (Gaiļbiksīte). 

Tipps für lettische Naturwiesen gibt es inzwischen auch in bewegten Bildern auf Youtube ("Darām pļavu kopā!" - Lettisch mit lettischen Untertiteln). Und uns bleibt zu hoffen, dass die 0,9% in Lettland erhalten bleiben - unabhängig davon, dass vielleicht jeder und jede eine eigene Definition davon hat, was unter "echter lettischer Natur" zu verstehen ist.

18. September 2023

Regieren mit der Opposition

Stellen wir uns nur kurz mal vor, Olaf Scholz würde, angesichts offensichtlicher Schwierigkeiten der regierenden Koaliton zu Beschlussfassungen zu kommen, ankündigen, nun lieber mit zwei anderen Parteien der bisherigen Opposition regieren zu wollen. Und damit nicht genug: er selbst würde zurücktreten, und als Nachfolgerin eine Parteikollegin seiner bisherigen Ministerriege empfehlen - seine Partei stellt Scholz dann Optionen für ein Amt als EU-Kommissar, nach den nächsten Europawahlen, oder vielleicht auch das des Außenministers in Aussicht. 

Unwahrscheinlich? Verrückt? Undemokratisch? Na, ganz ähnlich ist es jedenfalls jetzt in Lettland gelaufen. 

Allerdings fällt es schwer zu beschreiben, warum nun eine Koalition mit der einen Partei gebildet werden kann, mit der anderen nicht. Es fing schon damit an, dass sich vor der letzten Parlamentswahl im Oktober 2022 - mal wieder - neue Parteien gebildet hatten. Die sogenannte "Vereinigte Liste" ("Apvienotais saraksts" AS) hatte die lettischen "Grünen"("Latvijas Zaļā partija" ZP) aus ihrer bisherigen Fraktionsbindung mit der Bauernpartei ("Latvijas Zemnieku savienība" LZS) gelöst, und mit dem Unternehmer Uldis Pīlēns eine neue "Leitfigur" präsentiert. Slogan: keine langen Reden, neue Illusionen oder Populismus, sondern vor allem Entscheidungen müssen her. Die Lösung schien einfach: kein anderer als Pīlēns soll entscheiden. Und es schien erfolgsversprechend: die AS bildete eine Koalition mit der "Neuen Einigkeit" ("Jauna Vienotība" JA) von Regierungschef Krišjānis Kariņš und den Nationalisten der "Nacionālā apvienība" (NA). 

Pīlēns, der zunächst behauptet hatte, selbst kein politisches Amt anzustreben, ließ es dann im Frühjahr 23 gleich auf eine Kraftprobe ankommen. Obwohl ziemlich klar war, dass seine beiden Koalitionspartner wohl eine zweite Amtszeit des bisherigen Präsidenten Egils Levits befürwortet hätten, präsentierte Pīlēns sich selbst als Gegenkandidat. Daraufhin zog sich Levits zurück. Um nicht das Heft des Handelns zu verlieren, sah sich Regierungschef Kariņš genötigt, einen neuen eigenen Kandidaten zu präsentieren - und fand ihn im bisherigen Außenminister Edgars Rinkēvičs. Gewählt wurde dieser tatsächlich schon in der zweiten Wahlrunde mit 52 der 100 Stimmen - offenbar mit Stimmen aus der Opposition. 

Es begann das, was Kariņš "mögliche Erweiterung der Regierungskoalition" nannte. Dies meinten die Koalitionspartner AS und NA ruhig aussitzen zu können - galten doch die Oppositionsparteien entweder als "zu links" ("Die Progressiven" / "Progresīvie" P), oder als "zu belastet", wegen der Nähe der "Bauernpartei" (Zemnieku savienība LZS) zum wegen Korruption verurteilten Oligarchen Aivars Lembergs.

Nun kam es also anders. Warum dazu der Rücktritt von Regierungschef Krišjānis Kariņš und die Amtsübergabe an die bisherige Sozialministerin Evika Siliņa nötig war, wird wohl vorerst ein Geheimnis zwischen den beiden bleiben. Die Vermutung, Kariņš habe sich als möglicher neuer lettischer EU-Kommissar für nach den Europawahlen positionieren wollen, ist jedenfalls noch nicht ganz entkräftet - auch wenn er jetzt als Außenminister ins Kabinett zurückkehrt. 

Zwei Parteien im Parlament kamen für Regierungsämter bei keiner Seite in Frage. Da ist noch die "Stabilitātei!" ("Für Stabilität"), Anti-EU und Pro-Kreml, die vom Niedergang der „Saskaņa“ profitierte - von der es bis dahin hieß sie vertrete die Interessen der Russen in Lettland. Aber Saskaņa hatte sich recht schnell gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ausgesprochen und rutschte bei den Wahlen unter die 5%-Hürde (Stabilitātei errang 6,8% und 11 Sitze).
Bleibt noch "Lettland zuerst" (Latvija pirmajā vietā LPV), die Partei mit dem deutlichen Bezug auf die Sprüche des Ex-US-Präsidenten, unterstützt von radikalen Impfgegnern, Querdenkern, Verfechtern einer "echten Familie zwischen Mann und Frau" und Fans von Parteichef und "Ex-Bulldozer" Ainārs Šlesers, der ebenfalls eher durch zwielichtige Geschäftskontakte, Korruptionsverdächtigungen, große Sprüche und eine unrühmliche Vergangenheit in anderen, inzwischen verflossenen Parteien berüchtigt und bekannt ist.

53 der 100 Stimmen erhielt nun das neue, "erste Kabinett Siliņa" im Parlament. Mit dieser neuen Regierung habe der "Ultraliberalismus und Kosmopolitismus" gesiegt, schreibt Nationalistenführer Raivis Dzintars, der jetzt Opposition organisieren muss. Die Bauernpartei, jetzt also neuer Koalitionspartner, firmiert weiterhin, auch ohne "Grüne", als Fraktion "ZZS" (Zaļo un Zemnieku savienība, gewissermaßen "Grüne und Bauern ohne Grüne" - jetzt mit der kleinen Splitterpartei "Latvijas Sociāldemokrātiskā strādnieku partija" / "Lettlands Sozialdemokratische Arbeiterpartei"). Die Bauernpartei hat vor allem eines wieder unter Kontrolle: neben den Ministrien für Klima + Energie, für Soziales und das für Wirtschaft, auch das Amt des Landwirtschaftsministers

Spannend wird auch werden, ob die "Progressiven" in Regierungsverantwortung etwas von ihrem ambitionierten Programm werden umsetzen können. Sie stellen jetzt mit der 33 Jahre jungen Agnese Logina die Ministerin für Kultur, ein Amt, das in den vergangenen Jahrzehnten oft von den Nationalisten dominiert und geprägt war. Und auch von Kaspars Briškens, 41 Jahre alt und als Experte des Bahnprojakts "Rail Baltica" bekannt, sind als Verkehrsminister durchaus richtungsweisende Ideen zu erwarten. Die "Progressiven" stellen aber mit Andris Sprūds auch den Verteidigungsminister, ein Themenbereich, wegen dem vielleicht nicht viele gerade diese Partei gewählt haben. Als Akademiker und Historiker eher kein typischer "Militärminister", vielleicht kann er aus seinen Studienzeiten in Krakau Kontakte mit Polen wiederbeleben. 

Also: es ist schwierig, den ganzen Vorgang weiter zu kommentieren. Es gibt ein Regierungsprogramm mit einigen klaren Festlegungen, und es wird vor allem darauf ankommen, ob diese Regierung in der Lage ist, mögliche interne Streitigkeiten und schwierige Diskussionen bei kommenden Parlamentsentscheidungen zu überstehen.