30. März 2010

Es geht auch ohne Lettisch - irgendwie ...

Eigentlich wäre diese Nachricht eher etwas für den 1.April. Aber wenn große Presseorgane es wollen, dann gelingt es auch an anderen Tagen, ein Lächeln auf die Lippen anderer Menschen zu zaubern. Oder wurde hier etwas zu früh abgedruckt?

Nein, es geht nicht um den gefällig geschriebenen Bericht im SPIEGEL über "Studieren in Riga". Man hätte ihn in aller Ruhe lesen können, diese wahrscheinlich wohlmeinenden Zeilen über Uni-Kurse auf Lettisch oder Russisch, über die wenigen internationalen Gaststudierenden (Stichwort. Erasmus), über das lettische Aushängeschild Nanotechnologie, und über Luxuslimosinen, die an obdachlosen Müllsammlern vorbeibrausen. So jedenfalls die offenbar eher zufälligen Bemerkungen der Autorin. 

Wären da nicht doch drei Zeilen Inhaltliches gewesen. Doch dies hätte vielleicht ein wenig Hintergrundrecherche erfordert, und nicht nur Kurzgespräche mit zufällig vorbeilaufenden Studierenden, die alle erst am Anfang ihrer Studien in Riga zu sein scheinen. "Das Vaterland ist den 2,2 Millionen Letten besonders wichtig," schreibt die Autorin. Aber was dann kommt, das ist doch eines Zitats wert. Dass Lettland seit 1989 wieder unabhängig sei, gut das kann man noch mit dem Fall der Mauer verwechseln, wenn man sehr die deutsche Brille aufhat. Aber weiter: "Die Figur der Milda, einer lettischen Widerstandskämpferin, auf dem 42 Meter hohen Freiheitsdenkmal gleich neben der Uni verkörpert den Kampf gegen das Joch der Deutschen, Russen, Polen und Schweden in vergangener Zeit." (SPIEGEL 30.3.2010)

Welche "lettische Widerstandskämpferin" hier Modell gestanden haben soll, na, das möchten wir nun doch gern wissen! Liebes lettisches Institut, das doch so gern Infotexte zu Lettland herausgibt für Nicht-Lettischkundige, bitte übernehmen Sie!

P.S.: Und vielen Dank den aufmerksamen SPIEGEL-Lesern, die uns auf diesen Beitrag aufmerksam gemacht haben!

P.S. 2 : "na ja, vielleicht meinen sie ja mit dieser Formulierung, dass das ganze lettische Volk widerstanden hat" (so eine wohlmeinende Äusserung von lettischer Seite dazu).Aber es geht eben nichts über Kurzberichte, die im Detail dann doch so nicht - oder ganz anders - zu verstehen sind.

26. März 2010

Läuft wie geschmiert! (Abwrackprämie einmal anders)

Wer öfters durch die Innenstadt von Riga spaziert, dem sind sicher schon die häufig im Strassenbild anzutreffenden Karossen auf vier Rädern aufgefallen, die vielfach entweder die schöne Altstadt zuparken, oder als Mietwagen sich an gestylte Extravaganz interessierten Kunden anbieten. Jetzt, mitten in der Wirtschaftskrise, mag sich manches auch ein wenig wieder auf ein normales Maß zurechtgestutzt haben. Vor einigen Jahren, besonders in den Umbruch- und Aufbau-Zeiten der 90er Jahre, fielen die Extreme noch mehr auf. Dazu kamen noch die typischen Wagen mit den verspiegelten Scheiben, gerne auch mal ein modisch aufgestylter Geländejeep, deren Inneres als rollende Herberge dunkler Machenschaften galt. 

Der gute deutsche Ruf
Vor diesem Hintergrund erscheint die edle Schlichtheit von Oberklassewagen deutscher Produktion in Riga fast unscheinbar. Am auffälligsten waren da noch die großflächigen Werbeflächen mit den lockenden Abbildungen verschiedener Glitzerkarossen, die es auch schon in den frühen 90er Jahren in Riga gab. Doch jetzt wirft der Korruptionsvorwurf gegen Daimler in den USA auch ein neues Licht auf die deutschen Geschäftspraktiken in Lettland. Schlagzeilen wie "Daimler hat im großen Stil geschmiert" (der Standard) oder "Daimler steht wegen Korruption am Pranger" (Hamburger Abendblatt) werden auch in Lettland aufmerksam gelesen, zumal unter den konkret benannten Geschäftsvorgängen auch Fälle in Lettland aufgeführt werden.

Freundschaft nur durch Geldvorteil?
In Lettland war Daimler (Mercedes) schon früh nach Marktöffnung unterwegs - am privilegiertesten wirkte vielleicht der exklusive Verkaufsplatz an der Kalku iela, mitten in Rigas Altstadt, nur wenige Schritte weg von den politischen Entscheidungsträgern im Rathaus (das allerdings erst Ende der 90er Jahre an dieser Stelle neu gebaut wurde). In neuerer Zeit steht als Thema eher der Ankauf von Mercedes-Bussen für den Stadtverkehr in Riga im Vordergrund. So weisst gestern das Portal DELFI darauf hin, dass sich der lettische Generalstaatanwalt Maizītis sowie das lettische Anti-Korruptionsbüro (Korupcijas novēršanas un apkarošanas biroju - KNAB) sich inzwischen auch der Sache angenommen hätten. 
Dabei wird in der lettischen Presse ein Bericht der russischsprachigen Wirtschaftszeitung "Bizness&Baltija" zitiert, dem zufolge aus US-amerikanischen Behörden vorliegenden Dokumenten hervorgehe, dass Daimler in den Jahren 2002 bis 2006 etwa 1,8 Millionen Euro dazu verwendet haben soll, um Amtspersonen in Lettland sich gewogen zu machen. In Lettland sei die eine Daimler-Tochterfirma namens "EvoBonus" tätig gewesen. Im Jahr 2001 sollen auf dieser Weise 79 Mercedes-Autobusse in Riga ausgeliefert worden sein, in den fünf darauffolgenden Jahren weitere 117. Die Vertragssumme soll dabei etwa 30 Millionen Euro betragen haben. In einem zweiten Fall, wo es um die Jahre 1998 bis 2000 gehen soll, wird eine weitere Firma "MB Turk" und der Mercedes-Großhändler "Silverstar" genannt; es ging ebenfalls um Autobusse, diesmal 40 Stück, und eine in diesem Zusammenhang angeblich unrechtmäßig gezahlte Summe von 383.480 Euro. Das Portal Delfi nennt in diesem Zusammenhang auch zwei konkrete Personennamen von lettischen Angestellten bei den Auslieferungsfirmen, die auch heute noch mit ähnlichen Aufgaben betraut seien. Versuche diese zu befragen seien aber bisher erfolglos verlaufen, da sie zunächst anrufe nicht beantwortet hätten, später seien die Mobiltelefone ganz ausgeschaltet worden. 

Lehren daraus ziehen - aber welche? 
Da schaut man doch die täglichen Verkehrs- staus in Riga mit ganz anderen Augen an! Es gibt allerdings sehr unterschiedliche Wertungen dieser Vorgänge, sowohl was die Firmenvertreter, die Presseorgane verschiedener Länder, wie auch Äusserungen und Kommentare von Leser/innen und Lesern der Meldungen angehen. "Anders geht es doch nicht!" so tatsächlich die Leserkommentare in Zeitungen in Deutschland oder Österreich. Oder, leicht ironisch: "ich dachte, in den USA gilt sowas als 'Lobbyarbeit'". Auch manche deutschen Journalisten, besonders wenn sie für Zeitungen schreiben die im Mercedes-Ländle Ba-Wü erscheinen, drehen schon die Überschrift lieber ins Positive. So schreibt die Stuttgarter Zeitung: "USA honorieren Kampf gegen Korruption bei Daimler" (sonst würden die US-Gerichte keine einfache Abfindung akzeptieren).
Lettische Leserkommentare klingen da anders. Die einen machen Äusserungen wie "ich dachte, diese Autos kommen aus einem Land, wo Ordnung und Recht herrschen?" Andere, offenbar Autoliebhaber, zeugen sich trotz allem erfreut, dass es die Autos aus dem Westen so schnell auf Lettlands Straßen geschafft haben. "oder möchte jemand die Trabent, Zaporože, Moskvič, oder Žiguļi wiederhaben?" Auch seien Mercedes immer noch Opel oder Chevrolet vorzuziehen, wo es auch größere Probleme anderer Art gegeben habe. 

Lettische Medien: viele Verdächtige
Also: am Ende scheint sich jeder wieder selbst der Nächste zu sein. Allerdings ist abzuwarten, was weitere Nachforschungen in Lettland noch alles aufwirbeln - schließlich ist Wahlkampf. Einige möchten nun erstmal nicht mehr Mercedes-fahrend gesehen werden. So titelt TVNET heute: "Wahrscheinlich nahmen nicht nur Firmenangestellte, sondern auch Regierngsmitglieder Bestechungsgelder." Ins Blickfeld geraten hier vor allem die rund ums Bürgermeisteramt Zuständigen der besagten Jahre (Andris Bērziņš / LPP, Gundars Bojārs / LSDSP). Einer davon, Ainārs Šlesers (LPP), ist auch heute wieder als Vize im Amt. Bei der sowieso in Lettland verbreiteten Politikmüdigkeit und dem geringen Ansehen von Politiker/innen ist ein Generalverdacht in den Medien offenbar populär. Alle, die da in Amt und Würden aufgezählt werden können, werden auch als verdächtig hingestellt.

Eines dürfte dabei klar sein: ab 1998 war Lettland schon in einem Stadium,auf baldige EU-Mitgliedschaft hoffen zu dürfen. Alles, was davor geschah (man frage nur die sogenannten lettischen Oligarchen wie Lembergs, Šķēle) war noch viel leichter verdientes Geld, auf heute nicht mehr nachvollziehbaren Wegen. Und eine andere Vermutung geht dahin, dass auch die von Daimler in Russland im Zusammenhang mit dem gegenwärtig diskutierten Fall getätigten versteckten Zahlungen über lettischen Banken gelaufen und abgewickelt sein sollen (so vermutet z.B. DIENA). Nur: schon einige ähnliche Skandale um unrechtmäßige Zuwendungen sind in den vergangenen Jahren über Lettland hinweggegangen. Es ist zu befürchten, dass sehr bald wieder andere Schlagzeilen herrschen. Nicht mal ein Boykott hilft ja: wer kein Auto nutzt, fährt Bus. Es war nur ein einzelne Stimme auf einem lettischen Internetportal, die meinte: "Leute, ich fahre sowieso immer schwarz." Aber auch das hilft keinem gegen überteuerte Anschaffungen, die Zeche zahlt, wer über seine Verhältnisse lebt.

25. März 2010

Sprache erneut als politische Waffe?

Die Partei Für Vaterland und Freiheit initiiert eine Unterschriftensammlung für ein Referendum, daß künftig in staatlichen Schulen die Unterrichtssprache nur noch Lettisch sein darf. Angesichts eines hohen Anteils russischsprachiger Bevölkerung in Lettland ist das Thema Sprache seit langem ein heißes Eisen und seit der Unabhängigkeit 1991 regelmäßig auch ein politisches Instrument.

Angesichts der schlechten Umfragewerte von Für Vaterland und Freiheit, die um den Wiedereinzug ins Parlament bangen muß, ist diese Referendumsidee nur wahlkampfstrategisch zu verstehen. Aber auch dann ist es ungewöhnlich, weil die aggressive Politik gegen die russische Minderheit von Für Vaterland und Freiheit, die 1993 noch alle Russen am liebsten außer Landes gewiesen hätten und jene des deutschen Joachim Siegerist nicht mehrheitsfähig war. Dieser in Deutschland vorbestrafte Konservative hatte sich der Unabhängigkeitsbewegung angeschlossen, die sich später mit den Nationalisten vereinigten.

Der Initiator, der früherer Justizminister Dzintars Rasnačs ist optimistisch, bis Mai 10.000 Unterschriften zu sammeln und die erforderlichen 10% der Wahlberechtigten bis etwa einen Monat vor den Wahlen im Herbst zu vervollständigen. Das Referendum könnte dann Ende dieses oder Anfang des nächsten Jahres stattfinden.

Ob die Partei mit dieser Strategie erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Bereits frühere Regierungen sind mit ihren Sprachgesetzen an Ex-Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga gescheitert. Es gab sogar mal die Idee, Veranstaltungen in anderen als der einzigen offiziellen Staatssprache, als des Lettischen, nur mit Simultanübersetzung stattfinden dürften.

Was aber noch schwerer wiegt ist die öffentliche Meinung. Die Zeiten der scharfen Konflikte sind eigentlich ebenso vorbei wie jene, als viele Forderungen teilweise nachvollziehbar waren oder auch eine kopfschüttelnde Öffentlichkeit in Westeuropa Lettland schwere Vorwürfe machte. Die Sowjetunion hatte beispielsweise im Infrastrukturbereich vorwiegend Russen beschäftigt. Das Ergebnis war, daß es Anfang der 90er Jahre schwierig war, am Kartenschalter des Rigaer Hauptbahnhofes auf Lettisch einen Fahrschein zu erwerbe. Und die staatlichen Kontrolleure, die den Gebrauch der Staatssprache im öffentlichen Raum prüften schafften es mit ihrer Bestrafung von Marktfrauen in ausländische Fernsehberichte. Zwischen 1993 und 2001 gab es eine Mission der OSZE in Riga.

Bestes Beispiel für die Beruhigung der Gemüter bildete eine Novelle des Bildungsgesetzes 2004, nach der auch an russischen Schulen der muttersprachliche Unterricht auf 40% beschränkt wurde. Man befürchtete am traditionellen Schuljahresbeginn, dem 1. September, Ausschreitungen zwischen lettischen und russischen Schülern – doch es nichts geschah.

Bezüglich der neuen Ideen von Für Vaterland und Freiheit erklärte die Rektorin der Rīnužu Mittelschule in Riga, Viktorija Verhouska, gegenüber der Zeitung Neatkarīgā, daß die Schüler keine Schwierigkeiten hätten auf Lettisch zu lernen, da Kinder sich Sprachen schnell aneigneten. Aber alle Fächer ausschließlich auf Russisch zu unterrichten, erlaubte es dem Nachwuchs nicht mehr, in einer Umgebung der Traditionen ihrer Nationalität aufzuwachsen und die eigene Muttersprache ordentlich zu erlernen.

Der Rektor des Rigaer Klassischen Gymnasium, Roman Alijev, fügt hinzu, daß vor allem die Ausbildung der Lehrkräfte verbessert werden müßte, da mitunter die Schüler im bilingualen Unterricht besser Lettisch sprächen als die Lehrer. Genau darin besteht das Hauptproblem. Ein großer Teil des Lehrkörpers hat noch zu Sowjetzeiten studiert und beherrscht deshalb die Staatssprache nicht hinreichend.

Der Chef der Kontrolle des Staatssprachenzentrums, Antons Kursītis, ist der Ansicht, daß 20 Jahre nach Verabschiedung des Sprachgesetzes die fehlenden Sprachkenntnisse nicht lettischer Lehrer eher auf fehlenden Willen handele und weist auf die Gefahr hin, daß die Schüler durch ein schlechtes Sprachniveau ihrer Lehrer Lettisch ebenfalls fehlerhaft erlernten. Der Inspektor gibt außerdem zu bedenken, daß nur in russischen Schulen Strafen wegen Nichtverwendung der Staatssprache vorgekommen seien, nicht aber in estnischen, litauischen und polnischen Schulen. Russisch Schulen, so sein Urteil, trügen dazu bei, eine gespaltene Gesellschaft zu erhalten.

Nach Angaben der Behörde gibt es keine regelmäßigen und flächendeckenden Kotrollen. Der Unterricht werdehospitiert, wenn eine Beschwerden über eine konkrete Lehrkraft vorliege. Die Strafe für fehlerhaftes Lettisch beträgt 25 bis 50 Lat. Im Falle einer Bestrafung besucht der Inspektor ein halbes Jahr nach der ersten Kontrolle die Schule erneut und der Verstoß wird im Wiederholungsfalle mit 100 Lat geahndet.

Daß die Bildungsreform von 2004 sich behauptet hat, sieht die Behörde durch die Ergebnisse der zentralisierten “Abiturs” bestätigt. Einstweilen haben die Schüler ethnischer Minderheiten ein Examen in Lettisch, während die Letten selbst in Lettisch und Literatur geprüft werden. In zwei Jahren sollen diese Prüfungen vereinheitlicht werden, das Sprachniveau also gleich sein.

Schon heute belegen die Ergebnisse der Schüler in den Naturwissenschaften allerdings bei den Minderheiten bessere Kenntnisse. Seit 2007 werden die Fragen für die zentrale Prüfungen nur noch auf Lettisch ausgegeben, wobei die Schüler bei der Beantwortung die Sprache auswählen dürfen. 60% entscheiden sich für Lettisch.

Von der Düna (Daugava) an den Dnjepr (Днепр)

In Lettland sind einige Geschäftsleute an die Öffentlichkeit getreten, die einen alten Plan aus der Zarenzeit in der Moderne umsetzen wollen: eine Verbindung zwischen der Daugava und dem Dnjepr zu schaffen, um von der Ostsee auf Wasserstraßen ans Schwarze Meer zu gelangen. Der Hauptinitiator, Uldis Pumpurs, sieht darin einen wichtigen wirtschaftlichen Motor. Besonders profitieren würde davon der einstweilen strukturschwache Osten Lettlands, Lettgallen.
Das erste Hindernis, die Daugava für die Binnenschiffahrt schiffbar zu machen, sind von der lettischen Hauptstadt aus gesehen die drei Staudämme in vor Riga, Pļaviņas und Ķegums. Hier müssen spezielle Lifte oder Schleusen errichtet werden. Eine andere Lösung wären den Damm umgehende Kanäle, die auch dazu beitragen könnten, das Wandern der Lachse in der Daugava wieder zu ermöglichen. Für die Binnenschiffahrt sollen nach Vorstellung der Initiative ökologisch verträgliche 3.000 bis 5.000 Tonner mit Elektro- statt Dieselmotoren eingesetzt werden, um die Wasserqualität der Anrainerkreise nicht zu beeinträchtigen, die ihr Trinkwasser aus dem Fluß beziehen.

Da in Weißrußland mindestens ein neuer Stausee errichtet werden muß, um den Wasserspiegel zu stabilisieren, erwarten die Initiatoren mit allen Bauarbeiten, Servicepersonal und Instandhaltungsarbeiten bis zu 100.000 neue Arbeitsplätze. Dabei seien die Bedarfe für Aus- und Umbildung und neue Perspektiven für den Tourismus mit Ausflugsschiffen nicht mitgerechtet.

Auch die Schiffsproduktion selbst böte neue Perspektiven, denn diese sollen nicht aus importierten Metall, sondern aus in Valmiera hergestellter Glasfaser und einer Innenverkleidung aus speziellem Furnier von Latvijas finieris bestehen. Solche Schiffe werden schon jetzt erfolgreich nach Korea exportiert.

In den 80er Jahren des 19. Jahr- hunderts wurde die Idee einer solchen Verbindung nicht weiter verfolgt, weil nach dem Bau mehrerer Eisenbahnlinien diese die Nachfrage nach Transportkapazitäten problemlos befriedigen konnte. Als erster Schritt ist der Ausbau der Verbindung von Riga nach Vitebsk vorgesehen, weil gerade Weißrußland ein großes Interesse am Projekt hat. Das Binnenland ist einstweiligen Abhängigkeit von ausländischen Häfen. Die Transportkosten würden sich für Kalium und die Produkte aus der chemischen und rohölverarbeitender Industrie wie auch dem Lebensmittelbereich sowie die Traktoren- und LKW-Hersteller MTZ und MAZ deutlich reduzieren, kostet doch der Transport auf dem Wasser etwa 60% weniger als auf der Landstraße und immerhin noch fünf Mal weniger als auf der Schiene, rechnen die Organisatoren vor. Für Lettland hingegen vereinfachte sich der Transit und der Export nach Osten. Die Gewinne aus dem Betrieb der ersten Etappe könne dann in die Verlängerung investiert werden.

Die Initiatoren erwarten schließlich Anlegestellen am Ufer der Daugava für die Verschiffung von Holz und Getreide, während der Hafen in Riga Bedeutung für die Umladung von Übersee- auf Binnenschiffe erhalten werde.

Pumpurs will eine Aktiengesellschaft gründen, deren Aktien später auch an der Börse gehandelt werden sollen. In diesem Unternehmen soll zunächst ein Umweltbeirat von Experten die ökologischen Auswirkungen untersuchen, denn diese Frage sei noch wichtiger als die ökonomische Bedeutung. Pumpurs betonte die Bereitschaft, Fehler in Konzept im Umweltinteresse zu korrigieren und schlimmstenfalls gar ganz auf den Kanalbau zu verzichten.

Da auch die EU den Wasserstraßenbau wegen des geringeren Treibstoffverbrauches fördert, erhofft sich Pumpurs auch von dieser Seite Zustimmung. Eine Direktive sieht die Verbindung der europäischen Wasserstraßen vor, eine weitere deren Verbindung mit den russischen. Der Bau des Staudammes auf weißrussischem Gebiet böte zusätzliche Sicherheit im Falle eines Unglück ins der Chemiefabrik von Polock. Ströme kontaminierten Wassers wären kontrollierbar.

Pumpurs hat bereits in verschiedenen Unternehmen gearbeitet und seine jüngste Aufgabe war als Aufsichtsratsvorsitzender die Reederei Lettland vor dem Bankrott zu bewahren. Er führte das Unternehmen wieder in die schwarzen Zahlen und gibt nun seine Position für die Kanalpläne auf. Am Projekt beteiligt sind weitere in Lettland bekannte Personen wie Ex-Regierungschef Māris Gailis und der frühere Minister Uldis Osis.

Selbstverständlich gibt es auch Zweifel. Die Idee der Verbindung von Daugava und Dnjepr kam nach der Unabhängigkeit schon einmal auf und wurde vom Verkehrsministerium nicht unterstützt. Nun gibt es Vorwürfe, es gehe nur um Gelder aus Brüssel für Gutachten, die dann anschließend zu dem Ergebnis kämen, daß sich der Wasserstraßenbau nicht lohne.

24. März 2010

Das vermeintliche EU Babel

In den 90er Jahren wollte die Bevölkerung des Baltikums so gut leben wie die Westeuropäer. Trotzdem gab es erhebliche Zweifel in der Gesellschaft, ob nach der endlich errungenen Unabhängigkeit gleich wieder der Weg in eine Union gesucht werden müsse. Einfache Menschen verstanden oft nicht, daß der Begriff Union bei den Sowjets und in Europa nicht identisch zu verstehen ist. Gurkenkrümmung und Schließung der beiden Zuckerfabriken in Lettland schienen dem zu widersprechen. So viel zum Mißtrauen gegenüber Brüssel.
Als jüngst für Estland und Lettland, und eben nur für diese beiden Länder, Brüsseler Informationsmaterial auch auf Russisch erschien, schrillten die Alarmglocken. Nicht alle Sprachen der EU-Länder sind tägliche Verkehrssprachen, aber doch offizielle Sprachen. Für die Übersetzung aller Dokumente in diese Sprachen gibt es einen speziellen bürokratischen Apparat. Aber auch wenn Russisch viele Einwohner und auch Staatsbürger in Estland und Lettland ihre Muttersprache nennen, ist sie keine offizielle Sprache der EU.

In Lettland wurden gleich wieder die Gastarbeiter, besonders die Türken in Deutschland und Österreich vorgeschoben, deren Bevölkerungsanteil in aller Regel bei weitem überschätzt wird. Auf Türkisch sei das Material ebenfalls nicht erschienen und auch nicht auf Katalonisch oder Baskisch.

Brüssel beeilte sich mit einer Entschuldigung.

Tatjana Ždanok, die zu Hause der Russenpartei Für die Rechte des Menschen in einem integrierten Lettland angehört, sitzt im EU-Parlament bei Europas Freier Allianz. Sie war 1991 gegen den Zerfall der Sowjetunion und sagt heute, daß in Lettland 40% und in Estland 30% der Bevölkerung Russen seinen. Dies sei Grund genug, dieser Sprache den Status der offiziellen Landessprache zuzugestehen.

Beide Kritiker wandten sich mit ihrer Ansicht an die zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding.

Die Sprachthematik ist nach wie vor in Estland und Lettland hochaktuell. Seit der Unabhängigkeit hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Früher sprachen eigentlich alle Balten, insbesondere in Lettland, Russisch mehr oder weniger gezwungenermaßen wie ihre zweite Muttersprache, während die zugewanderten Russen weder im öffentlichen Leben dazu gezwungen, noch von der Obrigkeit dazu ermuntert wurden, die Sprache der Sowjetrepublik zu lernen, in der sie lebten. Heute lernen die jungen Russen bereits in der Schule die Landessprache, Russisch rückte aber hinter westlichen Fremdsprachen bei jungen Esten und Letten in den Hintergrund.

Kürzlich diskutierten die Eltern von Schülern einer elitären Mittelschule in Riga über die zweite Fremdsprache für ihre Sprößlinge. Es kam zu erhitzten Debatten zwischen Deutsch und Russisch. Richtig ist, daß auf dem Arbeitsmarkt, in der freien Wirtschaft Russisch verlangt wird. Die Bedeutung des Russischen ist also weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft zu unterschätzen.
Ein Kommentar sei dem Autor dieser Zeilen erlaubt. Sprachkenntnisse sind immer ein Vorteil. Die Zugänglichkeit von Informationen in mehreren Sprachen ebenfalls. Daß die EU eine Broschüre ins Russische übersetzt, kann bei der Integration auch jenes Teils der russischen Bevölkerung, der eben Estnisch und Lettisch nicht beherrscht, nicht schaden. Und in diesem Sinne würde die Übersetzung ins Türkische, einem Land, das immerhin EU-Beitrittskandidat ist, ebenfalls nicht schaden. Arabisch, Chinesisch, Hindu – warum nicht. Mit Spanisch und Portugiesisch werden andere große Ökonomien außerhalb Europas bereits abgedeckt. Letztlich ist die Übersetzung in Sprachen der G20 Staaten, um einfach ein Beispiel zu nehmen, eher eine Frage der Finanzierung, nicht der Nützlichkeit.

23. März 2010

Waldeslust und Waldesfrust

Mehr als ein Drittel des Waldes in Lettland gehört bereits Besitzer/innen aus dem Ausland. Mit dieser Aussage erschreckte kürzlich die rechtskonservative "Latvijas Avize" in Lettland ihre Leserinnen und Leser. 20 Jahre nach Wiedererringung der Unabhängigkeit, immer noch mitten drin in einer Wirtschaftskrise, desillusioniert vom naiven Glauben an die schnelle Angleichung des Wohlstandsgefälles in West- und Osteuropa, machen sich viele Lettinnen und Letten Sorgen, ob ihr Land die Krise übersteht. In diesen Wochen würden vielleicht manche gern die Jahretage "20 Jahre Unabhängigkeitserklärung" ähnlich feiern wie die Deutschen es mit jeden Detail rund um den Fall der Mauer gemacht haben. 

Ausverkauf wegen Notlage?
Doch die Lage ist weiterhin frostig - nicht nur wegen des ungewöhnlich kalten und schneereichen Winters. Um ganze 22% ging das Angebot an freien Arbeitsplätzen im Jahr 2009 gegenüber dem Vorjahr zurück (siehe Bericht DIENA 19.3.10). Den Zahlen des zentralen statistischen Amts zufolge wurden 2009 216.300 Arbeitsplätze "eingespart", also abgebaut (47.000 davon im öffentlichen Sektor). Am größten war der Rückgang in der Bauwirtschaft (-43,1%).
Trieb es früher die Leute vom Land in die große Hauptstadt, dann ist die Lage hier momentan fast ebenso schwer. Inzwischen zählt es zum lettischen Populismus, milionenschwere Investitionen, die absehbar Arbeitsplätze kosteten, aus heutiger Sicht wieder in Frage zu stellen - die superteure neue Brücke über die Daugava gehört dazu. Oder soll vielleicht der Bau der neuen Nationalbibliothek gestoppt werden? Vor wenigen Tagen standen die Überlegungen von Rigas Bürgermeister Nils Ušakovs in den Zeitungen nachzulesen, doch vielleicht die Fahrkarten in Bussen und Bahnen wieder manuell durch Menschen ausgeben und kontrollieren zu lassen, statt durch Automaten. Das spiegelt die Stimmung wieder - allerdings nicht den Realismus. 

Vielleicht kommen ja inzwischen einige sogar aus den weit entfernten vermeintlichen Arbeitsparadiesen wie England oder Irland wieder zurück, und fragen sich: wie sieht es in unserem Land heute aus? "Abwrackprämien" oder ähnliche Konsumanreize hat es in Lettland keine gegeben - kurzfristige drastische Lohnkürzungen bei denen, die noch Arbeit haben, aber sehr wohl. Holz macht etwa 20% der lettischen Exportwirtschaft aus, da scheint es logisch, dass der lettische Verband der Holzverarbeitenden Industrie schon öfter eine Erhöhung der Einschlagsquoten um 30% forderte. Zahlen zur biologischen Vielfalt in lettischen Wäldern sprechen eine andere Sprache: die Bestandszahlen des Schwarzstorchs, der ruhige naturbelassene dichte Wälder mit hohem Grundwasserstand braucht, haben sich in den vergangenen Jahren um nahezu die Häfte verringert. 

Spekulieren und Abholzen  - marktwirtschaftliche Philosophie?
Nicht zufällig gab es einige Jahre auch ein eigenes "Waldministerium" im unabhängigen Lettland. Nein, nicht in einem Forsthaus, sondern in Riga. Doch wer entscheidet heute noch über die Art und Weise und den Umfang der Waldbewirtschaftung? 1,56 Millionen der insgesamt 4,4 Millionen Hektar Waldfläche seien in Lettland in der Hand von Besitzern aus dem Ausland, so zitiert es Zīgfrids Dzedulis in "Latvijas Avize". Auch der Frage, warum Ausländer offenbar vermehrt lettische Waldflächen kaufen, wird dort versucht zu beantworten. Kühl ökonomisch gerechnet werde hier. Waldflächen seien in Lettland eben fünf- bis zehnfach billiger als in Skandinavien. Schwedische Geschäftsleute werden zitiert mit den Worten: "Aktienkurse steigen und fallen, aber der Wert des Waldes steigt von Jahr zu Jahr. Daher kaufe ich Wald und keine Aktien." Nur die räumliche Nähe zu Russland - so die These dort - und ein daher rührendes kleines Gefühl der Unsicherheit verhindere angeblich noch, dass Ausländer auch den letzten verfügbaren Hektar lettischen Waldes noch aufkauften.
Dzedulis spekuliert weiter: selbst wo offiziell ein "Bērziņš" oder ein "Liepiņš" als Besitzer eingetragen sei, können sich auch ausländische Firmen dahinter verbergen. Und auch dort, wo offiziell ein Landstück auf 99 Jahre gepachtet sei, könne es sich um einen "heimlichen" Kauf handeln. Die Aufgabe der Entwicklung einer Strategie zur Entwicklung der Waldwirtschaft habe beim Ministerium für Regionalentwicklung gelegen, dort finde sich aber bisher in den entsprechenden Papiere kein Wort zu den aktuellen Tendenzen. Zudem wüssten die Selbstverwaltungen der Gemeinden offenbar nichts über die vorliegenden Zahlen und gäben sich (auf Nachfragen der Journalisten) verwundert. 

Immer noch ist die Zahl derjenigen, die an realistische Chancen für Lettland als Agrarland glauben, erstaunlich hoch. Daher werden solche Statistiken auch gern als Beispiel für verfehlte Landwirtschaftspolitik genommen. Wieder ein Hinweis darauf, dass die Wirtschaftskrise gern zur eigenen kritischen Standortbestimmung genommen wird. Was nützen uns denn die europäischen Strukturfonds, wenn ganze Bereiche, wie etwa das lettische Zucker-produzierende Gewerbe zum Aufgeben gezwungen wird, und Lettland den Zucker aus dem Ausland beziehen muss? Und was hilft es wenn die Preise um Land aufzukaufen in Lettland am günstigsten in ganz Europa sind? 
Dazu kommt auch, dass in den 90er Jahren viele erstmal Besitz zurück erstattet bekamen, der ihnen oder den Vorfahren von den Sowjets genommen worden war. Nur wenige waren aber in der Lage, tatsächlich langfristig Land- oder Forstwirtschaft erfolgreich zu betreiben. Und wenn dann die Krise und Mangel an Finanzmitteln dazu kommt, verkaufen viele eben gerne (und an die Meistbietenden noch lieber).

Ein Stückchen Mythos, ein Stückchen Wahlkampf
Ein Übergangsgesetz im Zuge des EU-Beitritts beschränkt die Erwerbsmöglichkeiten für Firmen und Personen aus dem Ausland (läuft 2011 aus). Ein Aufenthalt von mindestens seit 3 Jahren in Lettland und ein ebenso langes Bestehen eines landwirtschaftlichen Betriebs wird da gefordert. Allerdings können auch Firmen Waldflächen oder Land kaufen, die zu mehr als 50% Eigentümern aus Ländern gehören, mit denen Lettland international gültige Investitionsschutzabgkommen abgeschlossen hat (mit Deutschland zum Beispiel bereits 1993, seitdem können Deutsche in Lettland Land erwerben). Das einzige, was Ausländer in Lettland noch wirklich schrecke, seien "Bürokratie und Korruption" (Dzedulis). Aber Dzedulis geht noch weiter mit seinen Thesen: falls nun auch das lettische Einwanderungsgesetz geändert werde, so wie Staatspräsident Zatlers es vorgeschlagen habe, dann könnten auch solche Personen eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, die Eigentum im Wert von mindestens 100.000 Lat (auf dem Lande 50.000 Lat) erwerben. So könnte es bald Einwohner in Lettland geben, "bei denen der internationale Terrorismus Zuflucht findet."

Hysterische Parolen? Noch drastischere Formulierungen fand (mal wieder) der nicht gerade durch seine Gesetzestreue auffällig Bürgermeister von Ventspils und Patron (Sponsor) vieler lettischer Politiker, Aivars Lembergs. In seiner Hauspostille (die Neatkarīgā Rīta Avīze gehört ihm weitgehend) liess er drucken: Lettland sieht sich einer neuen Okkupation gegenüber, diesmal ohne Panzer. Wo er selbst sich immer noch Gerichtsprozessen wegen Betrug und Korruption ausgesetzt sieht, schiesst er mit (wahlkampfgeeigneter) Munition zurück: die Vereinbarung, welche die gegenwärtige lettische Regierung mit den internationalen Kreditorganisationen getroffen habe, vergleicht Lembergs mit dem Hitler-Stalin-Pakt. Zwar habe er selbst noch keine "geheimen Zusatzvereinbarungen" gesehen, aber er wirft der Regierung vor, die Menschen im Unklaren zu lassen über die wirklichen Folgen solcher Vereinbarungen. "Sie wussten, was sie unterschreiben," so der Vorwurf von Lembergs. Und mit Blick auf die anstehenden Parlamentswahlen dieses Jahr: "Wegen dieser Vereinbarungen wird es nahezu egal sein, wer die wahlen gewinnt." Die zukünftige Regierung werde gezwungen sein, die Bedingungen zu erfüllen, die bisher im Detail nur ein paar Personen der jetzigen Regieung kennen würden. "Das ist wie eine Okkupation," so Lembergs vor der lettischen Presse, "dasselbe was am 17.Juni 1940 passierte, nur diesmal ohne Panzer. Der Staat besteht weiter, nur es werden keine Menschen überleben. Die Letten sterben aus." 

Wer sich in der lettischen Geschichte ein wenig auskennt, und Lettland mag, wird sich hier mit Grausen abwenden. Welche Blüten wird der nationalistisch gefärbte Populismus (zum eigenen Nutzen, natürlich) noch treiben? Wieviel Porzellan wird zerschlagen werden dabei? Im Bereich "souverän gelebtes Selbstbewusstsein" war Lettland noch nie besondern stark. Ich kann nur hoffen, dass es nicht noch schlimmer wird.

10. März 2010

Grenzüberschreitungen

Bei geteilten Städten denkt der Deutsche zunächst einmal an Berlin, vielleicht noch an zypriotische Hauptstadt Nikosia oder auch Beirut während des Bürgerkrieges. Doch es gibt es Beispiel auch im Baltikum: Walk. Die Stadt in Livland war jahrhundertelang nicht geteilt, weil es an dieser Stelle trotz der gemischten estnischen und lettischen Bevölkerung Livlands keine Grenze gab. Die Entstand erst mit der Unabhängigkeit Estlands und Lettlands nach 1918. Aus Walk wurden das estnische Valga und das lettische Valka, das faktisch nur die südwestliche Vorstadt des Ortes umfaßte. Doch diese Teilung hielt ebenfalls nur etwa 20 Jahre an, denn mit der Inkorporation der baltischen Staaten in die Sowjetunion 1940 verschwand die Grenze wieder.

Das nationale Selbstbewußtsein trug nach der neuerlichen Unabhängigkeit 1991 dazu bei, daß die Esten auch in Vorbereitung auf den erhofften EU-Beitritt ihre Grenzen befestigen. In dieser Zeit zeichnete sich noch nicht ab, daß gleich zehn Staaten gleichzeitig der EU würden beitreten können. Während also in berlin die Mauer fiel, wurde in Walk eine Grenze gezogen.

Das bedeutete natürlich nicht, daß keine Esten mehr nach Lettland und Letten nach Estland fahren konnten. Probleme gab es trotzdem zahlreiche. Zunächst nämlich wurde zum Grenzübetritt noch gestempelt, Personalausweise gab es damals überhaupt nicht. Auf diese Weise waren die Pässe aber zügig voll und die Betroffenen waren gezwungen, vor Ablauf der Gültigkeit neue Dokumente zu beantragen. Manche Menschen wohnten im einen Teil der Stadt, arbeiteten aber im anderen. Für Verwittwete Personen wurde sogar der Friedhofsbesuch damit plötzlich eine Geldfrage.

Besonders betroffen waren die Einwohner russischer Nationalität, Migranten aus der Sowjetzeit, die wegen der Gesetzgebung in Lettland und Estland mit dem Status der Staatenlosen besonders große Schwierigkeiten beim Grenzübertritt hatten, weil sie für das jeweils andere Land auch noch ein Visum benötigten.

Am schlimmsten traf es jedoch eine Reihe von estnischen Staatsbürgern, Bewohner einer kleinen Straße, die auf estnischer Seite põhja, Nordstraße, und auf der lettischen Seite savienības, Unionsstraße heißt. Die Esten hatten sich hier in der Sowjetzeit Eigenheime errichtet, von denen ein Teil sich nach der Grenzziehung von 1920 aber auf lettischer Seite befand. Der Vorschlag eines Staatsgebietsaustausches wurde von lettischer Seite abgelehnt.

Mitte der 90er Jahre begann nach dem Vorbild der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Städte Haparanda und Tornio in Schweden und Finnland Besserung. Einzig für Personen aus dritten Staaten blieb es lange unmöglich, einen der drei Grenzübergänge im Stadtzentrum zu nutzen. Für nicht motorisierte Besucher ein großes Problem. Seitdem das Schengener Abkommen auch in Estland und Lettland gilt, sind diese Schwierigkeiten vollumfänglich beseitigt.

Obwohl die physische Grenze verschwunden ist, bleibt natürlich eine juristische, und so sind andere Ärgernisse geblieben. Darum besuchten jüngst Delegationen der Außenministerien beider Staaten die Stadt, um sich über die aktuelle Situation zu informieren. Dabei stellte sich heraus, daß es im Bereich Kultur und Sport eine umfangreiche Zusammenarbeit gibt, diese sich damit aber auch erschöpft.

Für Probleme sorgt die Infrastruktur. Zwar nimmt das Krankenhaus in Valga Patienten aus Lettland auf, die ohne europäische Versicherungskarte aber die Rechnung selbst begleichen müssen. Bringt eine Lettin ein Kind in Estland zur Welt, sind notariell beglaubigte Übersetzungen der Dokumente erforderlich, damit das Kind als lettischer Staatsbürger registriert werden kann.

Ähnlich kompliziert verhält es sich mit dem Zugverkehr. Von Riga und von Tallinn gibt es Verbidungen, die lettischen Züge halten sogar am im estnischen Valga gelegenen Bahnhof, doch die Abfahrtszeiten sind schlecht abgestimmt und verlangen stundenlanges Warten. Noch schwierigere Zustände betreffen den Nahverkehr. Obwohl die lettische Seite einen Bus angeschafft hatte, läßt sich die gewünschte Linie nicht realisieren, denn während in Estland Rentner gratis fahren, müßten sie nach dem Grenzübertritt einen Fahrschein kaufen.

Die beiden Delegationen zeigten sich nach Angaben der lettischen Presse überrascht daüber, wie viel in Valga Valka abhängig ist von Entscheidungen, die nur in der hauptstadt getroffen werden können. Die Delegationen besuchten die geteilte Stadt, weil sie ihren Regieungschef Bericht erstatten sollen.

Das Rumpelstilzchen von Riga?

Im Februar wurde in Lettland ein Datenleck beim Finanzamt bekannt. Damals hieß es in der Presse, die Ursache sei nich geklärt. Spiegel online berichtet nun über den Robin Hood von Riga, der sich selbst nach einer der Hauptfiguren in den Matrix-Filmen Neo nenne.

Neo stelle in Lettland Behörden, Politik und Wirtschaftsbosse bloß, indem er Datensätze des Fianzamtes veröffentlicht. Über Twitter habe er die Polizeigewerkschaft aufgefordert, vor dem Hintergrund der Gehaltskürzungen in den vergangenen Monaten die Daten zu prüfen. Publik wurden auch überhöhte Gehälter und Premienzahlungen bei den Stadtwerken. Die Betroffenen bestätigten die Information.

Das Internet-Nachrichtenportal delfi berichtete ebenfalls am 19. Februar über diese Vorfälle und erwähnt, daß sich die Hackergruppe “Ceturtās Atmodas tautas armiju”, die Volksarmee des Vierten Erwachens nennt. Mit diesem Begriff verbinden die Letten ihre nationalen Bewegungen Ende des 19. Jahrhunderts, aber auch in der Gorbatschowzeit.

Delfi gehört in Lettland zu den viel gelesenen Nachrichtenquellen. Daß Neo von den Letten wie ein Volksheld gefeiert wird, wie Spiegel online berichtet, erwähnt es jedoch nicht. Delfi erlaubt das freie Kommentieren, und dort gibt es sehr wohl auch skeptische Anmerkungen, die betonen, man wolle gar nicht sehen, was für die eigenen Augen gesetzlich nicht vorgesehen ist.

Während die Polizei die Untersuchung aufgenommen hat, sucht das Finanzamt nach Schuldigen im eigenen Hause. Ein Zynischer Kommentar fragt, ob die Untersuchungen sich auf die nun bekannt gewordenen Verfehlungen der öffentlichen Hand bezögen.

Als Ursache des Lecks geben Spiegel online und delfi Fehler im Computersystem an, die offensichtlich seit 2008 einen Hackerangriff möglich gemacht hätten.

4. März 2010

Botschafter flickert weg

Er war der siebte Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Lettland seit Wiedererlangung der lettischen Unabhängigkeit, aber hatte am wenigsten Zeit, hier etwas zu bewegen: Detlev Weigel (auf dem Foto links), erst seit August 2008 in Riga, verlässt die schöne lettische Hauptstadt nun schon wieder. Zwar ist vom bevorstehenden Abschied auf der Webseite der Deutschen Botschaft noch nichts zu lesen, aber dennoch ist Weigel in dieser Woche auffällig oft in der lettischen Presse zu finden: bei Abschiedsbesuchen.

Offenbar für die lettischen Gesprächs- partner Grund genug, es herumzu-twittern und zu -flickern: wenn schon Aussen- minister und Möchte- gern-Sozialreformer Westerwelle nur in Tallinn einen Antrittsbesuch macht, und in Riga nur seine Staatssekretärin vorbeischickt, dann möchte man doch wenigstens jeden anderen Anlass nutzen, um die wichtigen Beziehungen zu Deutschland zu betonen, so scheint es. Vergleicht man allerdings den Text des lettischen Außenministeriums zu Weigels Abschiedsbesuch oder des lettischen Parlaments mit der Pressemitteilung der Botschaft zum Amtsantritt 2008, dann grüßen sich freundlich die Allgemeinplätze. 

Weder soziale Probleme, Landflucht, fehlende Arbeitserlaubnisse für Letten in Deutschland, noch zurückgehende Einnahmen aus dem Tourismus sind da ein Thema. Schöne Fotos ist das einzige, was auch die Einträge auf FLICKR , YOUTUBE und das lettische Parlament Saeima zu bieten haben."Dass ich Riga verlasse, kam auch für mich sehr plötzlich," solche Sätze Weigels lassen sich tatsächlich bei Youtube nachhören. "Die Tatsache, dass ich hier innerhalb einer Woche vier wichtige Termine bekomme, zeigt, wie ausgezeichnet die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Lettland sind." Na dann. Er geht nun als Vize nach Paris. Ob es eher eine diktierte Option oder innere Mechanik des Regierungswechsels ist, wurde nicht weiter öffentlich diskutiert.

3. März 2010

Konsolidierung des lettischen Parteiensystems mit Siebenmeilenstiefeln

Nachdem sich die oppositionellen lettischen Parteien mit der die Regierung führenden Neuen Zeit auf eine Einigkeit geeinigt haben, einigen sich jetzt Volkspartei und Erste Parte / Lettlands Weg auf die Erste Volkspartei und damit offensichlich einen neuen Weg. Grund dafür ist sicher, daß weder der eine noch der andere Partner mehr für sich in Anspruch nehmen können, Volksparteien zu sein und es für beide auch kaum einen anderen Weg gibt.

Es sei erinnert, daß Lettlands Weg 1993 später unerreichte 36 Mandate in der Saeima hatte. Die Volkspartei wurde 1998 nach ihrem Erfolg aus dem Stand von allen anderen ob ihrer Führungsfigur, Andris Šķēle, geschnitten. Lettlands Weg flog 2002 aus dem Parlament und hatte anschließend als Partner auf Augenhöhe nur die Erste Partei von Ainärs Šlesers. Die Volkspartei wäre damals noch nicht bereit gewesen, für die Langzeit-Regierungspartei Platz an den Trögen zu machen.

Nun aber sieht es für beide Parteien kritisch aus. Die Einigkeit und auch das pro-russische Harmoniezentrum liegen in der Wählergunst vorn. Volkspartei und Erster Partei droht das Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit, obwohl Übervater Andris Šķēle letzten Herbst seine Rückkehr in die Politik angekündigt hatte. Ainārs Šlesers’ Partei war vor einem Jahr bei der Regierungsneubildung am Kabinettstisch nicht mehr erforderlich gewesen. Der frühere Verkehrsminister rettete sich im Frühjahr 2009 in die Position des grauen Kardinals in der Rigaer Stadtverwaltung, wo er stellvertretender Bürgermeister wurde.

Jetzt arbeiten also plötzlich zwei Parteien zusammen, die im nationalen Parlament wie auch im Rigaer Stadtrat nicht gemeinsam regieren, sondern einander opponieren. Und nicht nur das. Erst vor wenigen Wochen verweigerte sich die regierende Volkspartei im Parlament der Zustimmung zur Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfond. Allein die Stimmen der Ersten Partei / Lettlands Weg retteten dem Regierungschef von der Neuen Zeit die Mehrheit.

Von Andris Šķēle und Ainārs Šlesers, die als zwei der drei wichtigsten Oligarchen in Lettland gelten, wurde über die Aufstellung der gemeinsamen Liste bislang nichts verlautet.

Regionalminister Edgars Zalāns ist es in der Volkspartei, der öffentlich die Zügel hält. Er begründete die neue Zusammenarbeit mit den Erfordernissen, gegen die Krise Maßnahmen zu ergreifen. Der frühere und federführend von der Volkspartei abgesetzte Chef der Anti-Korruptionsbehörde, Andrejs Loskutovs, welcher seinerseits schon vor längerer Zeit zu der in der Einigkeit mitwirkenden Gesellschaft für eine andere Politik gestoßen war, meint, die Parteien wollten sich formal auf diese Weise nur um die ihnen auferlegten Strafen drücken. Beide Parteien hatten 2006 gegen die Deckelung der Wahlkampfkosten verstoßen. Dafür müßte die Volkspartei mehr als eine Million LVL zahlen, die Erste Partei / Lettlands Weg mehr als eine halbe Million.

1. März 2010

Kein Alkohol für Lettlands Schüler gegen Hoffnungslosigkeit?

Die Politik in Lettland ist eigentlich gut beschäftigt mit der Frage, wie das Land die Folgen der Krise bewältigen soll. Gab es noch vor gut zwei Jahren einen Mangel an Arbeitskräften, so steigt die Arbeitslosigkeit inzwischen schnell. Viele Menschen sehen ihre Zukunft in düsteren Tönen.

Jene Politiker, die auf dem Höhepunkt der hierzulande als „fette Jahre“ bezeichneten Zeit nach dem Beitritt zur Europäischen Union im Herbst 2006 gewählt wurden, stehen dabei nur theoretisch unter dem Damoklessschwert einer vorzeitigen Parlamentsauflösung. Darüber wurde seit der sogenannten Regenschirmrevolution im Herbst 2007 zwar viel diskutiert, die Wahrscheinlichkeit vorgezogener Neuwahlen blieb jedoch auch aus verfassungsrechtlichen Gründen gering.

Trotzdem haben die Parlamentarier jüngst, ein gutes halbes Jahr vor den turnusmäßigen Wahlen, kein wichtigeres Thema als erneut den Verkauf von Alkohol, der vor Jahren in der Zeit zwischen 22 und 8 Uhr nachts verboten wurde, frei nach dem Motto, machen Sie nicht abends Party, trinken Sie besser morgens. Diesmal ging es um die Frage, ob der Verkauf am „Tag des Wissens“, dem traditionellen ersten Schultag am 1. September unterbunden werden sollte, da sich viele Schüler an diesem Tag betränken. Um der Idee Nachdruck zu verleihen, soll der Verkauf neben dem Einzelhandel auch in Cafés und Restaurant untersagt werden.

Präsident Zatler erklärte, dieser Gesetzentwurf beweise den fehlenden Glauben der Politiker, daß an Minderjährige generell kein Alkohol verkauft werde. Das Verbot träfe natürlich auch Erwachsene und völlig Unbeteiligte wie Touristen. Die Reaktion der Betreiber in der Gastronomie war daher lakonisch; sie diskutierten, ob man an diesem Tag das Glas Wein oder Bier zum Essen nicht einfach gratis anbietet. Das wäre dann schließlich kein Verkauf. Rechtsanwalt Valdis Bergs schlug vor, dieses Gesetz vor das Verfassungsgericht zu bringen.

Das wird möglicherweise nicht nötig sein, denn der Präsident prüft derzeit, ob er dieses Gesetzt verkündet. Laut Verfassung steht im das Recht zu, das Gesetz an das Parlament zur neuerlichen Beratung zurückzureichen oder auch die Ausfertigung für zwei Monate auszusetzen, damit die Bevölkerung Unterschriften für ein Referendum sammeln kann. Die Initiatorin, Sarmīte Ķikuste von der Neuen Zeit, zeigte sich hingegen überzeugt, daß ihr viele Eltern zustimmten.

Die Debatte im Parlament selbst geriet zu einem Theater. Dort wurde argumentiert, es könne ja nicht schaden, einen Tag im Jahr mal nicht zu rauchen oder auch trocken zu bleiben. Dem schloß sich sogar der Rigaer Bürgermeister Nils Ušakovs an, auch die Touristen könnten einmal einen Tag ohne Alkohol leben. Kārlis Šadurskis von der Bürgerlichen Union hingegen provozierte mit einem Antrag, das diskutierte Verbot auch auf den 8. März auszudehnen, den internationalen Frauentag, der traditionell in Lettland intensiv begangen wird.
Dainis Turlais vom Rigaer Stadrat empörte sich ebenfalls. Ilutas und Ilmāri werden ihren Namenstag nicht mehr feiern können und Jubilare ihren Geburtstag, während die zum Alkoholgenuß entschlossenen Jugendlichen sich einfach am Tag vorher versorgen.