29. Januar 2009

Geschwisterliebe

Wenn man an das Baltikum denkt, dann denkt man an Estland, Lettland und Litauen. Wenn ich jemandem in Deutschland erzähle, dass ich aus Lettland komme, lautet die erste Frage: Ist Lettland das Mittlere der drei baltischen Länder? Danach kommen die Fragen nach den Hauptstädten. Sie werden als eine Einheit betrachtet - eben das Baltikum. Historisch gesehen ist die Einheit gar nicht so ewig, wie das erscheinen mag – erst seit dem Zweiten Weltkrieg werden die drei baltischen Staaten in Verbindung gebracht. Gemeinsam haben sie das Schicksal in der Sowjetunion geteilt – als estnische Republik, lettische Republik und litauische Republik, die baltischen Republiken eben. Gemeinsam erkämpften sie auch die Unabhängigkeit. Dieser friedliche Kampf wurde die „Singende Revolution“ genannt und sorgte für Schlagzeihlen in der ganzen Welt.
Das war vor fast 20 Jahren. Wie drei Geschwister waren die baltischen Länder damals. Hand in Hand.
Aber wie das in allen guten Familien vorkommt, streiten sich die Geschwister auch ab und zu. Wie zum Beispiel jetzt: Die estnische Gruppe Traffic, inspiriert von der Krise in Lettland, singt ein Lied über Lettland: Wenn es jemandem in Estland schlecht geht, solle er nach Lettland gucken – ihm könnte noch schlechter gehen … Die Letten könnten sich sogar keine Konserven mehr leisten, die Tempo-Taschentücher müssten sie zwei Mal benutzen. Die Parex-Bank sei leer wie ein gerodeter Wald. Der Lats sei tief im Keller, die estnische Krone sei aber stabil, eben wie ein tiefgefrorenes saldējums (Speiseeis). Wenn der Gott ein Este wäre, er hätte so etwas nicht zugelassen ... Und das sei das Ende der Baltischen Einheit ...
Na ja, ist ja nicht so schlimm und die Letten verstehen ja auch den schwarzen Humor. Aber der Grosse Bär im Osten grinst zufrieden und freut sich, wie die Balten sich gegenseitig zerfleischen ...

28. Januar 2009

Ist Lettland noch ein demokratischer Staat?

Kürzlich hatte Präsident Valdis Zatlers dem Parlament ein verfassungsrechtlich zweifelhaftes Ultimatum gestellt, um einige von ihm konkret benannte Forderungen zu erfüllen, verbunden mit der Drohung, andernfalls die Parlamentsauflösung anzuregen.

Exkurs: In einem Gastvortrag an der Rigaer Privathochschule Turība sprach am Dienstag Marlis Prinzing aus dem schweizerischen Freiburg über die Veränderungen in der Presselandschaft angesichts der sich rasant entwickelnden Möglichkeiten der elektronischen Medien.

Was hat dies mit der Demokratie in Lettland zu tun?

Während der anschließenden (schleppenden) Diskussion behaupteten einige Studenten, die Presse in Lettland sei nicht frei, in den Zeitungen stünde nicht die Wahrheheit und überhaupt dürfe man sich in Lettland nicht frei äußern – freilich ohne, daß jemanden aufgefallen wäre, daß in diesem Moment ja eben dies geschah.

Daß die Studenten des Programmes Öffentlichkeitsarbeit den Umstand verurteilten, Parteien und Politiker kauften die Publikation, überraschte, schließlich ist PR-Experte exakt, was die Studenten zumindest der Studienfachwahl nach beabsichtigt hatten.

Abgesehen davon, daß die Weisheit von der Abwesenheit einer allgemeingültigen Wahrheit trivial ist, fehlt vielen Letten das Wissen und Verstāndnis von der Eigentümerschaft im Medienwesen. Außenpluralität ist gerade gedacht, für eine Kakophonie der Meinungen zu sorgen, was im Rundfunk eben lange nicht möglich war. Also hat selbstverständlich jedes Blatt eine politische Richtigund, die taz ist nicht die FAZ, le monde nicht libération.

Doch zurück zur Ausgangsfrage. Eine fehlende Meinungs- und Pressefreiheit in Lettland zu konstatieren, ist schon ziemlich weit hergeholt. Ganz andere Dinge, die im Lande vor sich gehen, geben Anlaß zu Bedenken.

So haben nunmehr die Fraktionen begonnen, die Koordination der Parlamentsarbeit dem Präsidenten zu übertragen. Nach der Geschäftsordnung der Saeima beschließt das Präsidium über die Tagesordnung der Debatten. Die Parteien ziehen es jedoch plötzlich vor, darüber gleich in der Rigaer Burg mit dem Präsidenten zu diskutieren.

Dies gilt auch für die Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung, während die alte noch im Amt und nicht etwa zurückgetreten ist und überdies über eine Mehrheit verfügt, was Innenminister Mareks Segliņš lakonisch klarstellte, gleichzeitig jedoch die Offenheit für andere Konstellationen bekundete.

Der Präsident übernimmt damit Aufgaben, die der Verfassungs nach Legislative und Exekutive obliegen. Das Präsidentenamt in Lettland ist bereits mit für eine parlamentarische Demokratie überraschend vielen Rechten ausgestattet. Jetzt aber befindet sich das politische Alltagsgeschäft nicht mehr auf dem Boden der Verfassung.

In Lettland sehen das einige gelassen, verlangt doch der Präsident in der Krise das, was schon lange die Hausaufgaben der Politik gewesen wäre. Aber eine Demokratie muß sich gerade in der Krise beweisen, so wie beispielsweise mit dem Impeachment gegen Rolandas Paksas in Litauen vor wenigen Jahren.

Tag der vergessenen Opfer

Am 27.Januar vor 61 Jahren,1945, wurden die Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz von Soldaten der Roten Armee befreit. Seit 1996 gilt dieser Tag in Deutschland dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Zu diesem Anlass fand eine Feierstunde des Bremer Senats in Bremen Rathaus statt.

Als besonderer Gast war Alexander Bergmann aus Riga, der Vorsitzende des "Vereins ehemaliger Getto- und KZ-Häftlinge Lettlands". Er stellte sein Buch "Aufzeichnungen eines Untermenschen" vor. Der bislang nur in Russisch vorliegende Abhandlung ist jetzt auch in deutscher Fassung erschienen.
Bergmann sprach über das Leid und über den Schmerz, als er sich an die Ermordung seiner Mutter, des jüngeren Bruders, anderen Verwandten und später auch seines Vaters erinnerte. Er sprach über die Gleichgültigkeit der Menschen, die das alles zulassen könnten. Und über die Rache... Nach dem Krieg sollte die Rache zivilisierte Formen annehmen. Aber dann kam wieder die Enttäuschung: Die Massenmörder wurden 1946 im Nürnberger Prozess, nach Meinung Bergmanns, nur milde bestraft. Erst 1993, nach dem Zusammenbuch des sowjetischen totalitären Regimes, könnte Bergmann darüber offen sprechen, aber auch dann musste er auf die Gleichgültigkeit und Desinteresse der Menschen stoßen.
1941 - 1944 wurde Lettland zu einen Zentrum des Massenmordes an den europäischen Juden. Während der deutschen Besetzungszeit fanden Vernichtungsaktionen der deutschen Besatzungsmacht gegen Juden statt, die zur fast völligen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Lettland führte. Die lettische Volks- zählung 1935 ermittelten 93.479 Juden in Lettland. Es wird geschätzt, dass etwa 70.000 lettische Juden während des Holocausts umkamen. Auch mehrere tausend deutsche und österreichische und andere europäische Juden wurden zwischen November 1941 und Februar 1942 nach Lettland deportiert. Nur Wenige überlebten Verfolgung, Getto- und KZ-Haft und Zwangsarbeit bis zur Befreiung 1944. Einer davon war Alexander Bergmann.
Auch Letten waren in allen Bereichen am von den Besatzern initiierten Holocaust beteiligt, von Erschießungsaktionen bis zur Registrierung und Beschlagnahme jüdischen Eigentums. Eine lettische Übersetzung des Buches "Aufzeichnungen eines Untermenschen" von Alexander Bergmann ist in Vorbereitung.
Mehr zum Thema:

27. Januar 2009

Mehr positive Nachrichten


Der lettischen Presse wird in der letzen Zeit immer wieder vorgeworfen, sie übermittele nur negative Nachrichten. Auch heute: Eine im Jahr 1922 geborene Frau ist in Riga aus dem Fenster gesprungen. Sie erlag ihren Verletzungen. Das klingt ja so traurig, nicht wahr?

Ich hätte ja die Nachricht positiver geschrieben. Ungefähr so:

„Heute ist nur ein Weib in Riga aus dem Fenster gesprungen. Die übrigen haben zum Glück überlebt.“ In unserer Erinnerung haben wir noch das tragische Ereignis vor ein paar Jahren, in dem viel mehr Frauen ums Leben kamen. Das alles hat uns Daniil Kharms überliefert:

„Eine alte Frau lehnte sich aus übergroßer Neugierde zu weit aus dem Fenster, fiel und zerschellte.

Aus dem Fenster lehnte sich eine zweite alte Frau und begann, auf die Tote hinabzuschauen, aber aus übergroßer Neugierde fiel auch sie aus dem Fenster, fiel und zerschellte.

Dann fiel die dritte alte Frau aus dem Fenster, dann die vierte, dann die fünfte.

Als die sechste alte Frau hinausgefallen war, hatte ich es satt, ihnen zuzuschauen, und ging auf den Malcevskij Markt, wo man angeblich einem Blinden einen gestrickten Schal geschenkt hatte.“*

* Daniil Kharms war ein russischer Schriftsteller, dessen Kurzgeschichten in der Sowjetunion verboten waren. Mehr Geschichten von Kharms:

http://www.geocities.com/Athens/8926/Kharms/Kh_de.html#018

Mehr über Kharms:

http://de.wikipedia.org/wiki/Daniil_Kharms

26. Januar 2009

Schneller, als die Polizei erlaubt?


Nee, diesmal war er nicht schneller, die Polizei war flotter. Sie war schon auf dem Albertplatz im Zentrum von Riga, als er DAS noch nicht beendet hatte. Und er dachte auch nicht daran, DAMIT aufzuhören, als die Polizisten direkt vor Ort waren. Als er endlich DAMIT fertig war, wurde er festgenommen. Die Polizei hatte sogar doppeltes Glück: Der Betrunkene, der DAS an einem öffentlichen Ort machte, ohne sich zu schämen, stand auf der Liste der polizeilich gesuchten Personen. Gut, das in Rigas Zentrum so viele Überwachungskameras und so wenig öffentliche Toiletten sind. Alles hat seinen Sinn - und auch seinen Nutzen. Fazit: Wenn auf dem Albertplatz eine öffentliche Toilette wäre, hätte die Polizei den Verbrecher nicht gefasst...

24. Januar 2009

Lettlands politischer Totalbankrott

Lettland kämpft zur Zeit mit dem Staatsbankrott. Ursache dafür ist einerseits die weltweite Finanzkrise, aber viele Probleme sind auch hausgemacht. Seitdem dieses Versagen offensichtlich geworden ist, demonstriert auch die politische Elite den vollständigen politischen Bankrott.

Die derzeitige wirtschaftliche, soziale und politische Situation im Lande weist alle Merkmale auf, die in den 30er Jahren nicht nur in Lettland zu Putschen und einer autoritären Herrschaft geführt haben. Die Politik hat über Jahre nichts unternommen, die gegenwärtige Krise zu verhindern oder ihr Eintreten abzuschwächen – ganz im Gegenteil. In Angesicht der Wirtschaftskrise ist die Politik nicht in der Lage, Politikangebote zu machen. Während der Regierungschef noch versucht, den endgültigen Staatsbankrott zu verhindern, offenbart der Finanzminister seine Unfähigkeit aus Gründen der fachlichen Kompetenz wie auch seiner Fremdsprachenkenntnisse, den Prozeß der Unterstützung wenigstens zu verwalten. Der Innenminister ist nicht in der Lage, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen – und bezieht sich nicht nur auf die Randale vom 13. Januar. Parteien und Politiker rennen wie aufgescheuchte Hühner auf der politischen Bildfläche hin und her. Man übertrifft sich verschiedensten Ankündigungen von Beschlüssen und Reformen auch im politischen System, die zum Teil schon lange diskutiert wurden, aber von der Politik immer auf die lange Bank geschoben wurden. Das betrifft die parteipolitische Zusammensetzung des Kabinetts, die Aufteilung der Ressortzuständikeiten, das Wahlsystem und die Möglichkeiten der Staatsorgane zur gegenseitigen Kontrolle, konkret: die Frage der Parlamentsauflösung.

Der politische Bankrott kommt aber nicht überraschend, er hatte sich angekündigt. Während die plötzlich in wiedererlangter Unabhängigkeit regierenden Politiker, die gar keine Erfahrung mit Demokratie und Marktwirtschaft hatten, noch während der 90er Jahre bedauerliche, aber doch partiell verzeihliche Fehler machten, die auch die frühere litauische Ministerpräsidentin, Kazimiera Prunskienė, als Kinderkrankheiten bezeichnete, schickten sie sich später eben weder an, aus ihren Fehlern zu lernen, noch zeigten sie oft Bereitschaft, demokratische Spielregeln zu beachten.

Der Skandal mit den in Liechtenstein verschwundenen drei Millionen Lat im Rahmen des Zusammenbruchs der Banka Baltija, könnte tatsächlich ein dummer Unfall gewesen sein, der geschehen konnte, weil niemand ordentlich aufgepaßt hat. Die Summe ist auch eher als Peanuts zu bezeichnen. Aber es ging um den moralischen Schaden.

Die Schwierigkeiten der Regierungsbildung 2004 ließen erstmalig aufhorchen. Sogar Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga protestierte seinerzeit, es könne schlechterdings nicht sein, daß ein Parlament, in dem zwei Drittel der Abgeordneten liberalkonservative – oder besser lettisch national –orientierte Parteien vertreten, außer Stande sind, eine Koalition zu bilden. In dieser Form ermahnt einigten sich die politische Parteien auf eine Minderheitsregierung – die kurzlebigste seit 1991 überhaupt. Freilich ging es damals weniger um politische Meinungsverschiedenheiten als um persönliche Animositäten. Wer läßt wen an welchen Töpfen teilhaben, wer zeigt mit nacktem Finger auf angezogene Leute und wer spricht aus, daß der Kaiser nackt ist.

Die Ignoranz gesetzlich festgelegter und demokratischer Verfahren wurde dann mit dem Jūrmalgeit-Skandal 2006 deutlich. Einigen Parteien und Politkern schien es zu riskant, in Jūrmala den Posten des Bürgermeisters auf “normale” Weise zu besetzen. Tragischerweise wurde dies öffentlich. Aber die Politiker saßen diesen Skandal aus.

Daß die regierende Koalition ein gutes Jahr später gerne jemanden in die Rigaer Burg wählen wollten, der ihnen genehmer ist als die scheidende Präsidentin, mag dahingestellt sein. Auch in anderen Staaten wählt keine Partei einen politischen Gegner in ein wichtiges Staatsamt. Und das erlaubt die Verfassung den Regierungsparteien. Aber mußte der Angeordnete Jänis Lagzdiņš anschließend vom Fenster des Abgeordnetenhauses der Bevölkerung wirklich den sprichwörtlichen Stinkefinger zeigen? Die Wahl des Präsidenten ist schließlich keine Mittelstufenfete.

Gegenwärtig wissen die Politiker nicht mehr so recht, was sie tun sollen. Da das Parlament sich nicht selbst auflösen kann, bleibt ihnen nur eine Möglichkeit des Handelns offen – eine Regierungsumbildung. Dies wiederum geht nur unter Beteiligung der Schmuddelkinder – also des „prorussischen“– Harmoniezentrum oder dem – streng Korrektheit einfordernden – bösen Onkels von der Neuen Zeit. Und diese Entscheidung findet unter Ungewißheit statt: Was nun wird dieser unberechenbar gewordene Präsident als nächstes tun? Gegen den Buchstaben der Verfassung hat er bislang nicht verstoßen und die politischen Parteien verboten oder das Parlament vollständig suspendiert. Den Geist seines Amtes hat er allerdings besonders nach dem 13. Januar nicht besonders Ernst genommen.

Doch dies gilt für die Koalitionäre ebenso. Die Idee, das Kabinett zu verkleinern, ist nicht neu. Zwei Portfolios für besondere Aufgaben ohne bürokratischen Unterbau wurden bereits liquidiert. Während aber das Verkehrsministerium, dem mit Ainārs Šlesers einer der bislang einflußreichsten Persönlichkeiten nicht angetastet werden soll, obwohl eine Zusammenlegung mit der Wirtschaft inhaltlich nachvollziehbar und gangbar wäre, wehrt sich die Union aus Grünen und Bauern gegen eine Vereinigung des Landwirtschaftsressorts mit der Umwelt. Argument: Dies sei nicht gut für die Umwelt, die Bauern könnten lauter brüllen. Fragt sich nur, wie es auf Parteitagen dieser politischen Kraft zugeht. Aber damit nicht genug: es wurde sogar vorgeschlagen, das Innenministerium und die Justiz zu koppeln. Nicht zu fassen!

Die nächste Frage ist außerdem, ob Ministerpräsident Godmanis noch Lust hat, mit diesen oder auch anderen Parteien weiterzuregieren. Und wenn nein, wer soll es dann machen? Die im Dezember für eine zweite Amtszeit bestätigte Chefin des Rechnungshofes – der auf Lettisch pikanterweise “Staatskontrolle” heißt, Inguna Sudraba, wird immer wieder genannt. Sie war bereits während ihrer ersten Amtszeit eine politischere Persönlichkeit, als es das Amt für gewöhnlich vorsieht.

Daß es noch zu keinem Umsturz gekommen ist, liegt wohl begründet in der Alternativlosigkeit. Wohin sollte das bankrotte demokratische System stürzen? Jedwede Abkehr von einer wenigstens formalen Denmokratie ist für Lettland als Mitglied von NATO und EU nicht vorstellbar.

21. Januar 2009

Vom Saulus zum Paulus? Präsident Zatlers am Rande von Verfassungsmäßigkeit und Demokratie

Monatelang haben Presse und Bevölkerung den 2007 gewählten Präsidenten belächelt und verspottet. Er sei im Zoo auserwählt worden hieß es. Und es wurde sicher nicht zu Unrecht behauptet, er sei jene politisch genehme Figur, welche sich die regierende Koalition für die Rigaer Burg ausgesucht habe, um von dort aus kein Störfeuer mehr befürchten zu müssen wie noch während er Ägide seiner Vorgängerin.

Zalters machte einem zweifelhaften Ruf alle Ehre, angefangen mit dem Bekanntwerden seiner nicht versteuerten Dankeszahlungen von Patienten über sein offensichtlich fehlendes Verständnis des Politischen und bis hin zu unglücklichen rhetorischen Patzern: “Wer bin ich?”

Von politischer Ahnungslosigkeit zum politischen Präsidenten
Seit die Letten aber im Herbst 2007 erstmalig wieder massenhaft auf die Straße gingen, um gegen ihre politische Elite und deren Regierung zu protestieren, wandelte sich das Staatsoberhaupt. Immer häufiger mischte er sich in das politische Alltagsgeschäft mit Kommentaren ein. Schließlich machte er von seinem Gesetzesinitiativrecht Gebrauch und iniitierte eine Verfassungsänderung, welche dem Volk die Möglichkeit geben sollte, das Parlament aufzulösen. Diesen Entwurf torpedierte die regierende Koalition, indem ihre Abgeordneten bei den betreffenden Ausschußsitzungen durch Abweseheit glänzten und die Beschlußfähigkeit verhinderten.

Nach den Ausschreitungen vom 13. Januar – ein historisches Datum, weil 1905 an diesem Tag Demonstranten auf dem Eis der Daugava zusammengetrieben und viele erschossen worden waren – wurde aus Zatlers bereits vorher schärferem Ton eine handfeste Drohung: Wenn das Parlament nicht mehrere Aufganben bis zum 31. März verabschiede, werde er eine Auflösung des Parlamentes anregen. Die Verfassung verlangt für diesen Fall ein Referendum, dessen ablehnender Ausgang den Präsidenten das Amt kosten würde. Eine andere Möglichkeit der Parlamentsauflösung sieht die Konstitution nicht vor.

Vom politischen Präsidenten zum Populisten
Dieser Schritt an und für sich ist bereits verfassungsrechtlich fragwürdig. Mehr noch sind es die konkreten Forderungen.

Das Parlament möge nach der Entlassung von Loskutovs als Chef der Anti-Korruptionsbehörde endlich einen neuen Leiter bestellen, mag als Aufforderung berechtigt sein. Die Frage des Ultimatums ist es jedoch nicht. Gewiß, in der Verfassungs ist nicht festgelegt, in welcher rhetorischen Form und welchem Zeitrahmen der Präsident von seinem Recht Gebrauch machen darf oder soll. Bedingungen zu stellen und ein Ultimatum zu setzen, bedeuten jedoch eine Drohung, von der anschließend schwierig wäre, sich wieder zu distanzieren. Zatlers sollte also besser vor die Presse treten und seinen Schritt mit einer entsprechenden Begründung mit der Ankündigung auch sofort einleiten. Die jetzt ausgesprochene Drohung kommt als Erpressung einer Einmischung in das politische Alltagsgeschäft der Gesetzgebung gleich, welche die Verfassung nicht deckt.

Doch auch die anderen Forderungen bedeuten einen tiefen Eingriff in die Rechte der anderen Staatsorgane, welchen keine demokratische Verfassung vorsieht. So verlangt der Präsident:

1. Neue Gesichter in der Regierung und eine Regierung der nationalen Einheit. Dem Präsidenten gesteht die lettische Verfassung des Recht zu, einen Ministerpräsidentenkandidaten zu benennen, der in Lettland nicht unbedingt ein gewählter Abgeordneter sein muß. Die Zusammensetzung einer Koalition und die Bestellung des Kabinetts jedoch gehören zu seinen Aufgaben nicht.

2. Zatler beklagt, daß bereits zehn Prozent der Abgeordneten der Saeima Parteien vertreten, deren Listen bei den vergangenen Wahlen nicht angetreten sind. Das ist zutreffend. Die Volkspartei und die neue Zeit haben Abspaltungen zu beklagen, die sich im Falle der Bürgerlichen Union mit fünf Angeordneten auch direkt als Fraktion konstatieren konnte.
Auch die lettische Verfassung unterwirft den Abgeordneten aber nur seinem Gewissen. Angesichts der lose gebunden Listen ist überdies schwierig festzustellen, wieviele Wähler für die ehemalige Partei der ausgetretenen Abgeordneten nur wegen der Präsenz eben dieser Kandidaten gestimmt haben. Wenn Zatlers also indirekt verlangt, Abgeordnete, die ihre Partei verlassen, müßten ihr Mandat zurückgeben, um Platz zu machen für einen Nachrücker aus den Reihen der Partei, so entspricht dies erstens mitnichten dem Wählerwillen und zweitens wäre dies ein klarer Verstoß gegen demokratische Prinzipien. Es obliegt allein dem Wähler beim folgenden Urnengang über das Schicksal der Parteiabtrünnigen zu entscheiden, nicht dem Präsidenten, Fraktionen oder Parteien.

3. Von den Verantwortungsträgern verlangte Zatlers Professionalität und Fremdsprachenkenntnisse. Demnach sollte also der Gesundheitsminister Arzt, der Bildungsminister Professor und der Außenminister Diplomat sein wie der Innenminister Polizist und der der Verteidigungsminister Soldat? Diese Äußerung wirft der Politik ihr Sein vor. Es ist trivial, daß auch Experten in ihren jeweiligen Gebieten alles andere als einer Meinung sind und politische Entscheidungen selbstverständlich fachlich begründet werden müssen, wofür eines eine Ministerialbürokratie gibt. Aber es ware gefährlich, dem Arzt eine Meinung zum Umgang mit Nachbarländern abzusprechen oder dem Verteidigungsminister die Wahl des behandelnden Arztes zu verweigern usw.
Die Foderung nach Sprachkenntnissen ist ein witzige Fußnote am Rande, hatte doch der Präsident selbst sich jüngst geweigert, in einem russischsprachigen Fernsehkanal mit den Zuschauern Russisch zu sprechen.

4. Zatlers verlangt auch eine Anderung des Wahlsystems in Form der Unterbindung der Lokomotivfunktion populärer Politiker. Dies wird auch in wissenschaftlichen und journalistischen Kreisen verlangt. Gemeint ist, daß populäre Kandidaten nicht durch das Antreten in mehreren oder auch allen Wahlkreisen in der Folge anderen Kandidaten auf der Liste zum Erfolg verhelfen, wenn sie im konkreten Wahlkreis nicht als gewählt betrachtet werden, da freilich jeder Politiker nur ein Mandat einnehmen kann.
Diese Position habe ich bereits früher politikwissenschaftlich diskutiert und die Logik des Arguments in Frage gestellt, weil in der Wirkung, daß nämlich aufgrund der Popularität einer konkreten Persönlichkeit auch unbekannte Kandidaten den Einzug in das Parlament schaffen, kein Unterschied besteht, wenn der Wähler in Wahlkreis A, der einen Kandidaten aus dem Wahlkreis B bevorzugt, zu dessen Unterstützung – ohne die ja auch der gewünschte Politiker nicht an die Macht kommen kann – zwar in seinem Wahlkreis die gleiche Partei, damit aber andere Kandidaten wählt.
In Lettland mit seiner gesographischen Struktur einer Hauptstadt Riga, in der wasserkopfartig ein Drittel der Bevölkerung des Landes lebt, stellte sich sofort auch die Frage, ob dann jeder Politiker nur an seinem Wohnort kandidieren darf. Da die Elite des Landes weitgehend in der Hauptstadt lebt, stellte diese Forderung ein logistisches und demokratietheoretisches Problem dar.

Was nun?
Der lettische Politologe Ivars Ījabs hat treffend formuliert, daß vorgezogene Neuwahlen in einer Demokratie etwas völlig normales seien und keinesfalls eine Katastrophe. Die politische Elite hat vor allem unter dem vorherigen Regierungschef Aigars Kalvītis versagt. Das Vertrauen der Bevölkerung hat die Politik verloren. Und dies konnte sich auch unter Ministerpräsident Ivars Godmanis nicht wirklich ändern, weil eben fast nur der Regierungschef ausgetauscht wurde, der selbst ebefalls ein teil dieser Elite ist.

In- und ausländische Beobachter sollten sich jedoch von allfälligen Neuwahlen nicht zu viel erhoffen. Zwar gibt es zwei neue Parteien, doch diese sind wie so viele zuvor aus der politischen Elite heraus entstanden und nicht aus einer Bewegung in der Bevölkerung entstanden. Hoffnung bestünde bei einem Sieg dieser Kräfte also bestenfalls auf integrere Amtspersonen als jene, die Lettland bisher regiert haben. Zweifel dürfen jedoch bestehen, denn keineswegs sind diese neuen politischen Kräfte so populär, daß sie problemlos obenauf schwängen.

Auch muß zunächst ein erfolgreiches Referendum abgehalten werden. 2007 und 2008 fielen insgesamt drei derartige Volksabstimmungen aufgrund zu geringer Beteiligung durch. Und die Politikverdrosenheit inklusive des fehlenden Angebots einer parteipolitischen Alternative droht die Wahlbeteiligung eher noch zu sinken. In diesem Fall hätte ein neues Parlament nicht viel mehr Legitimität als das alte.

Man könnte auch mit einem Wort sagen, so lange die Bevölkerung die Demokratie nicht verstanden hat und teilweise auch nicht verstehen will, wird die lettische Demokratie ein potjomkinsches Dorf. Bleiben.

In Lettland nichts Neues?

Zugegeben etwas spät, aber vielleicht doch nicht ganz ohne Neuigkeiten.

Noch vor kurzem waren Interviews des Präsidenten lakonisch: alles geschehe dem Buchstaben des Gesetzes folgend. Die Regierung erweckte den Eindruck, alle Kritik einfach aussitzen zu wollen (und zu können). Bis die Fianznkrise Lettland mit voller Wucht heimsuchte. Seither macht die Regierung eher den Eindruck der Hilflosigkeit.

Jetzt plötzlich genügen eine Hand voll angetrunkener Randalierer, daß die Politik in nervöse Gesachäftigkeit verfällt. Wenn jetzt Innenminister Segliņš plötzlich sogar das Parlament aufgelöst sehen möchte, so ist diese Meinungäußerung verdächtig. Oder sollte der oberste Chef der Polizei plötzlich eine Harakiri-Politik für sich und die Volkspartei, deren Vorsitzender er seit wenigen Monaten ist, befürworten?

Was ist passiert?
Die Altstadt von Riga wurde am Abend des 13. Januars von Ausschreitungen im Anschluß an eine friedliche Demonstration gegen die Regierung erschüttert. Zu der Kundgebung hatten verschiedene Organisationen, darunter Gewerkschaften und die Partei „Gesellschaft für eine andere Politik“ aufgerufen. Diese Partei hatten die früheren Minister der Volkspartei, Štokenbergs und Pabriks, nach ihrem Ausscheiden gegründet.

Das Datum ist historisch, weil im jahre 1905 ebenfalls Demonstrationen gegen die sozialen Lebensbedingungen stattgefunden hatten. Damals waren Demonstranten auf dem Eis der Daugava von den Sicherheitskräften erschossen worden. Auch 1991 waren die Januartage spektakulär durch Übergriffe sowjetischer Sondereinheiten in Vilnius und Riga.

Erinnerungen wurden dieses Jahr wach an die Ausschreitungen in Ungarn 2006 und die sogenannte Bronzenacht in der estnischen Hauptstadt Tallinn 2007. Mit ersterem sind die Rigaer Ereignisse partiell vergleichbar, ging es doch um die soziale Situation und das Handeln der Regierung. Während in Ungarn der Ministerpräsident zugegeben hatte, die Bevölkerung im Wahlkampfes belogen zu haben, so ging es in Lettland eher um eine Lebenslüge der vorherigen Regierungen, welcher die Bevölkerung nur zu gerne Glauben geschenkt hatte, als von den fetten Jahren die Rede war. Immerhin hatten die Wähler 2006 ihre Regierung im Amt bestätigt.

Angesichts der aufkommenden Krise wurde in den letzten Monaten diskutiert, ob es ein Zufall sei, daß erneut der Physiker Godamnis die Regierungsgeschäfte führt, während die Bevölkerung mit harten Zeiten konfrontiert wird. In der mittwöchlichen Diskussionssendung "Kas notiek Latvijā“ (Was geschieht in Lettland), die vergleichbar ist mit der Sendung von Anne Will im deutschen Fernsehen, waren sich die Zuschauer einig, daß die Regierung Schuld sei an den Geschehnissen. Dies war das Ergebnisse einer Telefonumfrage während der Sendung. Die Antwortoptionen sind jedoch regelmäßig hinreichend suggestiv, so daß diese Antwort nicht überraschend kam.

An der Fernsehdiskussion nahm auch ein Teilnehmer der Demonstration teil, der bereitswillig Auskunft gab, Steine gegen das Parlament geworfen zu haben, und begründete dies damit, daß dies die einzige noch mögliche Form des Protests sei. Leider fragte ihn nicht einmal der Moderator, wogegen sich diese Form des Protests im Detail richte, warum er diese als erfolgversprechend betrachte und ob es nicht eher darum gehe, aufgestaute Wut abzureagieren. Als Lösung schlug der Demonstrant vor, daß eventuell ein anderes Wahlsystem helfen könnte. Doch auch hier wurde er von keinem Gesprächsteilnehmer gefragt, wie dieses aussehen solle.

An der Demonstration hatten nach Berichten von Beobachtern durchschnittliche Menschen teilgenommen und viele Arbeitslose, die im Rahmen der Krise jüngst ihren Arbeitsplatz verloren hatten. Das Publikum sei gemischt gewesen, es erschienen Russen und Letten.

An den anschließenden Ausschreitungen seien 80% der Beteiligten Personen gewesen, die schon früher einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren, wie die Überprüfung nach 106 Festnahmen ergab. Während die Polizei beklagte, daß herumstehende Schaulustige keinerlei Anstalten gemacht hätten, die Gewalttäter von ihren Aktionen abzuhalten, wurde von Journalisten berichtet, daß sich schon während der friedlichen Demonstration zahlreiche angetrunkene Jugendliche auf dem Domplatz eingefunden hätten, die durch Gespräche untereinander deutlich ihr Desinteresse gegenüber der eigentlichen Kundgebung zum Ausdruck gebracht hatten.

Den erwähnten Organisatoren kann die Absicht eines Endes der Demonstration mit Randale nicht unterstellt werden. Im Internet kursierten vor der Veranstaltung Aufrufe zur Gewaltanwendung, welche die offiziellen Organisatoren bereits Tage zuvor dazu veranlassten, sich von solchen Tendenzen öffentlich zu distanzieren.

Reaktionen der Politik
In den Medien wurde berichtet, daß die Polizei am Domplatz vorwiegend das Geschehen vom Balkon des Radiogebäudes beobachtet habe, ohne wirklich einzugreifen. Der frühere Chef der Polizei, Juris Rekšņa erklärte, man sei früher auf ein solches Ereignis besser vorbereitet gewesen. Daß zu anderen Gelegenheiten Polizisten bereits während der Veranstaltung in der Menge verteilt diese in mehrere Gruppen unterteilt hätten, bestätigte auch die inzwischen beim Providus-Institut arbeitende frühere Polizistin Ilona Kronberga. Die gleiche Autorin spricht auch von einer zahlenmäßigen Unteerlegenheit, pro Demonstrant sei nur 0,01 Polizist auf dem Domplatz gewesen. Dem Autor dieser Zeilen ist bei den Fernsehbildern aufgefallen, daß unter den acht demolierten Fahrzeugen ein umgekippter VW-Bus alten Baujahrs der Munizipalpolizei zu sehen war, wie er im alltäglichen Straßenbild nicht zu finden ist..

Aus der Polizei selbst gab es Stimmen, das Vorgehen sei zu lasch gewesen. Dies wies Innenminister Segliņš zurück. Selbstverständlich hätte man härter vorgehen können, dies sei aber nicht erforderlich gewesen. Statt dessen warf dem früheren Außenminister Pabriks vor, erst zur Demonstration aufgerufen zu haben, um dann während der Ausschreitungen im Fernsehen live die Polizei zu kritisieren. Es sei ihm heute peinlich, so Segliņš weiter, früher mit Štokenbergs und Pabriks in einer Partei gewesen zu sein.

Unter den Demonstraten waren privat und in zivil auch zahlreiche Polizisten, die ihren Kollegen nicht zur Hilfe eilen konnten. Der oberste Ordnungshüter Segliņš hatte rhetorische gefragt, ob man es durchgehen lassen könne, daß Polizisten in Uniform den Sturz der Staatsmacht verlangen könnten.

20. Januar 2009

Segliņš und Rotwein


Alle Letten wissen jetzt, dass der lettische Innenminister Mareks Segliņš Rotwein und seine Frau Weißwein bevorzugt. Er kaufte seinen Rotwein am Abend des 13. Januars, als in Riga so viel randaliert wurde, in einem Restaurant, weil er keine langen Schlangen an den Supermarktkassen leiden kann. Die Letten wissen auch, dass er schon seit drei Jahren keinen Hochprozentigen Alkohol konsumiert, nur Wein und Bier. Und auch, dass er von dem Vandalismus in Rigas Altstadt vordem Fernseher mit einem Rotweinglas in der Hand erfahren hat. Er hat auch keinen eigenen PKW, und da sein Fahrer den Dienstwagen schon in der Garage geparkt hatte, musste er auf ihn warten. In dieser Zeit schickte er ein paar SMS an seinen Kollegen in Riga, die vor Ort waren, und eine an seine ehemaligen Parteikameraden Artis Pabriks, in der er ihn als einen Verräter bezeichnete. Und alle wissen jetzt auch, dass Segliņš niiiiiiiiiiie mehr im Leben Pabriks „Hallo” sagen wird...

Über das alles wissen jetzt Letten bescheid. Und das Volk hat auch das Recht zu wissen, was die Minister machen oder welcher ihre Lieblingsweinsorte ist. Weil in Lettland fast jeder jeden kennt und wenn man nicht direkt mit jemandem befreundet, verwandt oder verschwägert ist, dann ist die Tante der Nachbarin väterlicher Seite bestimmt mit dem zusammen zur Schule gegangen … So ist es eben … in kleinem Lettland.

18. Januar 2009

Die vierte Macht und die Demokratie

Wir sind so stolz darauf, in einem demokratischen Land zu wohnen. Demokratie ist die Voraussetzung aller menschlichen Freiheiten. Die Freiheit ist der Leitidee allen Fortschritts der menschlichen Dinge, so der Philosoph Ralf Dahrendorf. Die Grundsätze der Freiheiten sind im Grundgesetz festgehalten, u.a., die Freiheit einen Beruf zu wählen, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit u.a. Und damit fangen auch die Probleme an.

Pressefreiheit

Jeder kann schreiben, was er will. Jedes Medium kann publizieren und senden, was und wo sie wollen, so weit das mit dem Pressegesetz vereinbar ist. Und jedes Medium hat die Wahl, was es sendet oder was es veröffentlicht. Es hat auch die Wahl, was es nicht sendet und was es nicht veröffentlicht. Und mit der Auswahl kommt es unabwendbar zu einer Gewichtung.

Ein Beispiel aus den Ereignissen der letzten und vorletzten Woche in Lettland. Neben dem Aufruf der Partei „ Sabiedrība citai politikai” (Die Gesellschaft für eine andere Politik)zu einer friedlichen Demonstration am 13.01. um 17:30, wurde am 9.01.2009 im Internet eine Aufforderung verbreitet, am 13.01. gewalttätig die Regierung zu stürzen. Zwar wurde die Internetseite mit dem Aufruf unmittelbar danach gesperrt, aber die Initiatoren haben ihr Ziel erreicht – der Aufruf wurde von vielen Massenmedien aufgegriffen und weiterverbreitet. Zwar wurde offiziell die Aufforderung verurteilt, und der Initiator der „friedlichen“ Demonstration Aigars Štokenbergs hat Abstand davon genommen, aber immerhin, sie wurde zitiert und so weiterverbreitet.

Noch ein Beispiel: Am 14.01, am nächsten Tag nach der Demonstration, hat die lettische Zeitung „Diena“ einen neuen Appell verbreitet, den Innenminister zu entlassen und eine unabhängige Kommission einzuberufen, die die Ereignisse des Vortages unabhängig untersuchen sollte. Nach Meinung der Verfasser des Briefes, seien die Regierung und die Polizei dafür verantwortlich, dass so viel angerichtet wurde. Das wäre aber genauso, wie dem Opfer eines Diebstahles zu sagen, es sei selbst schuld, dass bei ihm eingebrochen wurde – warum habe es keine drei Schlösser und kein Panzerglas eingebaut. Und damit wurde noch ein Ziel erreicht – der Ruf der „schlechten Regierung“ wurde noch mehr lädiert.

Aus den oben genannten Beispielen kann man sehen, dass die Presse zu Unrecht nur als die vierte Macht im Staat genannt wird. Sie hat Macht über das Bewusstsein der Menschen und das weiß sie auch. Weil die wahre Macht der hat, „wer machen kann, dass andere etwas machen“ (Marcus Knill). Und meiner Meinung nach musste nicht nur die Arbeit der Polizei und der Regierung untersucht werden, sondern auch die der Presse.

14. Januar 2009

Eine soziale Explosion?

Über 10.000 Menschen demonstrierten gestern auf dem Domplatz in Riga gegen die lettische Regierung mit dem Slogan "Löst das Parlament auf!".
"Regieren wie im Glasschrank" so drückte es ein Teilnehmer heute in einem Bericht des ZDF dazu aus, gefragt nach seiner Meinung über die Regierung Godmanis: "Die schauen nur auf sich selbst, nicht international, nicht nach anderen, die benehmen sich als säßen sie in einem Glaskasten".

Wie in einem Glaskasten - das haben wohl auch die Randalierer am gestrigen Abend so verstanden, die sich nach Abschluß der Demonstration, mit demselben Slogan auf den Lippen, vor dem Eingang des Parlamentsgebäudes versammelten und dort begannen, die Fensterscheiben einzuwerfen. Begleitet von vielen Fernsehkameras und Journalisten, die mit einigem Erstaunen notierten, dass hier zum ersten Mal in der neuen Unabhängigkeitszeit gewaltbereite Demonstranten dazu übergingen, mutwillig Sachschäden anzurichten oder Polizisten anzugreifen (im Einsatz war dort die "spezielle Eingreiftruppe" der Polizei unter der Bezeichnung 'Alfa').

Lettischen Medienberichten zufolge war es abends spät schlicht noch eine bloße Schlägerei - mit 8 verletzten Polizisten, über 100 festgenommenen Demonstranten, 14 zerstörten Polizeiwagen, und etlichen kaputten Fensterscheiben sowohl am Parlament als auch bei den in der Nähe befindlichen Geschäften. Es gab auch Plünderungen in Geschäften (insbesondere bei "Latvijas Balzams" - einem "Schnapsladen" könnte mal also sagen), - nur wird diesen Plünderern sicher nicht förderlich gewesen sein, dass so viele Fernsehkameras filmten.

Die erste Frage also - ganz wie es auch das ZDF (Heute in Europa) berichtete: War das Ausdruck einer "sozialen Explosion"? Die lettische Finanzlage sei die schlechteste in der ganzen EU - so das ZDF.
Für das Vorgehen der lettischen Polizei übernahm Ministerpräsident Godmanis die volle Verantwortung, und verurteilte Stellungnahmen
des Ex-Minister Aigars Štokenbergs, die Godmanis so verstanden haben wolle, als ob
Štokenbergs als Ursache der Unruhen allein eine schlechte Regierung verantwortlich machen wolle.

Die Webseite der Organisatoren der Protestdemonstration - www.tavabalss.lv - war heute wieder gesperrt. Bis gestern hatten dort über 20.000 Menschen ihren Ärger über die gegenwärtige Regierung und eine Zustimmung zu einer gemeinsamen Protesterklärung ausgedrückt.
Die nächste Frage also: wohin wird das gehen? Werden jetzt alle außerparlamentarischen Gegner der Regierung zu Kriminellen erklärt? Wird die Regierung Godmanis so weiter machen können wie bisher, also zum Beispiel die vielen Steuererhöhungen einfach durchziehen?

13. Januar 2009

Kommissarin Piiiibalk

Selten schlägt das Herz eines Letten oder einer Lettin so schnell, wie dann, wenn wir in einem fremden Land in den Medien etwas über Lettland oder unsere Landsmänner lesen oder hören. In letzter Zeit geschieht das mir ziemlich oft – der Name Andris Piebalgs kommt in den deutschen Zeitungen, Radio oder Fernsehen fast jeden Tag vor.

Den meisten Deutschen sagt der Name sicher nichts. Vielleicht kennen einige ihn als EU Energiekommissar. Noch seltener weiß jemand, dass der Ausländer mit dem schwer auszusprechenden Namen (im besten Fall wird er Piibalks genannt, einmal wurde er sogar von einer Journalistin "Kommissarin Piibalk" getauft), ein Lette ist. Er ist in Lettland geboren und aufgewachsen. Er studierte und arbeitete auch in Lettland. Er war sogar Minister für Bildung und Minister für Finanzen, sowie Botschafter in Estland. Und jetzt ist er in Brüssel. Und er hat so einen verantwortungsvollen Job. Und ich als Lettin bin stolz auf ihn – ein echter Lette, gebürtig aus Vidzeme mit so einem lettischen Namen. Er wird auch alle Probleme im großen Europa bewältigen.

Dank seiner Mühe und der seiner Mannschaft, wird wieder Gas aus Russland durch die Ukraine nach Westdeutschland fließen. Um unabhängiger von Russland zu sein, wird Europa neue Gaslieferanten auch in den anderen Ländern suchen. Denn kein Land wird mehr versuchen die stillgelegten Kernkraftwerke in Betrieb zu nehmen, weil das nicht mit Europäischen Recht im Einklang ist. Und bald werden nur noch Energiesparlampen in jeder Wohnung brennen. Und diejenigen, die dagegen sind, dass Glühbirnen per Gesetz verboten werden, haben einfach keine Ahnung weder von Glühbirnen, noch von Sparsamkeit...

Aber um ehrlich zu sein, mir selbst als Lettin ist das egal, ob seine Beschlüsse gut oder schlecht sind. Mir wird es einfach warm ums Herz, wenn ich in einem fremdem Land seinen Namen höre.

Mehr dazu: Andris Piebalgs' Blog (engl.)

10. Januar 2009

Ein Halo grüßt aus Lettland

Was ist ein Halo? Aus Nordeuropa sind eher die Nordlichter bekannt, wenn es um ungewöhnliche Himmelserscheinungen geht. Aber es gibt auch die "Halos" - ungewöhnliche Lichteffekte meist an schneereichen, hellen Wintersonnentagen. Sie entstehen an Eiskristallen hoher Cirrusfelder. Ihre genaue Erscheinungsform ist - ähnlich wie beim Regenbogen - vom genauen Standort des Betrachters abhängig.
Im Laufe der ersten Januarwoche sollen Halo-Effekte mehrfach in ganz Lettland zu sehen gewesen sein (siehe auch Bericht DIENA). Dieses schöne Foto schickte uns Valdis Pilāts aus Sigulda - er ist als Biologe oft im Nationalpark Gauja unterwegs, und machte diesen Schnappschuß in unmittelbarer Nähe seines Arbeitsplatzes am Haus der Nationalparkverwaltung in Sigulda.

Mehr Infos zu Haloerscheinungen

7. Januar 2009

Höhere Steuern, weniger Lohn, teure Bücher - lettische Perspektiven

Das Neue Jahr beginnt kalt in Lettland - eine Schlagzeile, dass Russland das Gas abdreht, passt dazu. In der lettischen Presse stehen die Folgen der unregelmäßigen Gaslieferungen für osteuropäische Länder stärker im Fokus als im Westen: in der Slowakei sei bereits der Ausnahmezustand ausgerufen worden, nachdem Russland die Lieferungen um 70% gedrosselt habe (DIENA 6.1.09). Sicherlich kein Grund für wärmende Gedanken für Menschen in Lettland.
Mehr als die Häfte der Bevölkerung Lettlands, so einer repräsentativen Umfrage von "TNS Latvija" und einer Pressemeldung von LETA zufolge, wollen 2009 in Beruf oder Karriere etwas ändern. Da bleibt zu hoffen, dass die nicht alle auf höhere Löhne im Ausland schielen und auswandern wollen.

Die lettische Regierung Godmanis sieht sich weiter Protesten ausgesetzt, auch und gerade wegen den Neuerungen im Zeichen der globalen Finanzkrise, die zunächt die Parex-Bank hinwegraffte und nun den Staatshaushalt erreicht hat. Nein, keine Konsumgutscheine oder Steuergeschenke werden ausgeteilt, wie es deutsche Politiker gerne ankündigen mögen, sondern eher Maßnahmen die das Gegenteil bedeuten: Steuererhöhungen, Preiserhöhungen, Lohnkürzungen.

7,5 Milliarden Euro Finanzhilfe bekommt Lettland nun doch (nachdem Godmanis derartiges noch in den Tagen der Parex-Zusammenbruchs ausgeschlossen hatte) - Weltbank, Internationaler Währungsfonds, EU und Europäische Bank für Wiederaufbau sind die Geldgeber (von letzterer heißt es, sie würde gern die Parex-Bank übernehmen). Zwar wurde der Einkommenssteuersatz von 25% auf 23% gesenkt, aber die Mehrwertsteuer von 18% auf 21% erhöht - bei gleichzeitigem Wegfall vieler Ausnahmeregelungen für niedrigeren Steuersatz auf einige Produktgruppen.
Alle lettischen Medien (Zeitungen, Zeitschriften bsw.) und Publizisten sehen sich besonders betroffen: nach einer Übergangsperiode im Jahr 2009 werden sie nicht mehr den ermäßigten Steuersatz von 10% sondern die vollen 21% zahlen müssen. Resultat: Die Preise für Zeitungen, Zeitschriften, aber auch für Bücher werden stark ansteigen müssen. Daher auch die massiven Protestaktionen, denn KULTUR steht nunmal i
n Lettland immer noch hoch auf der Werteskala. Es gibt Presseberichte, in denen noch weitere Steuererhöhungen befürchtet werden (Leta) - anders sei das Ziel, im Jahr 2011 nicht mehr als 3% Haushaltsdefizit auszuweisen, gar nicht erreichbar. Auch Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor hat Godmanis bereits angekündigt. Und auch der Tourismus klagt: Hotels werden ihre Preise erhöhen müssen, und damit kaum für mehr Gäste werben können.

Am 13.Januar wird ein buntes Bündnis verschiedener Bürgergruppen - von den Gewerkschaften, über soziale Gruppen, den Polizeiverband, der Verlegerverband, das lettische Literaturinformationszentrum, bis hin zu Renter- und Bauernvereinigungen - zu einer Demonstration in Riga aufrufen. "Das Vertrauen der Öffentlichkeit in Parlament und Regierung ist momentan seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit nie so niedrig gewesen", so sagt es Artis Pabriks, früher Lettlands Außenminister, heute einer der Organisatoren der Demonstration.

Derweil hat der Winter zwar die Haupstadt Riga im Griff, aber auffälliger noch sind die Änderungen der Verkehrsregelungen in der Altstadt. Verschiedene politische Stellen fochten hier im Vorfeld einen kleinen Kampf gegeneinander aus, es reichte, um die bisherige "Einfahrtsgebühr" in die Altstadt als "pure Maßnahme zur Verbesserung des städtischen Haushalts, nicht aber als Maßnahme der Verkehrsregelung" in Misskredit zu bringen. Nun sind die Schlagbäume ganz gefallen, fahren Unwissende nun aber mutig hinein ins historische Zentrum, sehen sie sich einem unübersichtlichen Gewirr von teilweise zu Fußgängerzonen oder Radwegen erklärten Bereichen ausgesetzt.

Nun ja, gleichzeitig mit den Europa- wahlen im Juni werden in Lettland Kommunal- wahlen stattfinden, also werden ja Streit- themen begierig aufgegriffen. Dass nach diesen Wahlen der Bürgermeister wieder Janis Birks heißen könnte, gilt als eher unwahrscheinlich. Seine Parteikollegen der Vaterlandspartei echauffieren sich lieber über die in städtischer Regie geplante Auffrischung der Inschriften am zu sowjetischen Zeiten errichteten Denkmal "des Sieges über den Faschismus" - dort, wo jedes Jahr zum 9.Mai vorwiegend russischstämmige Bevölkerung des für die Sowjetunion siegreichen Kriegsendes gedenken, Letten aber eher an Deportation und Zwangsanschluß denken müssen. Kommunale Zeiten, symbolische Zeiten, offenbar.

Für eine positive Überraschung auf sportliche Art war Lettlands Tennis-Ass Ernests Gulbis verantwortlich. Beim ATP-Turnier in Brisbane /Australien schlug Gulbis überraschend den Weltranglisten-Dritten, den Serben Novak Djokovic, und nannte dies später der lettischen Presse gegenüber "den vielleicht größten Erfolg meiner bisherigen Karriere" (LETA).