26. Januar 2013

Arztbesuche auf Attest

Die Zeitschrift "IR" stellte kürzlich einige interessante Änderungen des lettischen Gesundheitswesens zur Diskussion. Zu Zeiten, wo in Deutschland gerade die Praxisgebühr abgeschafft würde, führte auch das lettische Gesundheitsministerium einen neuen Kriterienkatalog zur Beurteilung der Arbeit lettischer Arztpraxen ein. Diese neuen Kriterien legen offenbar eine bessere Bezahlung derjenigen Ärzte fest, die bei ihren Patienten häufiger einen Gesundheits-Check vornehmen, die Kinder der Familie häufiger impfen, und aktiver Vorsorge betreiben bei Risikogruppen für Herzkrankheiten, Diabetes und Asthma. Viel hilft viel? Vielleicht hilft zunächst ein Blick aufs lettische System der Gesundheitsversorgung.

Wenn nur der Weg zum Arzt nicht so weit wäre ...
Gesundheitsministerin Circene bei der Eröffnung
der Kampagne "2013 - Jahr des gesunden Herzens"
Den Vorstellungen des lettischen Gesundheitsministeriums zufolge soll sich jeder Einwohner möglichst bei einem "Familienarzt" seines Wohnorts oder seiner Region anmelden. Dieser Arzt muss vom Ministerium lizensiert sein und schließt dann mit seinen Patienten ein Versorgungsabkommen. Mehr als 2000 Patienten und 900 Kinder darf aber kein Arzt zur Registrierung annehmen. Auch ein Wechsel des "Familienarztes" (was in Deutschland wohl "Hausarzt" genannt werden würde) ist möglich, allerdings geschieht das auch wieder schriftlich: der bisherige Arzt löscht die Daten aus seiner Kartei, der neue Arzt nimmt sie auf, beide schicken diese Informationen an die zuständige Stelle im Ministerium. Gegenwärtig sind in Lettland 1371 solcher Familienärzte registriert - das sind theoretisch ein Arzt auf 1450 Einwohner. 577 dieser Ärzte haben ihre Praxis in Riga. Im Mittel gibt es 1500-1600 Klienten pro Praxis, nur 174 haben weniger als 1000 Klienten zu betreuen, bei 198 Ärzten sind es mehr als 2000 (Zahlen aus "IR" 9.1.13).

Zu den Kosten: Registrierung oder Wechsel des Arztes sind kostenfrei. Sofern der Patient nicht aus besonderen Gründen Kostenerleichterungen genießt, kostet ein Arztbesuch 1 Lat (ca. 1,43 Euro). Einmal im Jahr darf eine kostenlose Gesundheitsvorsorge in Anspruch genommen werden, falls man den Arzt nicht schon wegen einer Krankheit aufgesucht hat. Die während der Vorsorge vorzunehmenden Untersuchungen werden vom Ministerium im Detail genau festgelegt. Der "Familienarzt" - der laut den Bestimmungen nicht ablehen kann, wenn sein Patient weitere Kinder oder seinen Ehepartner zusätzlich anmeldet - macht auch Hausbesuche: für Kinder bis 18 Jahren, Behinderte und Hauspflegefälle sogar kostenlos, auch der Tod wird kostenlos festgestellt. Die doppelte Gebühr - 2 Lat - kostet dagegen der Hausbesuch für über 80Jährige und auch Grippeerkrankte.Für alle besonderen Untersuchungen gibt es eine klare Preisliste, die auch pauschal die Kosten eines Krankenhausaufenthaltes festlegt: 9,50 Euro (13,60 Euro) ab dem zweiten Tag. Es gibt aber Höchstgrenzen: die Gesamtkosten des Krankenhausaufenthalts sollen pro Patient 250 Lat nicht überschreiten (400 Lat pro Kalenderjahr). Kostenbefreit sind wiederum Kinder bis 18 Jahre, Behinderte, Schwangere, Tuberkulosekranke, von bestimmten Epedemien Betroffene, psychisch Kranke, sozial Benachteiligte, Organspender, im Rahmen regelmäßiger Impfkampagnen Behandelte, und einige mehr. Alle anderen zahlen - oder haben eine Versicherung dafür abgeschlossen.

Die neuen, zum 1.Januar erweiterten Vorgaben des Ministeriums sollen den Patienten nun erweiterten Vorsorgeschutz bieten - von der Krebsvorsorge bis zum Bluthochdruck, letzteres ist auch in Lettland eine der häufigsten Todesursachen. Die Frage bleibt aber, ob dafür auch erhöhte Zuzahlungen nötig werden - was sich besonders in den ländlichen Regionen sehr viele sich nicht werden leisten können. Die Ärzte wehren sich dagegen, dass dieses Problem dann ihnen überlassen würde, wenn sie ihre Patienten häufiger zur Untersuchung bitten würden. Oder eben den Patienten, denen schon das Busticket zu teuer wird um zum Arzt zu fahren. Das Ministerium möchte gern, dass 65% aller bei einem Arzt registrierten Patienten pro Jahr auch einmal zur Vorsorgeuntersuchung gebeten werden. Nur 36% aller Ärzte haben bisher überhaupt Arztkollegen oder anderes medizinisch ausgebildetes Personal in der eigenen Praxis angestellt, die dann bei der Bewältigung des Zusatzaufwands helfen könnten. Die neuen Regelungen würden es erfordern 98% aller Kinder pro Jahr mindestens einmal zu impfen, wofür auch keine Kosten vom Patienten zurückgefordert werden dürfen.

Erst in den entsprechenden Internetforen zu diesem Thema wird auf eine andere aktuelle Frage hingewiesen: wer gibt eigentlich in Lettland Tipps für gesunde Lebensweise, so dass es weniger zu chronischen Krankheiten kommt? Zusehr schlängelt sich die Diskussion entlang an der Grenze des Bezahlbaren. Und auch über die Inhalte des Schulunterrichts wird in diesem Zusammenhang noch kaum geredet.

Info: Regeln für den FamilienarztPreisliste (Info des Gesundheitsministeriums, lettisch) Kosten im Krankenhaus (englisch)
Infoseite des Ministeriums zu den neuen Qualitätskriterien für Familienärzte (lett.)

24. Januar 2013

Undurchsichtige Personalpolitik

Vergangenen Donnerstag hat das Parlament, die Saeima, eine neue Chefin des Rechnungshofes bestätigt: Elita Krūmiņa. Die häufig in den Medien präsente und auch ziemlich beliebte bisherige Amtsinhaberin, Inguna Sudraba, hat über zwei Amtszeiten auf diesem Posten gewirkt, und konnte nicht wiedergewählt werden. Es wird darüber spekuliert, ob sie in die Politik geht – nicht erst seit gestern.

Zwei Probleme verbinden sich damit, ein juristisches und ein politisches.

Elita Krūmiņa saß bereits zwei Amtsperioden im Beirat des Rechnungshofes und wird dies nun als Chefin der Behörde für vier weitere Jahre tun. Politiker der größten Regierungspartei, der Einigkeit, haben ihre Zweifel geäußert, ob das nicht ein Verstoß gegen geltende Gesetze ist. Politiker der Einigkeit schlossen nicht aus, diese Frage vor das Verfassungsgericht zu tragen.

Diese juristische Frage ist besonders deshalb pikant, weil dieselbe größte Regierungspartei von Ministerpräsident Valdis Dombrovskis Krūmiņa auch gar nicht mitgewählt hat. Die Koalitionspartner von der Zatlers Reformpartei haben die Kandidatur gemeinsam mit dem Partner von der Nationalen Vereinigung aus mehreren nationalistischen Parteien durchgewunken und dabei gemeinsame Sache ausgerechnet mit dem oppositionellen Harmoniezentrum (gerne auch als Russenpartei bezeichnet) gemacht. Ein absolutes Novum. Das weckt Erinnerungen an die Wahl des Ombudsmanns Juris Jansons 2011, als ebenfalls die mit der Einigkeit in Koalition befindliche Union aus Grünen und Bauern die Kandidatur des Harmoniezentrums unterstützt hatte, anstatt sich mit dem Koalitionspartner zu einigen, der damals allerdings in der Tat mit einem eigenen Vorschlag lange zugewartet hatte.

Großbritannien als Paradies?

Eine in Großbritannien lebende Lettin mit zehn (!) Kindern sorgt für Aufmerksamkeit nicht nur unter den Nachbarn, sondern auch der Presse. Vor dem Hintergrund der HARTZ-Reformen in Deutschland kann man sich angesichts von 34.000 Britischen Pfund Jahreseinkommen, ohne dafür einen Finger zu krümmen, nur ein bißchen die Augen reiben. In den 70er Jahren wäre so manchem das Wort asozial wahrscheinlich schnell über die Lippen gekommen.

http://www.dailymail.co.uk/news/article-2206255/Latvian-mother-demands-bigger-council-house-despite-raking-34k-benefits.html

15. Januar 2013

Eurozonen-Beitritt in Lettland umstritten

Nach der Einführung des Euro gab es in Deutschland schnell auch Enttäuschungen, weil viele ihn wenigstens subjektiv als „teuro“ empfanden. Estland hat die Gemeinschaftswährung zu Beginn des vergangenen Jahres eingeführt und ebenfalls anschließend eine Inflationserfahrung damit verbunden, so daß es dort heute nicht schwierig ist Menschen zu finden, die meinen, man wäre besser bei der estnischen Krone geblieben.

Dem steht entgegen, daß alle 2004 der EU beigetretenen Staaten rein juristisch betrachtet mit ihrem Beitritt auch ja zum Euro gesagt haben. Darauf pocht derzeit der lettische Ministerpräsident Valdis Dombrovskis, dessen Regierung es sich zum Ziel gesetzt hat, 2014 – also in gut einem Jahr – den Euro einzuführen. Das stößt derzeit nicht nur in der Bevölkerung eher auf Ablehnung, dagegen wehren sich auch zahlreiche Journalisten.

Freilich darf die Gemeinschaftswährung erst eingeführt werden, wenn die sogenannten Maastricht-Kriterien erfüllt werden. Zur Erinnerung: Das Defizit darf nicht mehr als 60% der jährlichen Wirtschaftsleistung betragen und die Neuverschuldung nicht mehr als 3%, während die Inflationsrate nicht um mehr als 1,5% vom Durchschnitt der niedrigsten Inflationsraten in der EU abweichen darf. Das sind alles trockene Zahlen, die dem einfachen Bürger nicht unbedingt auf Anhieb verständlich sind. Was aber jeder versteht ist, daß unter den Staaten der Eurozone kaum ein Land diese Ķriterien derzeit einhält. Und es ist für viele nicht vergessen, daß ausgerechnet Deutschland und Frankreich als erste verstießen.

Während sich die Befürworter des Euro mit den altbekannten Argumenten von stabileren Verhältnissen ohne Wechselkurse und folglich höheren Investitionen zu Wort melden, fragen andere Kommentatoren, warum man auf ein sinkendes Schiff aufspringen sollte. Der einfache Bürger hat in Unkenntnis der makroökonomischen Zusammenhänge vor dem Hintergrund der ständig dramatischer klingenden Meldungen über die Eurokrise schlicht Angst dafür, sich von seinem guten alten Lats zu verabschieden.

Aber was bringt den Letten eigentlich ihre eigene Währung. Zunächst einmal war die Einführung 1993 nach der Übergangswährung des lettischen Rubels, der nach dem Namen des damaligen Nationalbankpräsidenten Einars Repše gerne auch als „Repši“ bezeichnet wurde, ein Symbol für die nach einem halben Jahrhundert wiedergewonnene Unabhängigkeit. Viele Ausländer wunderten sich damals an den Wechselstuben, daß sie für Ihre Dollar, Mark oder Schweizer Franken der Nennsumme nach weniger Lat über den Tresen geschoben bekamen. Historisch war der Wert des Lats immer hoch, damit auch die kleinste Münze noch einen Wert hat.

Schon damals haben die Menschen ohne Kenntnisse der Hintergründe diese Währung hochgehalten und gesagt, schaut, ein Lats ist mehr als eine Mark oder ein Dollar. Das aber sagt im Grunde ja nichts über die Kaufkraft aus. Die erschließt sich erst aus dem Verhältnis zwischen Verdienst und Preisen. Eine Währung, die mit hohen Summen jongliert, muß deshalb keine weiche sein. Und so warnten auch Bankangestellte im Ausland Lettland-Reisende gerne, bloß von dort kein Bargeld mitzubringen, denn in Deutschland tauscht das niemand um. Die Letten konnten also nicht etwa mit ihrem hochwertigen Lats ins Ausland zum Einkauf fahren, sondern mußten ihre Währung gleich im eigenen Land umtauschen.

Damit aber nicht genug. Seit dem Beitritt zu EU 2004 ist der Lat fest zum Kurs von 1:0,7 an den Euro gebunden. Das bedeutet zwar nach wie vor, daß man für 20 Euro in der Wechselstube eben nur 13 Lati bekommt. Der Lats ist also de facto nichts anders als ein etwas anders aussehender Euro. Nicht einmal abwerten könnte die lettische Nationalbank ohne Genehmigung von der EZB. Eine Hartwährung ist dieser deshalb jedoch nicht. Und was die meisten Menschen nicht wissen, bereits vorher war der Lats an einem Währungskorb gebunden, was angesichts der Schwankungen des US$ gewiß zu mehr Schwankungen auch der lettischen Währung geführt hat.

Sollte also Lettland bis 2014 die Maastricht-Kriterien einhalten und die Eurokrise bis dahin die Gemeinschaftswährung nicht zur Vergangenheit gemacht haben, dann wird das Land den Euro wohl einführen und wohl ähnliche Erfahrungen machen wie alle anderen Mitgliedsländer der Eurozone auch.

14. Januar 2013

Lettlands Präsident leugnet Armut im Lande

Lettlands Präsident Andris Bērziņš hat im Dezember mit einem Fernseh-Interview für Wirbel im Lande gesorgt. Im politischen Magazin des privaten Kanals TV3 „Nekā personīga“ (Nichts Persönliches) bestritt er mehr oder weniger, es gäbe in Lettland Armut.

Diese Äußerung und die Aufregung darüber muß vor dem persönlichen Hintergrund gesehen werden, daß Bērziņš als einer der wohlhabendsten Männer im Lande gilt. Nach der Unabhängigkeit wurde er Banker und leitete mehr als zehn Jahre die Unibanka, die später von der schwedischen SEB übernommen wurde. Darüber hinaus saß er auch in Aufsichtsräten wie etwa dem des Energiemonopolisten Latvenergo. Als er ins Amt gewählt wurde, begann angesichts eines nicht geringen Präsidentensalärs eine Diskussion darüber, ob er angesichts seiner für lettische Verhältnisse sehr üppigen Rente nicht darauf verzichten sollte oder gar müßte, obwohl er dazu juristisch natürlich nicht gezwungen ist. Eine Entscheidung, die einstweilen noch in der Luft hängt.

Neben der Einkommensfrage gibt es noch einen politischen Hintergrund: Bērziņš wurde im Frühjahr 2011 von einem Parlament zum Präsidenten gewählt, dessen Auflösung der scheidende Präsident Valdis Zatlers als eine seiner letzten Amtshandlungen initiierte, weil die Abgeordneten die von der Staatsanwaltschaft beantragte Aufhebung der Immunität eines ihrer Kollegen, des als Oligarchen angesehenen Ainārs Šlesers, abgelehnt hatten. Zwar war damals schon der derzeitigen Regierungschef Valdis Dombrovskis im Amt, jedoch noch in einer Koalition mit der Bauernunion, die ihrerseits als politisches Projekt des Oligarchen Aivars Lembergs, dem Bürgermeister der Hafenstadt Ventspils, gilt. Aus dieser Fraktion stammte auch der neue Präsident Andris Bērziņš. Ihn hievte eine Spaltung der Regierungskoalition über diese Frage ins Amt, in der die regierende Bauernunion mit der Opposition aus der „Oligarchenfraktion“ des Abgeordneten Šlesers und der sonst von den lettischen Parteien immer ignorierten Russenfraktion des Harmoniezntrums gemeisame Sache machte.

Bērziņš war eine Art Überraschungskandidat, der nach Amtsantritt zunächst nicht weiter negativ auffiel. Übel nahm ihm die Öffentlichkeit, als er am ersten September dieses Jahres seinen Sohn zum ersten Schultag begleitete, wo wenig überraschend Journalisten und Photgrapohen warteten. Bērziņš reagierte unwirsch und drohte der Presse verbal mit Gewalt.

Jetzt aber forderte er mit seinen Positionen zur Armutsfrage Widerspruch heraus, obwohl nicht alles, was er in dem Gespräch im Fernsehen sagte, grundlegend von der Hand zu weisen ist. Bērziņš behauptete, es sei einstweilen schwierig, verläßliche Aussagen über den Wohlstand im Lande zu treffen, weil die vorhandenen Daten nicht belastbar seien. Er erinnerte daran, daß viele Menschen neben ihrem offiziellen Einkommen noch das sogenannte „Umschlaggeld“ erhielten. Und in der Tat ist es in Lettland in der Privatwirtschaft verbreitet, die Mitarbeiter wenigstens teilweise schwarz zu bezahlen, um die Sozialabgaben zu sparen. In Ermangelung einer gewissen Planungssicherheit im Leben gehen viele Arbeitnehmer trotz aller Anzeigenkampagnien der letzten Jahre nur zu gerne darauf ein, erhalten sie doch so vermeintlich mehr netto vom Brutto.

Zu Wort melden sich allerdings nicht nur Journalisten, sondern auch Sozialwissenschaftler, die in den letzten Jahren Studien und Untersuchungen durchgeführt haben wie nicht zuletzt das regelmäßige Monitoring der Gesellschaft, welches das UNO-Programm der UNDP (United Nation Development Programme ) finanziert. Die Wissenschaftler weisen darauf hin, daß insbesondere auf dem Land viele Menschen von gut 200 Lats (etwa 285 Euro) im Monat leben müssen, was dem staatlichen Mindestlohn entspricht.

Man darf deshalb gewiß sagen, daß die von Präsident Bērziņš vorgetragenen Zweifel alle zutreffend sind. Gleichzeitig genügt schon der alleinige Augenschein, um zu erkennen, daß es selbstverständlich in Lettland Armut gibt. Und dafür muß man nicht in eine wirtschaftlich schwache Region wie das östliche Lettgallen fahren, da genügt bereits ein Besuch in einem der Vororte von Riga.

13. Januar 2013

Lesende Letten?

Vor einiger Zeit, auch zur Zeit der lettischen Unabhängigkeit hieß es oft, die Letten seien ein lesendes Volk. Stolz wurden Statistiken von Studierenden pro Tausend Einwohner präsentiert, ebenso wie Untersuchungen zur Lesefreudigkeit - ganz so, als ob die Neugier zwischen den Zeilen lesen zu wollen ganz besonderen Eifer hervorgerufen hätte.

Neues Futter um zwischen Legende und Tatsachen zu entscheiden bietet die jährliche Übersicht zu den Abonnenten von Zeitschriften und Zeitungen, die von der lettischen Post herausgegeben wurde (siehe pasts.lv). Demnach werden gegenwärtig 450.000 Presseerzeugnisse im Abo bezogen - 70% davon Zeitschriften. Eine zweite Tendenz ist ebenso klar: 78% der Abonennten wohnen auf dem Lande, nur 14% in Riga. Die Gesamtzahl aller Abonnenten hielt sich im Vergleich mit den vorangehenden Jahren stabil.

Die konservative Zeitung "Latvijas Avize" wagt sich an eine Analyse dieser Bilanzen.Ihren Untersuchungen zufolge verstärkt sich der Trend zugunsten von Zeitschriften: vor allem Frauenthemen, Sport und Gesundheit seien die gern gelesenen Themen.
Da wird ein Blick zu den Nachbarn interessant. Vor allem in Estland sei ein Trend zu beobachten, dass immer weniger Presseerzeugnisse abonniert werden: von 145.000 Abos im Jahr 2010 auf nur noch 120.000 im vergangenen Jahr.
Auch die litauischen Kolleg/innen berichten über die zunehmende Gewohnheit, sich im Internet den interessanten Lesestoff zusammenzusuchen. Dennoch seien immer noch die Tageszeitungen an der Spitze der Abostatistiken zu finden. Dabei ähneln die litauischen Lesegewohnheiten eher denen der lettischen Nachbarn, meint Journalistin Anna Žigajeva in ihrem Bericht: Mode und Gesundheit zum Beispiel. Dem gegenüber seien in Estland auch populärwissenschaftliche Themen gefragter - ähnlich wie die Letten sicherten sich die Esten aber auch gern eine Zeitschrift zu Haus und Heim im Postkasten.

Der lettische Verlegerverband LPIA veröffentlichte Ende 2012 die Ergebnisse einer Kundenumfrage.66% der Befragten gaben dabei an, im Lauf einer Woche mindestens einmal eine Zeitschrift oder Zeitung gelesen oder durchgeblättert zu haben. Die Verleger schließen aus den Ergebnissen, dass wöchentlich erscheinende Presseerzeugnisse weiterhin am erfolgreichsten seien, gefolgt von den Monatsblättern. Der größte Rückgang sei bei den Tageszeitungen zu beobachten. Die in Lettland momentan meist gelesenen Illustrierten - alle auch in fast jeder Zeitungsauslage zu bekommen - sind "Ieva" ("Eva"), gefolgt von "Privātā Dzīve" ("Privates Leben") und "Kas Jauns" ("Was gibt's Neues"). Nach "Ievas Stāsti", ("Evas Erzählungen") rangiert "Ilustrētā Zinātne" ("Illustrierte Wissenschaft") auf Platz 5.
Bei den Tageszeitungen führen zwei russischsprachige Blätter die Liste an: "MK Latvija" vor der russischsprachigen TV-Zeitschrift "TV-Programma (rus)", danach folgt "Rīgas Santīms", die sich aus massiven Werbeanzeigen finanziert.

Die LPIA weist auch darauf hin, dass sich in allen Landesteilen Lettlands auch auf regionale Themen konzentrierte Presseerzeugnisse erfolgreich am Markt halten können: "Tava Izvēle" in Vidzeme, "Kurzemes Vārds" in Kurzeme, "Jelgavas Vēstnesis" und "Zemgales Ziņas" in Zemgalē. In Latgale äußert sich Regionaltypisches wiederum meist russischsprachig: dort stehen "Seičas", "Miļļion", "Panorama Rezekne" sowie "Rezeknenskie Vesti (rus)" zur Auswahl. 

Infos: 
Lettischer Verlegerverband
Liste der lettischen Verlage 
Lettische Post, Abodienst

11. Januar 2013

Getreide boomt

2012 verzeichnete Lettland die beste Getreideernte seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Bedeutet das eine Renaissance der Landwirtschaft? Lettische Marktanalysen schieben es auf günstige Wetterumstände, sinkende Saatgutpreise und mehr Nachfrage auf dem Weltmarkt. 

Bauern neigen oft zu Pessimismus - zumindest zu einer skeptischen Grundhaltung. Aber die neuesten Zahlen sowohl vom staatlichen Statistikamt wie auch vom lettischen Landwirtschaftsministerium bilanzieren für 2012 mit insgesamt 1,88 Tonnen geernteter Getreide das erfolgreichste Jahr seit langem. Zum Vergleich: in den 1930er Jahren wurde in Lettland jährlich etwa 1,3 Mill. t geerntet, 1990 waren es etwas mehr als 1,6 Mill. t, und die seitdem beste Ernte wurde im Jahr 2008 mit 1.689 Mill. t eingefahren.
Zusätzlich positiv machen sich schlechte Ernten anderswo (z.B. USA) bemerkbar: mit steigenden Weltmarktpreisen bei Getreide bekommt der lettische Bauer mehr fürs Geld (bzw. mehr für die Lieferung). Normal fallen ja gute Ernten oft mit fallenden Preisen zusammen - diesmal nicht.Die Erntemenge des Vorjahres wurde glatt um ein Drittel und das bisherige Rekordjahr 2008 um 11% übertroffen.

Lettische Agrarlandschaften - hier Nähe Vecgulbene -
wie geschaffen für großflächigen Getreideanbau?
Bei der Erzeugung von Lebensmitteln der lettischen Landwirtschaft macht Getreide etwa ein Viertel des Gesamtertrags aus - und damit mehr als z.B. Schweinefleisch oder Kartoffeln. Am meisten ausgesät wird dabei Winterweizen (56%). Danach folgt Sommerweizen, Sommergerste, Hafer und Roggen, und schließlich - mit leicht weniger Ernteerfolg als bisher - noch Triticale (eine Kreuzung aus Weizen und Roggen), Wintergerste, Buchweizen und weitere Sorten. Insgesamt ist der Anteil von Weizensorten an der Gesamtanbaufläche von 571.000 ha stark angestiegen und übersteigt inzwischen schon zwei Drittel - was sicher auch an den gestiegenen Exportmöglichkeiten liegt. Unter den Empfängerländern von aus Lettland exportiertem Weizen befinden sich unter den EU-Ländern vor allem Dänemark, die Niederlande, Litauen, Spanien und auch Deutschland. Es gibt aber auch Empfängerländer wie Algerien, Lybien (!) oder die Vereinigten Arabischen Emirate.

Laut einer Landwirtschaftszählung aus dem Jahr 2010 gibt es in Lettland knapp 90.000 Bauernwirtschaften. Dabei sind klare Tendenzen spürbar: die Gesamtzahl der Bauern sinkt, die Summe der genutzten Fläche bleibt gleich, die Zahl der Höfe mit mehr als 100ha Nutzfläche steigt. Die mittlere Größe der lettischen Höfe stieg von 25.5ha im Jahr 2007 auf 34,5ha 2010. Die durchschnittlich größten Höfe liegen in Zemgale, im Süden Lettlands: in Dobele sind es durschnittlich schon 47,3 ha, in Tērvete 46,2 ha.

"Das schönste Wappen der Welt - der Pflug im Acker"
Dieser Spruch von Kārlis Ulmanis wird hier
in einem lettischen Freilichtmuseum verdeutlicht.
Moderne Landwirtschaft muss aber längst
abseits purer Nationalromantik wirtschaften.
Ende 2012 hatte Lettland in einer gemeinsamen Erklärung mit den Nachbarn Estland, Litauen und einigen anderen EU-Mitgliedern sich für eine Erhöhung der Direktzahlungen an lettische Bauern einzusetzen versucht; auch beim Besuch des deutschen Außenministers Westerwelle kam dies zur Sprache (siehe Pressekonferenz).
In Lettland wird immer noch darüber diskutiert, warum Landwirte in Westeuropa immer noch höhere Direktzahlungen von der EU erhalten als ihre lettischen Kolleginnen und Kolleginnen. Bisher konnten sich die EU-Mitglieder jedoch noch nicht auf den Rahmen einer gemeinsamen Haushaltsplanung einigen.
Auch werden Sorgen geäußert dass immer mehr Ackerland an Ausländer verkauft werde.

2. Januar 2013

Rigas Hunde fahren nicht Straßenbahn

Vielleicht geht es nicht nur mir so: auch wer kein Krimifreund oder Spezialfan der Geschichten von Henning Mankell rund um den fiktiven Schwedenkommissar Kurt Wallander aus Ystad ist, der hat Buch und Film mit dem Titel "Hunde von Riga" nicht vergessen. Die erste Fassung erschien 1992 in Schweden, bereits 1993 in Deutschland. Am vorletzten Tag des Jahres 2012 lief eine neue Fassung in der ARD.

Krisenzeit im Schwebezustand
Neue Erkenntnisse von Kenneth Branagh alias
"Wallander" in Riga: sicher fühlt sich der Schwede
nur in der Straßenbahn ...
1993 waren Lettlands Krisen noch nicht vorbei: wer es miterlebte wird es beim Lesen von Mankell's Buch es ganz natürlich gefunden haben, dass ein Teil der Ordnungsbehörden auf Seiten der Unabhängigkeitsbewegung, ein anderer auf Seiten des alten Apperats stand - und vielleicht gab es sogar noch ein dritten Teil derjenigen, die nicht richtig wussten wie ihnen überhaupt geschah. 1995, als "Hunde von Riga" erstmals verfilmt wurde, taumelte Lettland in die erste große Bankenkrise, die Fragen zum Status der russischstämmigen Minderheit waren noch ziemlich ungeklärt, und vieles - außer ein bischen Coca-Cola- und Marlboro-Werbung stand noch unverändert so da wie zu Sowjetzeiten. Wer sich bereichern konnte der zögerte nicht, und der Umgang mit Gästen aus dem europäischen Westen war noch mit vielen Illusionen und Fehleinschätzungen behaftet.

Durch die 1990er Jahre hindurch war das Schicksal der lettischen Nation noch international weitgehend unbeachtet - wenn man von der formalen Anerkennung der Eigenstaatlichkeit einmal absieht. Aber als eine friedliche Entwicklung mehr und mehr gesichert schien verloren große Teile des Westens das Interesse - nicht ohne laut zu äußern, Lettland werde nie in die NATO aufgenommen werden (denn Russland könne das nicht dulden), ein EU-Beitritt war ebenfalls noch in unendlich weiter Ferne (Finnland trat 1995 der EU bei). Wer Lettland damals kannte, der staunte, wie eng die Handlung in Buch und Film und die tatsächliche Atmosphäre dieser Anfangsjahre in Riga beieinander lagen.

Nun also eine Neufassung. Als Auftragswerk der britischen BBC, gedreht 2011 in Riga. Ich versuche meine Eindrücke zu sortieren - aber irgendwie schien mir der Film wie aus der Zeit gefallen.

Der BBC-Wallander - eine Story über Mißstände bei der Polizei?
Korrupte lettische Polizei mit undurchsichtigen Strukturen, eine schwedische Lichtgestalt im mutigen Einsatz für Recht und Gesetz - das Märchen wurde britisch umgestrickt. Das Filmteam gibt sich 2011 keinerlei Mühe mehr, die Atmosphäre von vor 20 Jahren wiederauferstehen zu lassen: im neuen Film mit Kenneth Branagh gibt es moderne Luxusautos, Windräder, Zigarettenschachteln mit EU-konformen Warnaufschriften, Digitalkameras die Geheimnissse speichern, Laptops und Speicherkarten, auch elektronische Polizeiausweise.Allerdings sehen lettische Polizeibüros weiterhin so aus wie vor 20 Jahren.

Zwei tote Jungs aus Ventspils, eindrucksvoll russisch
tätowiert, sorgen bei Wallander in Südschweden
für Unruhe
Bei Kenneth Branagh gibt es zwar keine "Mafia", aber "das Syndikat". Lettische Russen angeblich. Oder Ex-KGB-Mitarbeiter umgewandelt in kriminelle Banden, behauptet ein zwielichtiger Polizist. Die "Radniecība"-Gang (=Verwandschaft), mal lettisch, mal russisch ausgesprochen. Wie es sich wirklich verhält, klärt der Film nicht auf - Hauptsache am Ende konnten ein paar Schlechte verhaftet und ein paar weniger Schlechte vorläufig entlastet werden. 20 Jahre nach Ende der Sowjetunion kommt das ein wenig altbacken daher - zwar durchaus spannend in Szene gesetzt - nur, wer Riga schon länger kennt, bei dem wird es ein ausgiebiges Gähnen erzeugt haben.

Es wird um militärischer Ränge gestritten. Typisch englisch? Der lettische Kommissar ist "Major", der schwedische Gast wird wie selbstverständlich mit "Oberst" angeredet - obwohl sonst in der englischen Originalfassung ziemlich dahergenuschelt wird - aber hier protestiert der Schwede fast zornig. "Polizisten werden in Lettland nicht geschützt", hatte ihm Kommissar Kārlis Liepa schon vor dem ersten Riga-Besuch erzählt. Der zweite Polizeikollege von hohem Rang ist Mūrnieks, ist russischer Lette. Angeblich der einzige der noch vom KGB übrig ist (sagen diejenigen, die ihn verraten). In diesem Film haben lettische Polizisten immer noch kein W-Lan oder Email, dafür schicken sie aber noch Faxe - wie 1990.

Drogenkuriere, Heroin, Kokain - ist es nun Geschichte oder ist es Gegenwart? "In Lettland kannst Du mir nicht helfen" behauptet Karlis, und kommt mit einer Tupolew-Maschine nach Schweden eingeschwebt. Als er wenig später tot aufgefunden wird, scheint sich die Warnung vor den Zuständen in Riga zu bestätigen. Aber die Story fließt weiter flaschengrün daher und bleibt unentschieden, ob sie nun Verhältnisse damals oder Verhältnisse heute zeigen will. Vielleicht nur eine Parabel vom unsicheren Osteuropa, die von der britischen Insel aus gesehen umso unverständlicher scheint?

Schwedischer Mann, Hilfe suchende
lettische Frau - eine Rollenverteilung,
die auch bei Branagh 2012 nicht
hinterfragt wird.
Es regnet oft in diesem Film. Etwas wärmeres Licht gibt es nur in Schweden, wenn Wallander zu Hause ist - abziehende Regenwolken. Es wird auch bei Regen auf dem Bralu kapi (dem Brüderfriedhof) beerdigt, und die Uniformierten murmeln unpassend peinlich: "Witwen können sehr schön sein" (in der englischen Fassung sogar: "Witwen sind wunderschön").

Die lettischen Ordnungshüter arbeiten in Großraumbüros mit ständig laufenden Kaffeeautomaten. Von einem "Syndikat" will zunächst niemand etwas wissen bei der lettischen Polizei, dann plötzlich: "Davai, uz priekšu!" - und schnell werden angebliche Syndikat-Mitglieder verhaftet; eine  Schauverhaftung für den schwedischen Gast. Mutter und Kind laufen weinend ins Treppenhaus - auf weibliche Schönheit wird jetzt keine Rücksicht mehr genommen (nur einsame Frauen sind schön?). Der Schwede fragt erstaunt nach, der Lette antwortet mit gespielter Ironie: "Und wie machen Sie das mit Verhaftungen in Schweden? Servieren Sie erst eine Tasse Kaffee?"

Schmugglerhotels, abgegriffene Lichtsschalter und sensationelle Straßenbahnen
Dann wieder eine Hotelszene, wie sie tatsächlich vor 20 Jahren sich hätte abspielen können: erstaunliche Angebote am Frühstückstisch in kalter Atmosphäre, verzweifelte Letten versuchen mit dem ausländischen Gast Kontakt aufzunehmen - so als ob es kein Ryanair gäbe (wenn es denn im Riga von heute spielen sollte). Aber im "Hotel Riga" war es ja früher so, die reale Abhöranlage wurde allerdings längst gefunden und ist heute im Okkupationsmuseum ausgestellt. In dieser "modernen" BBC-Fassung steckt die Abhöreinrichtung in einem billigen Plastikwecker.

Das Riga, das Wallander alias Branagh hier besucht, zeigt sich mit heruntergekommenen Wohnungen mit ausgeleierten Türen, schmutzig verschmierten Lichtschaltern, abgeschabten Flurwänden und abhörsicherem Dachboden. Frau Liepa wohnt Irgendwo Nähe Tērbatas iela, der gefilmte Umgebung nach zu urteilen. Auf dem Dachboden eine Szene, die vielleicht 1990 möglich gewesen wäre: als es nur zwei bis drei verschiedene Sorten Brandy gab, und dem Gast "Napoleon" gereicht wurde.
Verfallene Straßen ausgerechnet in der Altstadt, und ausgerechnet am Kinomuseum (2012 einzige noch nicht renovierte Stelle der Altstadt, wo so etwas ohne Aufwand gefilmt werden konnte). Und ausgerechnet die Straßenbahn als Zuflucht, wo niemand stört und niemand hinterher kommt! Die langsame, quietschende Straßenbahn der 90er Jahre - gezeigt werden nur ältere Modelle (es hätten schicke Niederflurwagen sein können!).

Noch eine Replik: bedrohte Journalisten
Alles außerhalb von Straßenbahnen bleibt in Riga bedrohlich. Ausländer werden angefleht zurückzukommen, da die Letten ihre Sachen nicht allein regeln können (Frau Liepa droht im Polizeigefängnis zu verschwinden).
Schließlich wird Anti-Korruptions-Journalist Upitis erschossen. Der letzte reale Vorgang dieser Art war 1994 - aber auf die Vorabrecherche realistischer Verhältnisse kam es diesen Filmemachern offenbar nicht an; lieber rühren sie alles Halbwissen und Vorurteile zusammen.

Plötzlich, überraschend real, während einer Autofahrt die Musik vom Letten-Rapper "Ozols" - leider bleibt es nur ein Momenteindruck, die Musik wird nicht mal im Abspann erwähnt. Also sind Erinnerungen an das real existierende Riga nicht so wichtig? 

Überall in Riga fliegen Tauben, und alles scheint durch dreckige Hinterhöfen miteinander verbunden zu sein. Kein Supermarkt, kein modernes Hotel ist zu sehen. Allerdings ein Apparat für E-Taloni im alten Straßenbahnwaggon. Die orthodoxe Kathedrale in frisch renoviertem Glanz. Ein Klavierstück als Sehnsucht nach Privatheit in unsicherem Gelände. Abgehörte Wohnungen und Reden nur unterm Dach.

Schlußakkord im KGB-Archiv
Warmes Sommerlicht weiterhin nur in Skåne. Ich musste schon ein wenig lächeln, als sich die Filmdramatik sich ausgerechnet auf den "Latgales Tirgus" (oder auch "russischer Markt" genannt) konzentriert. Normalerweise ein chaotischer Flohmarkt mit Ersatzteilen aller Art - vielleicht Schwarzgehandeltem unter dem Tisch. Hier spielen die angeblich korrupten Polizisten ein wenig Katz und Maus, mit Fortsetzung auf dem Zentralmarkt. Eine schwedische Botschaft als Zuflucht (der zivilisierten Menschen?). Fluchtwege von der Nordstadt in die Altstadt und weiter zur Maskavas iela. Ein flüchtiger Bezug auf alte Zeiten: Baiba outet sich als Ex-Aktivistin der lettischen Unabhängigkeitsbewegung.

"I must say, Kurt, you are a difficult man to protect!"
Artūrs Skrastiņš, nach Rollen in "Likteņdzirnas",
"Baiga vasara", "Rīgas sargi", "Mazie laupītāji"
("Die kleinen Bankräuber") und "Rūdolfa mantojums" -
nun als zwielichtiger Polizist Putnis
Ein Finale in einem vergessenen alten, sowjetisch riechenden Archiv - das könnte ich mir in Riga gut vorstellen! Ob nun wie im Film die alten KGB-Akten mit heutigen Polizeiakten gemischt sind oder nicht, wäre dabei nebensächlich.
Ein gemütlicher, dicker Polizist geht an einem schlecht bezahlten Wachmann-Kollegen mit den Worten vorbei: "Šīs ir pillā" ("dieser hier ist betrunken") - und schon stößt er allein fast bis ins "Allerheiligste" vor. Schade, dass Branagh im Film nicht mehr von der Entzauberung der angeblichen Sowjet-Allmacht zeigt, wie sie ja im Zuge der lettischen Unabhängigkeitsbewegung tatsächlich geschah. Die neuen lettischen Eliten hätten es verdient, im gleichen Atemzuge mit entzaubert zu werden!

Am Ende bleibt übrig ein tapfer Riga-Balsam trinkender edler Polizist russischer Abstammung, der angeblich seit der lettischen Unabhängigkeit nicht mehr an Wahlen teilnehmen kann (obwohl fließend Lettisch sprechend!), und dessen Vollmachten von korrupten Kollegen und Vorgesetzen beschränkt werden. "Savakt aiz sevis!" steht geschrieben an der Wand, hier wohl als "rette sich wer kann" zu übersetzen.

Ein lettisch sprechender russischstämmiger Polizist, der seine angebliche Benachteiligung zum Vorwand nimmt, nicht stärker im Sinne der Gerechtigkeit eingegriffen zu haben ins Geschehen? Allzu schablonenhaft, finde ich.
Billige, mitleiderheischende Phrasen für den daheim auf dem Sofa sitzenden Briten, der sich Sorgen macht um Demokratie und lettische Volksgesundheit? Nur um ein paar Zuschauersympathien zu gewinnen? Das hätte Branagh sicher nicht nötig gehabt.

Als Schlußbild wieder leere, spärlich eingerichtete Räume - wie einsame "Ēdnīcas" im 80er Jahre Design. Nur hat es sie derart leer auch nie gegeben in Riga. Niemand rührt dort einsam in riesigen Hallen in seinem Kaffee. "Ist Schweden so schön wie es im Buch beschrieben steht?" fragt die schöne Witwe Baiba, nachdem sie vom schwedischen Kommissar Grabblumen geschenkt bekommen hat. Zurück in der Wohnung schiebt Baiba die Vorhänge beiseite und läßt warmes Licht herein, und das sowjetische Siegerdenkmal grüßt im Abendlicht.

Mehr Diskussionsstoff - und eine Zukunft für in Riga gedrehte Filme?
Ingeborga Dapkūnaitė - "geboren in Litauen, als das
Land noch Sowjetunion war" - so versucht die BBC den
Zuschauern die Schauspielerin in einer der Hauptrollen
näher zu bringen
Noch kurz zu den Schauspielern: Kenneth Branagh spielt immerhin so, wie ein ahnungsloser Schwede eben in Riga herumlaufen könnte, fast immer mit "Leidensmiene", wie der "Tagesspiegel" richtig anmerkt. Die lettische Hauptrolle (die offenbar hauptsächlich wie "schöne Witwe" aussehen sollte) spielt die Litauerin Ingeborga Dapkūnaitė. Der einzige schauspielernde Lette ist Artūrs Skrastiņš (vielfach preisgekrönt im eigenen Land!) und spielt ausgerechnet den größten Schurken Kommissar Putnis. Er musste, lettischen Presseberichten zufolge, ein "hartes Casting" absolvieren um diese Rolle zu bekommen. Die Produktionsbedingungen in Lettland vorsortiert hat "Baltic Pine Films", die auf die Einlösung des Versprechens hoffen, Produzent Andy Harries würde für weitere Filmproduktionen nach Lettland zurückkommen. Aber: nur wenige lettische Schauspieler können ausreichend Englisch, ist aus Richtung der Produktionsfirma vernehmbar. "Ausgesiebt" wurde von den Briten auch Rēzija Kalniņa, deren Deutschkenntnisse offenbar besser sind, denn sie spielte auch schon eine ARD-Hauptrolle in der deutschen Serie "Polizeiruf 110" ("Die Lettin und ihr Lover") .

Danke, Kenneth Branagh - der den Film mitproduziert hat - für eine zweite Fassung der "Hunde von Riga", also im Sinne von Henning Mankell der Verhältnisse von Riga 1990. Sie gibt erneut Anlaß über Riga nachzudenken - auch im Sinne eines Kommentars in der lettischen Zeitschrift "IR", der bedauert dass von der mit der lettischen Unabhängigkeitsbewegung sympathisierenden Stimmung der ersten Fassung bei Branagh nichts mehr zu spüren ist (aber dem Irrtum aufsitzt, man solle in ausländische Kinoproduktionen bis ins Drehbuch hinein staatlich "korrekt" intervenieren?). Da überschätzt sich jemand: die künstlerischen Vorstellungen eines Drehbuchautors sind sicher nicht von ein paar Euro Zuschuß eines russischstämmigen Bürgermeisters am Drehort abhängig, und schon gar nicht von einer dahinter sichtbaren russischen Mafia - sonst hätte sich ja die düstere Spielfilmfiktion doch noch selbst prophezeihend erfüllt. Deutsche Fernsehzuschauer werden jedenfalls wegen dieses Films nicht an der Berechtigung der lettischen Unabhängigkeit zweifeln, und Umsetzungsschwierigkeiten der Demokratie gibt es eben in allen Ländern. Zum Vergleich lohnt sich der Kommentar zur lettischen Filmföderung in der "Latvijas Avize" zu lesen, denn offenbar gab es auch schon Filmförderung aus Riga, bei der am Schluß Riga gar nicht im Film gezeigt wurde.

Nein, es war spannende Abendunterhaltung im modernen, nüchternen Stil für alle, die sich um die realen Verhältnisse in Riga nicht weiter kümmern.
Auf die erste Filmfassung gab es Stimmen, die gerade die in Riga dargestellten Vorgänge als "unlogisch" kritisierten (z.B. hier). Dem konnte damals entgegnet werden: ja, aber die Verhältnisse im Riga 1990 WAREN unlogisch! Deutsch geordnet und sortiert vollzog sich da gar nichts, und deshalb konnten sich auch Riga-Liebhaber mit der ersten Wallander-Filmfassung anfreunden. Ob auch mit der zweiten? Ich bin auf weitere Kritiken gespannt (die in der FAZ zählt nicht, dieser Mensch schien den neuen Film gar nicht gesehen zu haben und beschreibt statt dessen alle anderen Bücher Mankells...).

Infos:
ARD zu Serie / noch verfügbar: der Branagh-Film in der ARD-Mediathek
"Hunde von Riga" bei Wikipedia / Filmkritik im "Tagesspiegel" / englische Fassung / Zu den Dreharbeiten: "Film Riga" / private Sicht auf die Dreharbeiten / Wallander-Ausschnitte der BBC / Bericht "Ystads Allehanda" über die Dreharbeiten in Ystad / und nochmals "Ystads Allehanda" / "Delfi.lv" über Branagh in Riga /"Dogs of Riga" im US-Fernsehen / Kenneth Branagh im Interview über seine Rolle als "Wallander" / Privatfotos von den Dreharbeiten in Riga / Fotos von den Rigaer Dreharbeiten bei "Delfi.lv" und Fotos von Artūrs Skrastiņš auch hier / Filminterview Ingeborga Dapkūnaitė bei DIENA-TV (russisch) / Kommentar in der Zeitschrift "IR" / Anmerkungen zur Filmmusik bei "Hunde von Riga" /