Lettland und die Feiern zum Sieg über Hitler-Deutschland: eine Belastungsprobe
Die für den 9. Mai in der russischen Hauptstadt geplanten Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland lassen unversehens erkennen, dass in dem aktuellen Konstrukt "Kreml"-Herrschaft eine Doppeldeutigkeit verborgen ist. Nimmt man nämlich den Anlaß - das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa -, so markiert das Datum in der modernen Geschichte den absoluten Machthöhepunkt Moskaus. ....... Die strategischen Nuklearwaffen und der Kalte Krieg zementierten diese Position Moskaus über vierzig Jahre lang - bis es die UdSSR schließlich in einem Strudel aus aufgezwungenem Wettrüsten, wirtschaftlichen Fehlentwicklungen und demokratischen Reformen zerriss und das sozialistische Staatenbündnis auseinanderfiel. Seither hat Moskau die einstige Machtfülle nicht mehr erreicht.
Allerdings verbietet es sich für den Kreml, gleichsam nahtlos an das untergegangene Modell anzuknüpfen oder es als Zielmarke anzuvisieren. Man will ja den Anschluß an den Westen, und sei es nur, um in der globalen Volksfront gegen Terrorismus den einen oder anderen Konfliktherd im Kaukasus gewaltsam, aber mit dem mehr oder minder expliziten Einverständnis Washingtons oder Berlins "befrieden" zu können. Insofern muss sich das heutige Rußland schon deutlich abheben vom Vorgängerstaat. Nur scheint es nicht so besonders gut zu gelingen, was in den drei baltischen Staaten derzeit für einige Turbulenzen sorgt.
In der "Lettischen Presseschau" bei früherer Gelegenheit bereits berichtet: der russische Präsident Wladimir Putin hat zu den Feierlichkeiten am 9. Mai auch seine Amtskollegen aus Estland, Lettland und Litauen, Arnold Rüütel, Vaira Vike-Freiberga und Valdas Adamkus, nach Moskau eingeladen. Ungefähr zeitgleich ließ der Kreml nach Riga übermitteln, man könnte diese Gelegenheit nutzen, um den überfälligen Grenzvertrag zwischenLettland und Rußland zu unterzeichnen, im Paket womöglich mit einer gemeinsamen politischen Erklärung.Soweit der Stand Mitte Januar, als V. Vike-Freiberga erklärte, sie würde die Einladung Wl. Putins annehmen. In den Hauptstädten der baltischen Nachbarn zeigte man sich ob dieser lettischen Ankündigung ein wenig düpiert, hatte man doch zuvor vereinbart, in dieser Frage gemeinsam vorgehen. Zwar sei davon auszugehen, dass A. Rüütel und V. Adamkus sich gleichfalls nach Moskau aufmachen würden, aber ein wenig aus Riga unter Druck gesetzt fühle man sich da wohl, ließen die gewöhnlich gutinformierten Kreise in Tallinn und Vilnius verlauten. Vytautas Landsbergis, seinerzeit Vorsitzender des litauischen Parlaments, grummelte denn auch: "Die Entscheidung der lettischen Präsidentin schätze ich negativ ein. Die baltischen Staaten haben seit 1990 ihre Positionen in den wesentlichsten Fragen untereinander abgestimmt, und in dieser Solidarität hat unsere Stärke gelegen" (Diena, 14. Januar). Entfallen scheint dem wackeren Politiker allerdings, daß die Grundlage für die von ihm angerufene baltische Gemeinsamkeit objektiv nicht immer gegeben ist. So hat Litauen bereits seit 1997 einen Grenzvertrag mit Rußland, und bereits am 29. Juni 1991 hattt der Russischen Föderation, Boris Jelzin, ihre Signaturen unter eine Erklärung gesetzt, die die Annexion Litauens durch die UdSSR beim Namen nennt (Diena, 15. Januar und 8. Februar).
Nein, sie werde auf gar keinen Fall den lettischen Grenzvertrag in Moskau unterschreiben, hat V. Vike-Freiberga inzwischen ausdrücklich erklärt. Dies sei auch gar nicht das Ziel ihrer Reise nach Moskau. Vielmehr wolle sie die Einladung zu den Siegesfeierlichkeiten dazu nutzen, bereits im Vorfeld auf die Sicht der baltischen Staaten zum Ende des Zweiten Weltkriegs aufmerksam zu machen: "Ich werde am 10. Mai ganz gewiß keinen Grenzvertrag unterzeichnen. Ich fahre nach Moskau, um in erster Linie unseren Partnern in der Europäischen Union klar zu machen, was der 9. Mai symbolisch für Lettland bedeutet. Unser Grenzvertrag mit Rußland, der im übrigen auch für die EU von Interesse sein sollte, hätte schon lange in Kraft gesetzt werden können. Ich schlage vor, dass wir den Vertrag schon im Vorfeld des 9. Mai unterzeichnen und dann anläßlich der Moskauer Gedenkfeiern am 10. Mai die Ratifikationsurkunden austauschen", so die Präsidentin in einem Gespräch mit dem österreichischen Blatt Die Presse (25. Januar, s. auch Diena und Neatkariga rita avize, 13. Januar).
Inzwischen kursiert im Auswärtigen Amt in Riga auch der Moskauer Entwurf für eine gemeinsame politische Erklärung. Zu den problematischen Aspekten russisch-lettischer Geschichte heißt es dort: "Die Parteien stellen fest, daß Rußland und Lettland zweieinhalbtausend Jahre lang als althergebrachte Nachbarn gelebt, gemeinsam Freud und Leid geteilt und kulturelle und materielle Werte geschaffen haben". Die sowjetische Besetzung des Baltenstaates wird zu einem "Miteinanderbestehen in einem gemeinschaftlichen Staat" euphemisiert und allenfalls die Notwendigkeitbetont, daß beide Seiten die gemeinsame Geschichte wissenschaftlich erschließen. "Historische Ereignisse dürfen die Aufwärtsentwicklung in den Beziehungen der beiden Staaten nicht erschweren" (Diena, 18. Januar; Neatkariga rita 19. Januar). Eine Verbesserung der zwischenstaatlichen Beziehungen strebt auch die lettische Seite an, gewiß. In diesem Sinne kann man auch einen Passus in der Erklärung deuten, in der Lettlands Präsidentin V. Vike-Freiberga der Weltöffentlichkeit ihre Gründe für die anstehende Reise in die Hauptstadt Rußlands erläutert: "Indem ich an den offiziellen Veranstaltungen in Moskau teilnehme, reiche ich Rußland meine Hand in Freundschaft" (Veröffentlichung der Präsidentenkanzlei). Den entscheidenden Unterschied allerdings hat sie in dem bereits erwähnten Gespräch mit der Presse benannt: "Mit Erleichterung können wir also an Sturz des Nazi-Regimes erinnern. Aber die Idee, daß wir 1944/1945 von der Roten Armee befreit worden sind, empfinden wir als unerhört. Wir wollen die Welt darin erinnern, daß wir nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein besetztes Land blieben und daß wir erst 1991 wieder ein freies Land wurden".
In dieser Haltung kann V. Vike-Freiberga im übrigen auf den Rückhalt der Saeima, dem lettischen Parlament, zählen - 66 von 100 Abgeordneten stimmten jüngst für einen Beschluß, mit dem ihre "Bestrebungen" unterstützt werden, "die komplizierte Geschichte Lettlands mit dem Ziel klarzustellen, ein allgemeines Eingeständnis der Tatsache der Okkupation Lettlands zu erreichen" (Diena und Neatkariga rita avize, 4. Januar). Und inzwischen zeigt sich, daß das lettische Staatsoberhaupt ihre Aufgabe überaus ernst nimmt, dies belegen das schon erwähnte Gespräch in der österreichischen Zeitung Presse oder allein die Schlagzeilen im Berliner Blatt Der Tagesspiegel - "Balten: Putin muss die Wahrheit sagen" (6. Februar) oder "Alte Wunden. Moskau ist empört über die Balten - Putin wirft ihnen Geschichtslügen vor" (7. Februar).
Das Sperrfeuer aus dem Kreml war schon zuvor eröffnet worden: man könne die angeregte gemeinsame politische Erklärung sofort "beerdigen", sollte Riga in das Dokument den Begriff "Okkupation" hineinschreiben, tönte Viktor Kaluschnij vollmundig, der neue russische Botschafter in der Ostseernationale Angelegenheit des russichen Parlaments stieß ins gleiche Horn, als er V. Vike-Freiberga angiftete: "Nachdem die Präsidentin der Republik Lettland die Einladung des russischen Präsidenten angenommen hat, Moskau zum 60. Jahrestag des Sieges zu besuchen, hat sie es sich erlaubt, mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit zu treten, in der die Geschichte des Zweiten Weltkriegs grob verzerrt wird". Im selben Zug wird die weitere Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Republik Lettland auf die üblichen Ursachen zurückgeführt: "Massenhafte Staatenlosigkeit nationaler Minderheiten, Beschneidung der Bildungs- und Wahlrechte der russischsprachigen Einwohner und die Unterstützung staatlicher Organe für Bestrebungen, den Nationalsozialismus zu verherrlichen" (Neatkariga rita avize, 4. Februar). Der mittlerweile ausgearbeitete lettische Vorschlag für die angestrebte gemeinsame politische Erklärung erhielt denn auch postwendend den gesenkten Daumen des Moskauer Außenamtes zu sehen: er sei im Geiste der "Doktrin von der 'sowjetischen Besatzung'" gehalten. Näheres ist noch nicht bekannt, doch dürfte unter anderem der Hinweis auf den Friedensvertrag von 1920 beim großen Nachbarn für Mißfallen gesorgt haben - in der Vereinbarung hatte das sozialistische Rußland nämlich seinerzeit die Unantastbarkeit Lettlands zugesichert.
Weiteren Zündstoff kann man getrost in der Verurteilung des Hitlers-Stalin-Paktes von 1939 sehen sowie in der Gleichsetzung der Verbrechen aller totalitärer Regime (Diena, 11. und 12. Februar).Daß russischer Diplomatie in Sachen Baltikum mittlerweile kein Argument zu abstrus ist, hat kurz vor Weihnachten der bereits erwähnte Botschafter V. Kalushnij aufs vortrefflichste vorgeführt. Ganz so, als ginge es bei der Veranstaltung in Moskau nicht um den 60. Jahrestag des Niederschlagung des Faschismus in Europa, erklärte er zum Begehr, Rußland möge die Gelegenheit nutzen, um die Besetzung des Baltikums eingestehen und sich dafür entschuldigen: "Wo soll sich hier da Tscheka (später KGB) habe schließlich der Pole Felix Dschersinski geleitet, und "von den 44 Mitgliedern des Revolutionären Kriegsrates waren 38 Juden, vier - Letten, und lediglich einer - Russe". Der Überlebende des Ghettos Riga, Aleksandrs Bergmans, vermochte da nur entsetzt kommentieren: "Das ist die gleiche Ideologie, wie sie unter den Nationalsozialisten in Lettland herrschte - Juden und Tschekisten sind ein und dasselbe" (Diena, 23. Dezember 2004) und 17. Januar).
Noch schlimmer eigentlich: im Rahmen eines ausf�hrlichen Interviews mit der lettischen Tageszeitung Diena verzichtete der Botschafter trotz Nachfragen konsequent auf jede M�glichkeit, seine �u�erungen auch nur um ein Deut zu korrigieren...Man darf auf die Wochen bis zum 9. Mai also weiterhin gespannt sein.
Dieser Text entstammt dem Newsletter der LETTISCHEN PRESSESCHAU http://www.lettische-presseschau.de. (Vielen Dank an Ojars Rozitis)
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