Wenn Vertreter eines ausländischen Staates beim Deutschen Bundestag vorstellig werden und sich über deutschsprachige Medien beschweren, dann muss schon Schwerwiegendes vorgefallen sein; zu denken wäre zum Beispiel an die Türkei-Satire von Jan Böhmermann, oder auch der Wirbel um die diesjährige Echo-Verleihung. Stark verzerrende, irreführende oder zumindest mißverständliche Berichte über Lettland gab im wesentlichen nur
vor dem EU-Beitritt des Landes - danach pendelte sich das Image Lettlands in den deutschen Medien irgendwo ein zwischen "schönes Urlaubsland", "Geburtsland des Weihnachtsbaumes" und "Außengrenze Europas mit vielen Arbeitsmigrant/innen".
Wieviele Zuschauer nun einen Beitrag der Reihe "Reportagen und Recherchen" auf ARTE wirklich gesehen, haben, ist mir unbekannt. In der Regel liegt der Prozentsatz unter 1%. In sofern könnte man es eigentlich auch abhaken unter der Rubrik "ein Filmchen unter vielen". Die öffentliche Reaktion erfolgte ja aber auch nicht von Seiten der lettischen Regierung, sondern von der lettischen Botschaft in Berlin. Dort gibt es zwar schon seit Jahren niemand der zuständig wäre für "Kultur und Gedöns" (frei nach Ex-Kanzler Schröder), wohl aber eine gesonderte Stelle zur Presseauswertung. Der Presseauswerter hielt es also offenbar für nötig, dem Sender ARTE einen
Brief (mit Sackpost?) zu schreiben, und mit diesem dann die "sozialen Medien" zu befeuern (Näheres darüber ist zu lesen nur bei Facebook und
Twitter).
Allerdings fordert auch bei der lettischen Botschaft niemand, die Journalisten zu bestrafen oder zu maßregeln; das Fazit lautet lediglich: "eine traurige halbe Stunde des freien Journalismus". So sind es auch zunächst Twitter-Nutzer, die über Hintergründe des Beitrags spekulieren. Zur Person von
Susanne Roser, im Film als "Autorin" ausgewiesen, lässt sich im Netz einiges an
langen Diskussionen finden über andere Projekte von ihr (ohne darüber urteilen zu wollen, wer da Recht haben könnte). Angeblich habe sie den Lettland-Beitrag gemacht, nachdem sie diesbezügliche Nachrichten vom russischen Propagandasender "Sputnik" gelesen habe (siehe:
Šukevičs).
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Ausschnitt aus dem Brief der lettischen Botschaft an den Sender "ARTE" |
Auch der lettische öffentlich-rechtlichen Sender
LSM beleuchtet die Entstehungsgeschichte des Beitrags. Journalistin Sandra Valtere, schon seit Anfang der 1990iger Jahre für das ZDF als Kooperationspartner tätig und erprobt, wurde offenbar zunächst auch von der ARTE-Autorin angesprochen. Anfangs sei sie froh gewesen helfen zu können, dann aber habe sie zunehmend den Eindruck gewonnen, hier werde wohl eher ein Propaganda-Film gemacht über "Nationalisten wie sie die Russen unterdrücken". Ganze fünf Tage habe sich die Autorin in Lettland aufgehalten, und sei auch vorher nie in Lettland gewesen, erzählt Valtere. "Ich hatte den Eindruck, eine andere Quelle füttert hier entsprechend nach", sagt sie.
Am 16.4. lief der Film in der Reihe "
Re:Regards", produziert von "
Kobalt Kreation", dort angekündigt mit der Frage: "Kann ein friedliches Zusammenleben in Lettland funktionieren"? Antworten auf diese Frage gibt der Film nicht - im Gegenteil. Wer schon die Rahmenbedingungen des Lebens in Lettland, sowohl was den rechtlichen Rahmen wie der Verlauf von Meinungsunterschieden und Diskussionen falsch darstellt - dem müssen auch die Ideen für "friedliches Zusammenleben" misslingen. Als Redakteur zuständig: Martin Ehrmann - der immerhin auch bei dem Grimme-Preis-gekrönten Film "
Flucht nach Europa" mitverantwortlich zeichnete.
Eines vorab: völlig unstrittig ist, dass sich Lettland keinen Gefallen tut, immer noch am 16. März die lettischen SS-Einheiten zu ehren - viel besser wäre es, allen zu gedenken, die zwar für sich persönlich ehrenhafte Gründe hatten sich auch mit Waffen für ihre Ziele einzusetzen, die aber von Diktatoren und Militaristen missbraucht wurden. Dass dieses Thema immer wieder Grund für kritische Berichte gibt, muss sich Lettland gefallen lassen.
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ARTE-Dokumentation mit falschem Titel: vieles, was "russische Aktivist/innen" hier erzählen, würde besser zu "Angst vor der lettischen Mehrheit" passen. Aber Aufklärung über die Tatsachen leistet ARTE an dieser Stelle nicht - unterlassene Recherche? Vorurteile? |
Einen entscheidenden Fehler macht der Film aber auf jeden Fall: während Bild und Ton durchaus sehr unterschiedliche Gesprächspartner zu Wort kommen lässt, was ja erstmal ein Plus sein könnte, suggeriert der unterlegte Kommentarton, eine sachliche Zustandsbeschreibung der Lage zu geben. - Würde man diese irreführende Kommentarstimme weglassen, und nur den Inhalt der Interviews senden - könnten sich wenigstens die Zuschauer ein eigenes Bild machen. Interessante Textstellen gibt es in dieser halben Stunde genug. Da schwafelt Ex-Sowjetfunktionärin Tatjana Zdanoka unwidersprochen von einer "angeblichen Okkupation Lettlands durch die Sojwetunion", und wird an dieser Stelle nicht einmal danach befragt nach ihren Argumenten warum sie das glaubt (hat nicht etwa das Sowjetregime Schein-Wahlen 1940 mit handverlesenen Kandidaten veranstaltet, damit sich dann Lettland "freiwillig" zum Sowjet-Beitritt entschließen konnte, und diejenigen, die danach immer noch dagegen waren, nach Sibirien deportiert?).
Oder die russische Verkäuferin auf dem Großmarkt. Da wird sie von einer russischen "Aktivistin" darin bestärkt, mit ihren Kunden russisch zu reden; Fakten dazu, warum sie das etwa nicht tun sollte, werden nicht erwähnt - stattdessen die glatte Lüge, die lettische Regierung wolle das Russisch sprechen in der Öffentlichkeit ganz verbieten (keine Quellenangabe, klar!). Die "Gegenseite" repräsentiert hier nur das böse Wort von der "Sprachenpolizei" (dass diese Kontrolle aber lediglich dazu dient, in jedem Laden und an jedem Verkaufsstand mindestens eine Person zu haben, die / der Kund/innen Lettisch bedienen kann, bleibt unerwähnt). Lieber arbeitet die Autorin am Zusammenzimmern ihrer gewünschten Leitthese: früher wurden die Letten unterdrückt, heute die Russen.
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im ARTE-Film als "radikal moskautreu" vorgestellt: Tatjana Ždanoka. "In der Zeit von Gorbatschow und Jelzin habe ich mich im Ausland geschämt zu sagen, dass ich eine Russin bin", sagt sie.Was sie aber von Stalin hält, wird sie leider nicht gefragt. |
Szenenwechsel. Ein Pass eines Russen wird gezeigt, der den Status eines "Nichtbürgers" hat. Kommentar: "Wenn Joseph seine Verwandte in den USA besucht, sorgt sein Pass mit dem Vermerk 'Alien' immer wieder für Aufsehen." Unerwähnt bleibt an dieser Stelle etwas anderes. Ein Wort - deutlich zu sehen - das ebenfalls in diesem Pass zu sehen ist: Ebrejs. Ein Jude also. Die "Verwandten in den USA" machen sich hier also wohl weniger Sorgen um einen Russen, sondern um einen Juden in Lettland. Schließlich hat die Aufarbeitung des Holocausts in Lettland zwar inzwischen begonnen, aber schon die Kennzeichnung im Pass würde ja auch in Deutschland großes Aufsehen erregen. Aber immerhin kann "Joseph" ja offenbar frei reisen - in die USA, und wohl auch anderswo hin.
Nächste Szene. Eine Russin mit Kind. Eine "weitergereichte" Russin offenbar, denn schon 2015 tauchte sie als Interviewpartnerin gleich zweimal im
MDR auf (siehe auch:
Ostblogger). Diese "Aktivistin" (in Wahrheit: Parteipolitikerin der "
Saskaņa") behauptet, unter den Russen in Lettland gäbe es nur zwei Gruppen: solche, die meinen in der Sowjetunion sei alles besser gewesen, und solche wie sie, die an die Demokratie glauben. Wow! Ein starkes Stück von Selbstbeweihräucherung - aber auch diese Aussage bleibt ohne Gegenfrage - Ausländern, die sich nicht auskennen, kann man ja mal sowas erzählen. Verwunderlich auch, dass es doch angeblich "verschiedene Gruppen" geben soll - aber am Schluß alle zusammen mit der im Film als "Hardlinerin" vorgestellten Tatjana Ždanoka an einem Tisch sitzen - deren Ausschweifungen im Film alle ohne Gegenargumente bleiben.
Zitat aus dem Film: "Als Lettland 1991 unabhängig wurde, verloren die Nachkommen ehemaliger russischer Einwanderer ihre Staatsbürgerschaft." Da müsste man doch fragen: welche Staatsbürgerschaft verloren sie? Die lettische? Verloren wurde die sowjetische. Weil das marode, diktatorische Sowjetsystem endlich, endlich zusammenbrach. Allen, die durch die sowjetische Besetzung 1940 die lettische Staatsbürgerschaft verloren, denen wurde sie auch zurückgegeben - auch gebürtigen Russen! Alle anderen müssen sich entscheiden: will ich wirklich in einem lettischen Staat leben? Einigen war das freie Reisen nach Russland zu den Verwandten wichtiger, sie beantragten den russischen Pass (und leben auch weiterhin in Lettland). Und für diejenigen, die nichts ändern wollen und dennoch in Lettland bleiben, gibt es eben den Sonderstatus "Einwohner Lettlands - Nichtbürger" - natürlich mit beruflichen Einschränkungen, denn diese Leute wollen ja bewußt kein Lettisch lernen, könnten sich also bei wichtigen Themen nicht verständigen. Falsch ist aber die Behauptung im Film, "Nicht-Bürger" seien "staatenlos".
Und weiter im Film. Behauptet wird: 61% sprechen Lettisch, 38% Russisch. Auch dies stark irreführend! Gefragt werden müsste: wie viele sprechen Lettisch UND Russisch. Unangenehm für die Ideologen ist nämlich, dass die Lettischkenntnisse unter den Russen stark ansteigen! Besonders unter den Jugendlichen. Und auch die junge, offenbar alleinerziehende Mutter im Film könnte ihr neugeborenes Kind ja kostenlos für eine lettische Staatsbürgerschaft anmelden - auch das wird verschwiegen.
Das Erstaunlichste im Film: fürs Fernsehen tut die russische Modell-Aktivistin so, als würde sie an lettischen Folklorefesten teilnehmen. Na ja, sowas gibts auch im wirklichen Leben - und erstaunlicherweise sprechen und verstehen diese an lettischer Kultur interessierten Russen Lettisch! Anders herum sowieso. - Auch diesen Widerspruch klärt der Film nicht auf: wie kann sich ein Russe für Lettland, für Menschen, Gebräuche, Denkweise und Sprache interessieren - und dann völlig verweigern, Lettisch zu lernen?
Geradezu haarsträubend der Schlußsatz des Berichts: "Eine Politik, mit der alles Russische aus der Gesellschaft verbannt werden soll, könnte Russland erst recht provozieren. Anfang April wurden dort erste Sanktionen gegen Lettland erwogen." Wer bis hierhin nicht laut gelacht hat, wird es wohl an dieser Stelle tun. Russland droht seit 1990 nahezu ununterbrochen mit Sanktionen, und manche werden auch oft ganz ohne Begründung einfach verhängt. Bitte mal andere Quellen lesen als nur "Sputnik", liebe Redaktion.
Ein Trost bleibt: vielleicht hat ja auch die russische Botschaft wegen dieses Berichts bei ARTE protestiert - dann wäre der Bericht sicher ausgewogen.