28. Mai 2018

Schild auf vier Rädern

lettische Auto-Reklame (wiederentdeckt vom
Oldtimerklub Köln)
Der 28. Mai vor achtzig Jahren - eine besondere Stunde für die lettische Industrie. An diesem Tag rollte der erste "Ford Vairogs Junior" aus der Werkstatt, eine Kopie des britischen "Ford Ten" (Latvijas Avīze). Zusammengebaut aus Ford-Einzelteilen, die aus Ford-Lagern aus Kopenhagen importiert wurden, erreichte das Fahrzeug 100k/h Spitzengeschwindigkeit. Der Hersteller, die Aktiengesellschaft "Vairogs"  konnte den Verkauf der ersten 300 Stück schon mit Vorverträgen sichern. Die lettische Regierung hatte 1936 alle Aktien der fast bankrotten "Fenikss" / "Phoenix" aufgekauft - so entstand "Vairogs" ("Schild"), mit 99% der Aktien in Staatsbesitz.

Im eigenen Lande gebaute Automobile! Stolz vorgezeigt, und von der Herstellerwerbung besonders für die damalige lettische "Mittelschicht" empfohlen; in der Presse war zu lesen, dieser Wagen sei besonders geeignete sei für Anwälte, Ärzte und Staatsbeamte - erhältlich auch auf Ratenzahlung. Der lettische Präsident Karlis Ulmanis allerdings bevorzugte einen Cadillac als Dienstwagen.

Ein Luxusmodell des "Ford Vairogs" (Motormuzejs)
Die lettische Auto-Produktion war möglich geworden durch Zollerleichterung für die Ford-Einzelteile. In den 1930iger Jahren sah Lettlands Reaktion auf die Wirtschaftskrise so aus: Protektionismus und hohe Zollschranken für einheimische Branchen. Fertigprodukte aus dem Ausland wurden mit hohen Einfuhrzöllen belegt, aber in diesem Fall waren die einzelnen Teile in Lettland montiert.

Zwischen 1937 und 1940 produzierte Ford in Lettland vier verschiedene Modelle (siehe Wikipedia), dazu noch Lastwagen und Busse. Alles per sogenannter "CKD-Fertigung".Zu seiner Zeit war "Vairogs" der größte Automobilproduzent in den baltischen Staaten.

Mit der Machtübernahme der Sowjets in Lettland kam 1940 das Ende für die Automobilproduktion - die Firma stellte fortan Munition für die Rote Armee her. Nur noch wenige "Vairogs"-Exemplare sind heute noch erhalten - der sicherste Ort, wo wenigstens zwei von ihnen heute noch zu sehen sind, ist das "Motormuzejs Riga". Auch bei der Feuerwehr Jelgava soll sich noch ein altes "Vairogs"-Rettungsfahrzeug befinden (skaties) - vielleicht ist es derjenige, den Tourist Vil Muhametshin offenbar zufällig mal in Riga fotografiert hat.

Ein Sammelstück - Fundsache
bei Ebay
Auch deutsche Oldtimer-Liebhaber sammeln wieder Informationen zum lettischen "Vairogs"-Modell (siehe Oldtimer-Klub Köln). Dort lassen sich auch Hinweise finden darauf, dass der "Vairogs" später auch zum Kübelwagen fürs lettische Militär umgebaut wurde.Auch weitere Details sind hier zusammengetragen: 30 Arbeiter sollen in Lettland beim Bau des "Vairogs eingesetzt gewesen sein, die Polster für das Auto sollen dabei aus einheimischer Fertigung gestammt haben. Interessant auch der Hinweis, dass während der Besetzung Lettlands durch die Nazis die Flick-Familie im Rigaschen Werk das Sagen bekam.

Nach der Besetzung Lettlands durch die Rote Armee wurde aus dem Werk zur Fabrikationsstätte von Eisenbahnwaggons ("Rīgas vagonbūves rūpnīca RVR"), eine der größten seiner Art in der UdSSR. Die Waggons wurden zu Spitzenzeiten bis nach Kuba exportiert, und auch das bullige Straßenbahnmodell RVR6 wurde hier gebaut. 1991 wurde RVR privatisiert, 1993 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. In den Jahren darauf wurden noch Bestellungen für Belorus und die Ukraine ausgeführt, sowie Reparaturaufträge durchgeführt. Nach mehreren Eigentümerwechseln, dem Einstieg und Ausstieg von Investoren gilt RVR seit 2017 als zahlungsunfähig. Zur Zeit wird das verbliebene Firmeneigentum bereits meistbietend versteigert (Delfi)

23. Mai 2018

Viel Pathos um den Heldenring

Einer der neuen Spielfilme, die im Jubiläumsjahr 2018 in Lettland in die Kinos kommt, ist "Der Ring des Namejs" von Regisseur Aigars Grauba. Es geht hier um die "Semgaller" (lett. Zemgale), der südliche Teil des heutigen Lettland. Zwar mögen manche die Semgaller eher als "nördlicher Stamm der Litauer" bezeichnen - das wird aber sicherlich auf den Widerspruch der Menschen aus dieser Gegend stoßen. Jedenfalls geht es um eine Zeit, als es noch nicht "die Letten" gab, sondern viele kleine Stämme und Lebensweisen. Und es gab die Kreuzritter, die Anfang des 13. Jahrhunderts nach Lettland einfielen - und die "missionieren" wollten, die angetroffenen Einheimischen möglichst christlich taufen, und zu Verbündeten bzw. Untergebenen machen wollten.

Niemand weiss mehr genau zu sagen, warum ein bestimmter aus dieser Zeit stammende Ring zu den bekanntesten archäologischen Fundstücken in Lettland wurde: das typischem Flechtwerk auf der Oberseite und die eingezogenen Drähte sind sein Kennzeichen. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er als "Ring des Namejs" (oder auch: Nameisis / Nameise / Nameyxe) bekannt. Namejs als einger der Anführer der Semgallen - das ist mehrfach historisch belegt - es gab ihn also wirklich; er schlug Ende des 13. Jahrhunderts, zusammen mit litauischen Verbündeten, ein paar erfolgreiche Schlachten gegen die Kreuzritter (siehe: Schlacht bei Aizkraukle).
Es waren ja auch tatsächliche archäologische Fundstücke: zum Beispiel am Burgberg von Daugmale (Grabungen in den 1930iger Jahren). Damals fand man heraus, dass dieser Ring nicht nur einfach gegossen, sondern mit feinen Silberdrähten verflochten war - also das Meisterstück eines guten Handwerkers war. Die Ringe wurden so bekannt und beliebt, dass viele von ihnen sogar aus den wissenschaftlichen Instituten heraus, bald nach den Ausgrabungen, gestohlen wurden.

"Namejs" als Theaterspektakel - nach der Romanvorlage in den
1930iger Jahren auf lettischen Bühnen (Abb. "Jauna Gaita")
Es heißt auch: Letten in aller Welt erkennen sich gegenseitig am Namejs-Ring! Der Vater oder der Großvater schenkt ihn dem Sohn oder Enkel, wenn er auf dem Wege ist erwachsen zu werden. Ein Geschenk, um es nicht mehr vom Finger abzulösen. Eine der (vorläufig) letzten Motive auf dem lettischen Lats (2014 vom Euro abgelöst) war genau dieser Ring.

Archäologin Zenta Broka-Lāce weist allerdings auch darauf hin, dass der Namejs-Ring eigentlich nicht aus Semgallen stammt, nicht einmal von Daugmale. Er wurde nach Vorbildern aus Latgale gefertigt, dem heutige Osten Lettlands. Der erste "Namejs-Ring" kann schon deshalb nicht in Daugmale gefertigt worden sein, da Daugmale als zentraler Platz Semgallens zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert diente, die bei Daugmale gefundenen Ringe aber einer wesentlich späteren Phase entstammten, und zudem der Ort im 13. Jahrhundert nicht mehr besiedelt war (zur Zeit des Namejs). "Die Legenden um den Namejs-Ring wurde in den 1930iger Jahren aus eher politisch-ideologischen Gründen geschaffen, nicht auf wissenschaftlicher Basis", meint Broka-Lāce.

Filmplakat "Nameja gredzens"
Diese Legende wurde vor allem durch den Schriftstller Aleksandrs (eigentlich: Jēkabs) Grīns begründet, der 1918 Fragmente eines Romans „Ring des Namejs” publizierte.Dieser Roman wurde so populär, dass die lettischen Leserinnen und Leser nun fast mehr die Romanhandlung für Tatsache hielten als Aussagen von Historikern. Besonders nach dem 15.Mai 1934, als Präsident Ulmanis (der aus Semgallen stammte!) die Parteien verbot und sich selbst zum autoritären Herrscher (lett. vadonis = Führer) ernannte, wurde die Legende vom unbesiegbaren Helden aus Semgallen noch populärer.
Die Wirkung der Theaterfassung des "Namejs"-Romans, die 1935 Voldemārs Zenbergs ("Sauleskalns")  auf die Bühne brachte, beleuchtete 1973 die lettische Exilzeitschrift "Jauna Gaita" ausführlich; eine pompöse Aufführung mit 81 Schauspielern auf der Bühne und patriotisch aufgeblähten Texte, die auch von "Führern und Rettern des ganzen lettischen Stammes" schwärmte.

Wie dem auch sei - mit etwas weniger Pathos trägt ein Lette heute diesen Ring, um zu zeigen dass er Lette ist. Die lettische Hardrockband Skyforger widmete dem legendären Helden einen Song (Virsaitis Nameisis). Ein wenig eigenes Selbstbewußtsein muss eben zur Definition einer lettischen Identität sein - solange es nicht herabsetzend gegenüber Menschen anderer Herkunft gemeint ist, muss man es ihnen wohl lassen.
Die Legende von "König Namejs" - hier eingesetzt
für die lettischen Tourismuswerbung
Inzwischen ist der Namejs-Ring ja schon nicht mehr nur ein Symbol für vermeintliche historische Helden, sondern für alle Wechselbäder durch die Lettinnen und Letten im 20. Jahrhundert gehen mussten. Bis in die 80iger Jahre hinein durfte der Namejs-Ring in Sowjet-Lettland nicht verkauft werden - wer gute Beziehungen zu einem Schmuckhersteller hatte, bestellte ihn "privat". Wenn heute dieser Ring in den lettischen Touristenläden schon beinahe als Massenware angeboten wird - aus Sicht von Lettinnen und Letten bleibt, wenn schon nicht all die schönen Heldengeschichten, dann doch wenigstens der Ring etwas sehr Besonderes. Daher ist klar, dass auch der neue Kinofilm (engl. Titel "The Pagan King") in Lettland guten Zuschauerzuspruch haben wird.

Wer sich als Gast in Lettland ein klein wenig wie ein zemgallischer König fühlen möchte, der kann in Koknese eine Ausfahrt mit dem Boot "König Nameitis" buchen - für 8 Euro pro Person (Info). Wer sich aber als Souvenir einen entsprechenden Ring kauft, oder vielleicht geschenkt bekommt, wird sich vielleicht spätestens dann für die Mythen um den Ring des "Heidenkönigs" näher interessieren.

17. Mai 2018

Letzte Bühne

Wenn in der ersten Juliwoche 2018 das Allgemeine Lettische Sängerfest (zum 26.mal) und das Lettische Tanzfest (zum 16.mal) stattfindet, wird das Programm teilweise mitten in große Umbauarbeiten eingebettet. Die gesamte Anlage im "Mežaparks" (Waldpark) in Riga wird bis zur geplanten Fertigstellung im Jahr 2021 in zwei Schritten erweitert und teilweise völlig erneuert - Schritt eins wird vor dem diesjährigen Sängerfest abgeschlossen, Schritt zwei wird dann folgen. Vor allem eines wird sich dann für die nächsten kulturellen Großereignisse ändern: die Tribüne, von der aus Sängerinnen und Sänger bisher sich aufgestellt und ihre Lieder dargeboten hatten, wird völlig abgebaut und neu erstellt.

Bis 2021 werden die Änderungen dann so aussehen:
- mit 30.000 Sitzplätzen werden es 8.000 mehr als bisher sein
- die neue Bühne wird Platz für 11.000 Menschen bieten, 5300 mehr als bisher (bei Sängerfesten sogar für bis zu 14.000 Personen)
- bei Veranstaltungen ohne Sitzplätze wird es Platz für 70.000 Menschen geben, 25.000 mehr als bisher
Vor und nach den Sängerfest-
Feierlichkeiten: vor allem Bauarbeiten
- neue Toilettenanlagen, bessere Anfahrtswege, klar ausgewiesene unterirdische Bereiche für Händler strukturieren den Servicebereich völlig neu
- es wird einen unterirdischen Bereich geben, der auch im Winter nutzbar sein wird als Konferenz- und Ausstellungsraum

Beim Bau des neuen lettischen Gesangstempels helfen übrigens auch Akustikexperten aus Deutschland mit -  der "Müller BBM GmbH" aus Hamburg, die einige Jahre zuvor auch bereits beim Bau der neuen Konzerthalle in Liepāja (Lielais Dzintars) dabei waren. Andris Zabrauskis, als Dozent der Technischen Universität Riga ebenfalls auf Akustik spezialisiert und das Projekt wissenschaftlich begleitend, schaut voraus: "Wir wollen eine der modernsten Frewileichtbühnen für Chöre in der ganzen Welt schaffen. So werden wir zum Beispiel auf dem Dach eine spezielle Membran anbringen, welche Sängerinnen und Sänger vor akustischen Einflüssen von Regen oder Wind schützen wird." (TVNet) Ein weiteres Zugeständnis an die Akustik ist es, dass die Zuschauerbänke auch in Zukunft keine Rückenlehnen haben werden.

Der lettische Architekt Austris Mailītis präsentiert
seinen Bühnenentwurf: "einen gläsernen Hügel ersteigen"
Im Jahr 1873 waren es 1003 Sängerinnen und Sänger, die sich zum ersten Lettischen Sängerfest trafen. In Riga fanden die ersten Sängerfeste im früheren "Kaisergarten" (Ķeizardārzs) statt (heute "Viesturdārzs), der 1973, zum 100.Jubiläum, auch schon mal "Sängerfestpark" hieß. 1955 wurde die Große Bühne (Liela estrāde) im Mežaparks fertig gestellt. Vorgesehen war die Bühne damals für 7000 Sänger/innen, oder 100 Tanzpaare, dazu 35.000 Zuschauern (die vielfach ja auch zu Mitsänger/innen werden - wer es je live erlebt hat).

Das 2007 aus einem Ideenwettbewerb hervorgegangene Restaurierungsprojekt der beiden Architekten Juris Poga und Austris Mailītis "Sidraba birzs stikla kalnā" (Silberhain auf dem gläsernen Berg) bezieht sich in seinem Titel auf lettische Volkssagen, und soll auch die Hoffnung ausdrücken, die neue Anlage möge im Einlang mit der Natur der Umgebung stehen. Wie Blätter eines Waldes möge die Bühne die SängerInnen umgeben, so drückt es der erst 33 Jahre alte Mailītis aus, dessen steile Karriere auch die lettische Presse verwundert (Jauns.lv). Interessant auch, dass er sich von "Apeirons" beraten ließ, einer lettischen NGO die sich für Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen einsetzt (delfi.lv).

Die Finanzierung des Projektes war auf 45 Millionen Euro geschätzt worden (davon 18 Mill. für den ersten Bauabschnitt). Mit der Baudurchführung sind "Re&Re" und "LNK Industries" beauftragt - die nicht einmal die günstigen Baukosten versprechen mussten, denn der Rigaer Stadtrat sah den lettischen Ableger der finnisch-estnische Firma "Lemminkainen", die ebenfalls ein Angebot abgegeben hatte, als zu unerfahren für die Durchführung an (lsm). Und, wie so oft mit Baukosten, die geplanten Summen lassen sich nicht einhalten: 26,7 Millionen Euro wird wohl der erste Bauabschnitt letztendlich kosten, aber niemand möchte sich beim den Endbetrag des zweiten Abschnitts festlegen.

Sängers heilige Wandelhallen - architektonische Träume,
die in Riga erschaffen werden
Der 4.Mai 2021 wird nach dem 100.Staatsjubiläum unser nächster großer kultureller Feiertag sein - so drücken es vor allem die Bauverantwortlichen im Hinblick auf das Eröffnungsdatum aus. Allerdings wird 2023 wohl ebenfalls ein großer Feiertag sein - das 150.jährige Bestehen dieser nun als "typisch lettisch" angesehenen Sängerfeste. Einzig die zukünftigen Eintrittspreise sind noch nicht klar: war es früher mal Ehrensache, massenhaft Tickets für Freund/innen und Bekannte im voraus zu reservieren, sind die Zugangsmöglichkeiten heute knapper geworden - besonders für die "bezahlbaren" Tickets. Da bleibt die Hoffnung, dass auch in Zukunft die Teilnahme an den Sängerfestaufführungen keine elitäre Angelegenheit wird. Dennoch: heute heißt es erstmal "auf zum Großen Sängerfest!" Die Demontage der bisherigen Bühne wird bereits am 20.August 2018 beginnen.

4. Mai 2018

ARTE - Angst vor der lettischen Mehrheit

Wenn Vertreter eines ausländischen Staates beim Deutschen Bundestag vorstellig werden und sich über deutschsprachige Medien beschweren, dann muss schon Schwerwiegendes vorgefallen sein; zu denken wäre zum Beispiel an die Türkei-Satire von Jan Böhmermann, oder auch der Wirbel um die diesjährige Echo-Verleihung. Stark verzerrende, irreführende oder zumindest mißverständliche Berichte über Lettland gab im wesentlichen nur vor dem EU-Beitritt des Landes - danach pendelte sich das Image Lettlands in den deutschen Medien irgendwo ein zwischen "schönes Urlaubsland", "Geburtsland des Weihnachtsbaumes" und "Außengrenze Europas mit vielen Arbeitsmigrant/innen".

Wieviele Zuschauer nun einen Beitrag der Reihe "Reportagen und Recherchen" auf ARTE wirklich gesehen, haben, ist mir unbekannt. In der Regel liegt der Prozentsatz unter 1%. In sofern könnte man es eigentlich auch abhaken unter der Rubrik "ein Filmchen unter vielen". Die öffentliche Reaktion erfolgte ja aber auch nicht von Seiten der lettischen Regierung, sondern von der lettischen Botschaft in Berlin. Dort gibt es zwar schon seit Jahren niemand der zuständig wäre für "Kultur und Gedöns" (frei nach Ex-Kanzler Schröder), wohl aber eine gesonderte Stelle zur Presseauswertung. Der Presseauswerter hielt es also offenbar für nötig, dem Sender ARTE einen Brief (mit Sackpost?) zu schreiben, und mit diesem dann die "sozialen Medien" zu befeuern (Näheres darüber ist zu lesen nur bei Facebook und Twitter).

Allerdings fordert auch bei der lettischen Botschaft niemand, die Journalisten zu bestrafen oder zu maßregeln; das Fazit lautet lediglich: "eine traurige halbe Stunde des freien Journalismus". So sind es auch zunächst Twitter-Nutzer, die über Hintergründe des Beitrags spekulieren. Zur Person von Susanne Roser, im Film als "Autorin" ausgewiesen, lässt sich im Netz einiges an langen Diskussionen finden über andere Projekte von ihr (ohne darüber urteilen zu wollen, wer da Recht haben könnte). Angeblich habe sie den Lettland-Beitrag gemacht, nachdem sie diesbezügliche Nachrichten vom russischen Propagandasender "Sputnik" gelesen habe (siehe: Šukevičs).
Ausschnitt aus dem Brief der lettischen Botschaft an
den Sender "ARTE"

Auch der lettische öffentlich-rechtlichen Sender LSM beleuchtet die Entstehungsgeschichte des Beitrags. Journalistin Sandra Valtere, schon seit Anfang der 1990iger Jahre für das ZDF als Kooperationspartner tätig und erprobt, wurde offenbar zunächst auch von der ARTE-Autorin angesprochen. Anfangs sei sie froh gewesen helfen zu können, dann aber habe sie zunehmend den Eindruck gewonnen, hier werde wohl eher ein Propaganda-Film gemacht über "Nationalisten wie sie die Russen unterdrücken". Ganze fünf Tage habe sich die Autorin in Lettland aufgehalten, und sei auch vorher nie in Lettland gewesen, erzählt Valtere. "Ich hatte den Eindruck, eine andere Quelle füttert hier entsprechend nach", sagt sie.

Am 16.4. lief der Film in der Reihe "Re:Regards", produziert von "Kobalt Kreation", dort angekündigt mit der Frage: "Kann ein friedliches Zusammenleben in Lettland funktionieren"? Antworten auf diese Frage gibt der Film nicht - im Gegenteil. Wer schon die Rahmenbedingungen des Lebens in Lettland, sowohl was den rechtlichen Rahmen wie der Verlauf von Meinungsunterschieden und Diskussionen falsch darstellt - dem müssen auch die Ideen für "friedliches Zusammenleben" misslingen. Als Redakteur zuständig: Martin Ehrmann - der immerhin auch bei dem Grimme-Preis-gekrönten Film "Flucht nach Europa" mitverantwortlich zeichnete.

Eines vorab: völlig unstrittig ist, dass sich Lettland keinen Gefallen tut, immer noch am 16. März die lettischen SS-Einheiten zu ehren - viel besser wäre es, allen zu gedenken, die zwar für sich persönlich ehrenhafte Gründe hatten sich auch mit Waffen für ihre Ziele einzusetzen, die aber von Diktatoren und Militaristen missbraucht wurden. Dass dieses Thema immer wieder Grund für kritische Berichte gibt, muss sich Lettland gefallen lassen. 

ARTE-Dokumentation mit falschem Titel: vieles, was
"russische Aktivist/innen" hier erzählen, würde besser
zu "Angst vor der lettischen Mehrheit" passen. Aber
Aufklärung über die Tatsachen leistet ARTE an
dieser Stelle nicht - unterlassene Recherche? Vorurteile?
Einen entscheidenden Fehler macht der Film aber auf jeden Fall: während Bild und Ton durchaus sehr unterschiedliche Gesprächspartner zu Wort kommen lässt, was ja erstmal ein Plus sein könnte, suggeriert der unterlegte Kommentarton, eine sachliche Zustandsbeschreibung der Lage zu geben. - Würde man diese irreführende Kommentarstimme weglassen, und nur den Inhalt der Interviews senden - könnten sich wenigstens die Zuschauer ein eigenes Bild machen. Interessante Textstellen gibt es in dieser halben Stunde genug. Da schwafelt Ex-Sowjetfunktionärin Tatjana Zdanoka unwidersprochen von einer "angeblichen Okkupation Lettlands durch die Sojwetunion", und wird an dieser Stelle nicht einmal danach befragt nach ihren Argumenten warum sie das glaubt (hat nicht etwa das Sowjetregime Schein-Wahlen 1940 mit handverlesenen Kandidaten veranstaltet, damit sich dann Lettland "freiwillig" zum Sowjet-Beitritt entschließen konnte, und diejenigen, die danach immer noch dagegen waren, nach Sibirien deportiert?).

Oder die russische Verkäuferin auf dem Großmarkt. Da wird sie von einer russischen "Aktivistin" darin bestärkt, mit ihren Kunden russisch zu reden; Fakten dazu, warum sie das etwa nicht tun sollte, werden nicht erwähnt - stattdessen die glatte Lüge, die lettische Regierung wolle das Russisch sprechen in der Öffentlichkeit ganz verbieten (keine Quellenangabe, klar!). Die "Gegenseite" repräsentiert hier nur das böse Wort von der "Sprachenpolizei" (dass diese Kontrolle aber lediglich dazu dient, in jedem Laden und an jedem Verkaufsstand mindestens eine Person zu haben, die / der Kund/innen Lettisch bedienen kann, bleibt unerwähnt). Lieber arbeitet die Autorin am Zusammenzimmern ihrer gewünschten Leitthese: früher wurden die Letten unterdrückt, heute die Russen.

im ARTE-Film als "radikal moskautreu"
vorgestellt: Tatjana Ždanoka. "In der Zeit von
Gorbatschow und Jelzin habe ich mich im
Ausland geschämt zu sagen, dass ich eine
Russin bin", sagt sie.Was sie aber von Stalin
hält, wird sie leider nicht gefragt.
Szenenwechsel. Ein Pass eines Russen wird gezeigt, der den Status eines "Nichtbürgers" hat. Kommentar: "Wenn Joseph seine Verwandte in den USA besucht, sorgt sein Pass mit dem Vermerk 'Alien' immer wieder für Aufsehen." Unerwähnt bleibt an dieser Stelle etwas anderes. Ein Wort  - deutlich zu sehen - das ebenfalls in diesem Pass zu sehen ist: Ebrejs. Ein Jude also. Die "Verwandten in den USA" machen sich hier also wohl weniger Sorgen um einen Russen, sondern um einen Juden in Lettland. Schließlich hat die Aufarbeitung des Holocausts in Lettland zwar inzwischen begonnen, aber schon die Kennzeichnung im Pass würde ja auch in Deutschland großes Aufsehen erregen. Aber immerhin kann "Joseph" ja offenbar frei reisen - in die USA, und wohl auch anderswo hin.

Nächste Szene. Eine Russin mit Kind. Eine "weitergereichte" Russin offenbar, denn schon 2015 tauchte sie als Interviewpartnerin gleich zweimal im MDR auf (siehe auch: Ostblogger). Diese "Aktivistin" (in Wahrheit: Parteipolitikerin der "Saskaņa") behauptet, unter den Russen in Lettland gäbe es nur zwei Gruppen: solche, die meinen in der Sowjetunion sei alles besser gewesen, und solche wie sie, die an die Demokratie glauben. Wow! Ein starkes Stück von Selbstbeweihräucherung - aber auch diese Aussage bleibt ohne Gegenfrage - Ausländern, die sich nicht auskennen, kann man ja mal sowas erzählen. Verwunderlich auch, dass es doch angeblich "verschiedene Gruppen" geben soll - aber am Schluß alle zusammen mit der im Film als "Hardlinerin" vorgestellten Tatjana Ždanoka an einem Tisch sitzen - deren Ausschweifungen im Film alle ohne Gegenargumente bleiben.

Zitat aus dem Film: "Als Lettland 1991 unabhängig wurde, verloren die Nachkommen ehemaliger russischer Einwanderer ihre Staatsbürgerschaft." Da müsste man doch fragen: welche Staatsbürgerschaft verloren sie? Die lettische? Verloren wurde die sowjetische. Weil das marode, diktatorische Sowjetsystem endlich, endlich zusammenbrach. Allen, die durch die sowjetische Besetzung 1940 die lettische Staatsbürgerschaft verloren, denen wurde sie auch zurückgegeben - auch gebürtigen Russen! Alle anderen müssen sich entscheiden: will ich wirklich in einem lettischen Staat leben? Einigen war das freie Reisen nach Russland zu den Verwandten wichtiger, sie beantragten den russischen Pass (und leben auch weiterhin in Lettland). Und für diejenigen, die nichts ändern wollen und dennoch in Lettland bleiben, gibt es eben den Sonderstatus "Einwohner Lettlands - Nichtbürger" - natürlich mit beruflichen Einschränkungen, denn diese Leute wollen ja bewußt kein Lettisch lernen, könnten sich also bei wichtigen Themen nicht verständigen. Falsch ist aber die Behauptung im Film, "Nicht-Bürger" seien "staatenlos". 

Und weiter im Film. Behauptet wird: 61% sprechen Lettisch, 38% Russisch. Auch dies stark irreführend! Gefragt werden müsste: wie viele sprechen Lettisch UND Russisch. Unangenehm für die Ideologen ist nämlich, dass die Lettischkenntnisse unter den Russen stark ansteigen! Besonders unter den Jugendlichen. Und auch die junge, offenbar alleinerziehende Mutter im Film könnte ihr neugeborenes Kind ja kostenlos für eine lettische Staatsbürgerschaft anmelden - auch das wird verschwiegen.

Das Erstaunlichste im Film: fürs Fernsehen tut die russische Modell-Aktivistin so, als würde sie an lettischen Folklorefesten teilnehmen. Na ja, sowas gibts auch im wirklichen Leben - und erstaunlicherweise sprechen und verstehen diese an lettischer Kultur interessierten Russen Lettisch! Anders herum sowieso. - Auch diesen Widerspruch klärt der Film nicht auf: wie kann sich ein Russe für Lettland, für Menschen, Gebräuche, Denkweise und Sprache interessieren - und dann völlig verweigern, Lettisch zu lernen?

Geradezu haarsträubend der Schlußsatz des Berichts: "Eine Politik, mit der alles Russische aus der Gesellschaft verbannt werden soll, könnte Russland erst recht provozieren. Anfang April wurden dort erste Sanktionen gegen Lettland erwogen." Wer bis hierhin nicht laut gelacht hat, wird es wohl an dieser Stelle tun. Russland droht seit 1990 nahezu ununterbrochen mit Sanktionen, und manche werden auch oft ganz ohne Begründung einfach verhängt. Bitte mal andere Quellen lesen als nur "Sputnik", liebe Redaktion.

Ein Trost bleibt: vielleicht hat ja auch die russische Botschaft wegen dieses Berichts bei ARTE protestiert - dann wäre der Bericht sicher ausgewogen.