28. Dezember 2007

Kā klājas? Wie gehts ins Neue Jahr?

In welcher Stimmung begehen die Menschen den Jahreswechsel? Das ist auch in Lettland die Frage zwischen den Jahren. 52% der Lettinnen und Letten glauben, dass sich ihr Land gegenwärtig in einer ökonomischen Krise befindet (TvNet). Da wird wohl dem Gegensatz zwischen nett aussehenden Wachstumsstatistiken und dem gefühlten Wert des "Und-was-kommt-davon-bei-mir-an" des Durchschnitts-Letten Ausdruck gegeben. Nach den Grundlagen für solche Aussagen wurde ebenfalls gefragt: 77% geben die spürbaren Preissteigerungen in den Läden an, weiterhin werden auch die Turbulenzen um den lettischen Immobilienmarkt als Grund solcher Einschätzungen angegeben.
Die andere Seite der Wahrnehmung spiegelt die Aussage von Dace Valnere, PR-Beauftragte bei RIMI-Latvija, einer der größten Supermarktketten des Landes: "In der Weihnachtswoche steigerte sich unser Umsatz gegenüber anderen Wochen um ein Drittel." IKI Lettland meldet gar eine Umsatzsteigerung im Weihnachtsgeschäft um 70% gegenüber dem vorigen Jahr (Finance-Net).


Wenn es einer Rangliste bedarf: die Top 10

Viele Medien stellen am Ende des Jahres Ranglisten auf: was war das interessant, skandalös, viel diskutiert? Hier die Top 10 des Internet-Portals TVNET:
Platz 1: heiß diskutierte Forderungen zum Rücktritt der lettischen Regierung, das war klar.
Platz 2: die immer offensichtlichere deutliche Inflation, und die Versuche der zurückgetretenen Regierung Kalvitis, da noch etwas dran zu verbessern. Auf Platz 4 schafft es auch noch die Präsidentenwahl, von der im Nachhinein bekannt wird, dass sie von einigen wenigen Politikern zwischen den Tieren des Zoos entschieden wurde.
Platz 3: auch in Lettland dieses Jahr aktuell: Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Kindern. Statt teurer Prestigeprojekte wie ein neuer Konzertsaal für Riga sollten auch mal die lettischen Kinderkrankenhäuser dringend renoviert werden, so die Mahnung. Auch wurden wieder einige Schicksale von Kindern und Jugendlichen bekannt, die einfach verschwanden und bis heute nicht wieder aufgefunden werden konnten.
Platz 5: die "neue Mode", irgendwo Gespräche von Geschäftsleuten, Politikern oder Gerichtsangestellten zu belauschen und anschließend zu veröffentlichen. Bekannteste Variante 2007 war die Veröffentlichung zu umfangreichen Gesprächsprotokollen im lettischen Gerichtswesen ("Tiesāšanās kā ķēķis", näheres hier), nach deren Lektüre viele ihre Zweifel an "Recht und Ordnung" in Lettland bestätigt sahen (das Buch war 2007 bei "Jāņa Rozes" auf Platz 5 der meistverkauften Bücher in Lettland).
Platz 6:
Die Tragödie von Alsunga
Am Abend des 23.Februar 2007, in einer kalten Nacht, brennt das Sozialzentrum "Reģi" in Alsunga ab. 26 Insassen verlieren das Leben, eines der tragischen Feuerunglücke in der Geschichte Lettlands.

Platz 7: Lembergs hinter Gittern. Ein Beispiel für eine kommende "lettische Säuberungswelle"? Krumme Geschäfte ungeahnten Ausmaßes. Doch es gibt auch lettische Äußerungen, bewußt gezielt auf viele ausländische Glücksritter, die ihre bessere ökonomische Ausgangssitutation ebenfalls zu schnellen Geschäften in Lettland nutzten: "Wenigstens ist er einer von uns."

Platz 8: Der Fall Edgars Gulbis. Ein interner Fall aus dem lettischen Sicherheitswesen (Gulbis war mal Mitglied der Präsidentenwache und der Sicherheitsbehörden), die Einzelheiten sind noch frisch. Dunkle Hintergründe schimmern hervor und verdecken teilweise das Bemühen um Sicherheit und Ordnung.
Platz 9: das Grenzabkommen mit Russland wurde abgeschlossen. Nur auf Platz 9? Der deutsche Außenminister Steinmeier lobte diese Tatsache in den vergangenen Wochen gleich mehrfach per Presserklärung. Und das Stichwort "Schengen" wird unter diesem Platz 9 auch bereits mit abgehandelt. Reise- und Bewegungsfreiheit, offensichtlich seit Ende Sowjetlettlands nicht mehr oben auf der Liste der Prioritäten - vielleicht hat man auch die Nachteile erkannt, die mit dem schnellen Reisen entstehen: zum Beispiel die Möglichkeit, mal eben für eine Zeitlang Gelegenheitsarbeiter in Irland zu werden, und erstmal nicht wiederzukommen.
Schließlich Platz 10: Der Kampf gegen "agressive Autofahrer". Hierzu gibt es verschiedene lettische Perspektiven: die einen suchen nach Möglichkeiten für weniger Staus in Riga, die anderen nach mehr Straßen und freie Fahrt für Autos.

Wenn es langweilig wird: Fliegen Sie hin und her

Germanwings wird ab dem 2.Mai 2008 eine neue Linie "Riga-Köln" eröffnen. Abgehakt in der lettischen Presse als "ein weiterer Billigflieger"(tickets ab 19 Euro), mit einigen Zahlen belegt: die Verwaltung befinde sich in Köln, die Gesellschaft verfüge über 27 Flugzeuge der Marke Airbus, habe 2006 7,1 Millionen Passagiere befördert, und dabei 560 Millionen Euro umgesetzt, weiß TVNet. Leider es inzwischen nicht mehr nur die Gedanken an freudige Erwartung von noch mehr Touristen, nehme ich an. Trunkene Fremdlinge auf den Straßen der Altstadt, denen die 13% jährliche Inflation in Lettland immer noch "ein Klacks" sind und erwartungsfroh auf Vergnügungen aller Art warten - nicht alle Lett/innen fühlen sich mehr wohl in dieser Rolle der potentiellen Gastgeber. Glücklicherweise war bisher weniger von deutschen Gästen die Rede, wenn es um die unangenehmen Begleiterscheinungen dieses grenzenlosen Kurzzeitvergnügens ging.

Wenn Sie die Welt nicht mehr verstehen: Wörter und Un-Wörter

Im Gegensatz zu Deutschland werden die Wörter und "Un-Wörter" des Jahres in Lettland nicht schon vor Weihnachten bekannt gegeben, sondern gegenwärtig erst noch gesucht. Interessant vielleicht die Rückschau, dass z.b. 2003 "Eiro" das Unwort des Jahres war (ein langwieriger Streit: gemäß lettischen Sprachregeln müsste der "Euro" in Lettland eigentlich "Eiro" heißen, aber auch dieses Wort ließe sich nicht lettisch deklinieren).
Auch die Wortneuschöpfung "zīmols" (statt englisch "Brand" oder deutsch "Firmenzeichen" zu sagen) kam damals schon auf. Im Lande der baltischen Tiger werden nicht nur Firmen gegründet, sondern jetzt auch "Imagewerbung" betrieben.
Und ''mēstule'' war bereits 2004 lettisches Unwort (statt engl. "Spam" sagen zu müssen) - ein weiteres Beispiel, dass in Lettland der Umgang mit der weltweiten elektronischen Kommunikation bei weitem kein Fremdwort (im wahrsten Sinne auch dieses Wortes) mehr ist.
Diese Reihe der bemühten lettisierten englischen Ausdrücke ließe sich mit "smacenis" (neu für engl. "Smog"), Wort des Jahres 2005, oder "hendlings"(Unwort des Jahres 2006 - tja, was sagt der Deutsche eigentlich, für "Handling"?) weiter fortsetzen.
Auch "centrs" (für "Zentrum", klar) war schon mal Unwort in Lettland; auch wie schön war doch die Zeit, als das "Centrs"-Einkaufszentrum in der Altstadt noch einfach "Universalveikals" hieß, dass sich auf Deutsch so schön schief "Universal-laden" übersetzen ließ.

Wenn am gemeinsamen Europa Zweifel kommen: nehmen Sie sich ein Beispiel

Die lettische Europabewegung dagegen ist schon fertig mit ihrer Wahl zum "Europäer des Jahres 2007". Es ist Andris Piebalgs, EU-Energiekommissar (Pressemitteilung dazu, inklusive Link auf "Piebalgs bei YouTube"). Erfreulich un-skandalös in Zeiten von allgemeiner öffentlich bekundeter Misstrauenskundgebungen gegenüber Regierung und Politik. Wer sich noch an die Pre-Nominierungen von Sandra Kalniete (die schon beim EU-Landwirt- schaftskommissar hospitiert hatte) oder Ingrida Udre (die dann 2006 eine Wiederwahl in die Saeima wegen vieler Negativ-Voten der Wähler trotz Steigerung der Delegiertenzahl ihrer Partei nicht erreichte) ein ruhiger Pol der Außendarstellung Lettland innerhalb der EU-Strukturen. Andererseits ist Piebalgs vielleicht Symbol für die Dominanz der Energiefragen auch in der aktuellen Politik Lettlands. 2008, das Jahr, in dem eine lettische Regierung unter Beteiligung der Grünen Partei den Bau eines neuen Atomkraftwerks beschließt?

Und hier tickt schon die Uhr für 2008: vom 5. - 12. Juli 2008 findet wieder das allgemeine Sänger- und Tanzfest in Lettland statt.

23. Dezember 2007

Gratis Zirkus in Lettland (Neufassung)

Die Letten müssen gegenwärtig kein Geld ausgeben, um einen Zirkus zu sehen. Zirkus gibt es im Fernsehen, die Politiker treten auf. Was ist besonderes passiert? Noch im Herbst 2006 gewann als einer der seltenen Fälle im postsozialistischen Raum eine an der Macht befindliche Regierungskoalition die Wahlen. Aber was zunächst vor dem Hintergrund der früheren großen Schwankungen in der Wählerunterstützung nach Stabilität aussah, war eher die Wahl des kleineren Übels in einer Gesellschaft, in der die Einwohner, die Bürger wenig aktiv sind, die Parteien also nicht aus gesellschaftlichen Bewegungen hervorgehen, sondern fast ausnahmslos von Vertretern der politischen Elite gegründet worden sind. 

An der Exekutive, die nach dem Austritt der Neuen Zeit aus der Koalition im Jahre 2005 bis zum Urnengang als Minderheitsregierung existierte, waren die konservativ-liberale Volkspartei, die Listenkoalition aus Bauernunion und Grünen sowie die fusionierten Kräfte Lettlands Weg / Lettlands Erste Partei beteiligt. Die Bauernunion war damals angetreten mit dem bereits unter Korruptionsverdacht– ein Prozeß lief sogar bereits – stehenden Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, als Spitzenkandidat, obwohl dieser sich nicht um ein Parlamentmandat bewarb. Lettlands Weg war in den 90er Jahren eine der wichtigsten und langjährigen Regierungsparteien gewesen, die mehrfach den Ministerpräsidenten gestellt hatte. 

Trotz ihrer eigentlich liberaler Ausrichtung hatte sie als Partner auf Augenhöhe nur die Erste Partei finden können, in anderen Fusionen hätte sich die Partei nur unterordnen können. Ideologisch passen die beiden Kräfte weniger zusammen. Die Erste Partei wird auch Priesterpartei genannt, weil sie durch mehrere Geistliche gegründet wurde. Ihr Weltbild ist ein sehr konservatives, so trifft sie beispielsweise den Nerv der Bevölkerung mit ihrer Ablehnung von Homosexualität. Diese regierende Koalition aus drei Parteien nahm nach der Wahl im Herbst 2006 zur Sicherung ihrer sonst knappen Mehrheit von nur 51 Mandaten in der 100 Sitze umfassenden Saeima mit der konservativ-nationalen Für Vaterland und Freiheit eine weitere Partei mit ins Boot. Nachdem bereits zu Jahresbeginn 2006 der Jūrmalgeit-Skandal das Land erschüttert hatte, bei dem die politische Elite via Handygesprächen versuchte, im Kurort Jūrmala nahe der Hauptstadt Riga einen genehmen Bürgermeister zu installieren, begann schnell nach der Regierungsbildung der politische Nihilismus eine neue Dimension anzunehmen. Zunächst kam es zum Konflikt im Zusammenhang mit der Bestellung des Ombudsmannes, es folgten die Änderungen im Gesetz über die nationale Sicherheit, in dem sich die Regierung das Recht zugestehen wollte, selbst darüber bestimmen zu können, wer Träger von Staatsgeheimnisse sein darf. Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga nutze während ihrer letzten Monate im Amt das Recht, die Ausfertigung des Gesetzes zwecks Organisation einer Referendums auszusetzen. Die nötigen Unterschriften wurden zusammengetragen, aber das Referendum erreichte eine zu geringe Beteiligung, weil als Datum ausgerechnet der 7. Juli 2007 angesetzt war, ein Termin, den viele Paare für ihre Hochzeit ausgewählt hatten.

Auch die Wahl des neuen Staatspräsidenten verlief im Frühsommer alls andere als geräuschlos. Der plötzlich von der regierenden Koalition aus dem Hut gezauberte Arzt Valdis Zatlers hatte sich zu Schulden kommen lassen, was in Lettland angesichts geringer Saläre unter Medizinern gang und gäbe ist, Geldgeschenke von Patienten entgegenzunehmen, deren umstrittene Freiwilligkeit neuerlich in der Presse diskutiert wurde. Des weiterem haftet ihm an, daß die Entscheidung zu seinen Gunsten angeblich während eines Treffens der Spitzenpolitiker im Zoo getroffen wurde. Nach der erfolgreichen Bestellung sorgte der Angeordnete der größten Regierungspartei, der Volkspartei, Jānis Lagzdiņš, am Fenster des Abgeordnetenhauses für weitere Aufregung, wo er den ausgestreckten Arm mit Faust die andere Hand in den Ellebogen legend zeigte. Es fehlte nur der ausgestreckte Mittelfinger. Angeblich habe er sich an einen konkreten Bekannten vor dem Gebäude wenden wollen, was angesichts der dort versammelten Anhänger des Oppositionskandidaten und früheren Präsidenten des Verfassungsgerichtes, Aivars Endziņš, wenig überzeugend klang. 

Aber die Regierung brachte das Faß erst im Oktober durch die – inzwischen wieder zurückgenommene – Absetzung des Direktors der Anti-Korruptionsbehörde Andrejs Loskutovs zum Überlaufen. Es gab Demonstrationen und erst dann und auch nur zögerlich war Ministerpräsident Aigars Kalvītis bereit, den politischen Bankrott seiner Regierung einzusehen und den Rücktritt anzukündigen – wenn auch mit dem kleinen Kniff, dies für den 5. Dezember anzukündigen, wenn Ministerpräsident Aigars Kalvītis exakt auf drei Amtsjahre zurückblicken kann. Und was ist an diesem Vorgang besonderes? Neu ist, daß das inzwischen schon dritte Kabinett Kalvītis, welches vor dem Hintergrund der Instabilität der vergangenen Jahre bereits die 14. (!) Regierung Lettlands seit 1990 war, die erste ist, die nicht abtritt, weil die Koalition zusammengebrochen ist. Früher waren Ministerpräsidenten zum Rücktritt immer nur gezwungen, weil ein Partner der Regierung die weitere Unterstützung versagt hatte. 

Und damit begann der Zirkus. In der Saeima haben die sogenannten nationalen Kräfte eine große Mehrheit; eine Regierung zu bilden dürfte also nicht schwierig sein. Die Mehrheitsverhältnisse haben sich jüngst nur bedingt geändert, weil die vormaligen Minister der Volkspartei Aigars Štokenbergs und Artis Pabriks nicht mehr zur Fraktion gehören. Ersterer war, obwohl Präsidiumsmitglied, in Abwesenheit aus der Partei ausgeschlossen worden, weil er angeblich eine eigene politische Kraft zu gründen geplant habe. Darauf hin trat Pabriks als Außenminister zurück. Beide Positionen wurden vom abtretenden Ministerpräsidenten nicht nur kommissarisch neu besetzt. Über seine Motivation wie auch jene der neuen Minister Māris Riekstiņš für das Auswärtige und den Bürgermeister von Kuldīga, Edgars Zalāns, für regionale Angelegenheiten mag man spekulieren. Offensichtlich gingen beide davon aus, daß sie auch in der nächsten Regierung dieselben Positionen würden besetzen können. Die Volkspartei demonstrierte jedenfalls trotz des Rücktritts von Kalvītis damit ihre Einstellung. Und so führte die Diskussionen über die Bildung einer neuen Regierung auch niemand anderes als der abtretende Regierungschef selbst. Aber trotz der Mehrheiten ist die Lage verzwickt. Die Volkspartei ist nicht bereit unter einem Premier zu arbeiten, der aus der einzigen liberal-konservativen, derzeit in der Opposition befindlichen Kraft, der Neuen Zeit, kommt, die 2005 im Streit aus der damaligen ersten Regierung Kalvītis ausgetreten war und die zweite damit zu einem Minderheitskabinett hatte werden lassen. Die Gründe damals waren in etwa dieselben, welche nun zum Bankrott der dritten Regierung Kalvītis geführt hatten. Aus diesem Grunde will sich die Neue Zeit wiederum auch nicht vorführen lassen und ist verständlicherweise nicht bereit, unter einem Premier aus den Reihen der Partei des abtretenden zu akzeptieren. Die Parteien der abgetretenen Koalition zeigten nun erneut demokratischen Entscheidungsprozessen die kalte Schulter. So erklärte Māris Segliņš, der auch unter Regierungschefs von Lettlands Weg Innenminister gewesen war, der Präsident müsse jetzt den Startschuß geben. 

Die Parteien könnten mit dem Prozeß der Regierungsbildung erst beginnen, wenn sie wüßten, wer den Auftrag erhält. Dabei hatte die Volkspartei den gerade erst in die Regierung gewechselten Zalāns als Kandidaten portiert, der prompt für Aufsehen sorgte, als er sich weigerte, in der bekanntesten und wichtigsten Diskussionssendung „Kas notiek Latvijā“ – „Was passiert in Lettland“ des lettischen Fernsehens aufzutreten. Nicht nur, daß er an dem Abend eine Einladung habe, nein, er halte grundsätzlich die Teilnahme an dieser Sendung für überflüssig. Aber auch der Umstand, daß sich Aigars Kalvītis dauernd in die Diskussion über eine neue Regierung einmischte, unterstrich nur noch einmal den Eindruck, der schon durch die Berufung Zalāns in die abtretende Regierung entstanden war. Und wer ist der Dompteur in diesem Zirkus? Der Arzt Valdis Zatlers befindet sich in keiner beneidenswerten Position. Der Präsident, welcher in Lettland nicht nur das Recht hat, einen Regierungschef zu benennen, sondern dessen Pflicht dies auch ist. Doch kann er bei seiner Entscheidung die Mehrheitsverhältnisse im Parlament, das diesen Kandidaten dann bestätigen muß, nicht außer Acht lassen. 

Präsident Ulmanis hatte 1995 Māris Grīnblats nominiert, um eine Regierungsbeteiligung des Deutschletten Joachim Siegerist zu verhindern, was ihm auch gelang. Grīnblats wurde dann zwar nicht Ministerpräsident, aber statt dessen der damals parteilose Andris Šķēle, der anschließend auf dem Höhepunkt seiner Popularität die Volkspartei des jetzt abgetretenen Aigars Kalvītis gründete. Doch damals war die Situation eine ganz andere. Drei Parteien waren mit ungefähr 15% der Mandate etwa gleich stark, angesichts der Mehrheitsverhältnisse war etwas anderes als eine Regenbogenkoalition arithmetisch gar nicht möglich. Heute dagegen sind drei Parteien mit einer für lettische Verhältnisse starken Fraktion im Parlament vertreten. Aber was nun unter diesen Umständen? Wenn sich die Parteien können sich nicht einigen, wer mit wem gehen soll oder will, zwingen sie dem Präsidenten eine Verantwortung auf, die ihm so eigentlich nicht zukommt. Gleichzeitig war der offensichtliche Wunsch des politisch noch unerfahrenden Zatlers chancenlos, einen unabhängigen Kandidaten zu benennen, auch wenn dies angeblich durch die Neue Zeit als Kompromiß noch einmal vorgeschlagen wurde. 

Als Kompromißkandidat bot sich einzig der Kandidat von Lettlands Weg /Lettlands Erste Partei, Ivars Godmanis, an. Er hat Erfahrung im Amt, war bereits Regierungschef der Volksfront, was aber scher auch sein Manko ist. Viele Menschen verbinden die sozial und wirtschaftlichen harten Zeiten des Zusammenbruchs mit diesem Namen, sie sind der Meinung, daß die großen Arbeitgeber wie VEF oder RAF absichtlich geschlossen wurden. Als Zatlers Godmanis schließlich berief wurde dem Wunsch Ausdruck verliehen, die Parteien möchten eine Regierung innerhalb einer Woche bilden. Auch dies ein Hinwis darauf, daß die vormaligen Partner nicht bereit waren, der Neuen Zeit wirklich ein ernsthaftes Angebot zu unterbreiten, die in einer fünf Parteien umfassenden Koalition nicht nur rechnerisch das fünfte Rad am Wagen gewesen wäre. Die nunmehr erfolgte Bestätigung der neuen Regierung leidet unter dem Beigeschmack, eine Neuauflage der abtretenden zu sein nicht nur wegen der Kongruenz der beteiligten Partner. 

Wie bereits durch die Amtsübernahme von Riekstiņš und Zalāns angedeutet, denken die Regierungsparteien gar nicht daran, wirklich etwas zu ändern Die meisten Gesichter bleiben die gleichen. Godmanis setzt damit eine schillernde Karriere fort. Als Regierungschef der Volksfrontregierung war er der Stein in der Brandung, fast alle Minister wurden in seiner Regierungszeit damals ausgewechselt, nur er selbst blieb. 1993 wurde seine Volksfront in Folge der sozialen Härten des Umbruchs abgewählt, die damals populäre Partei aus Reformkommunisten und Exilletten, Lettlands Weg, wollte ihn wegen seiner Unbeliebtheit nicht in ihre Reihen aufnehmen, was später dann doch geschah. Godmanis wurde Finanzminister. 

Ob er nun in der Lage sein wird, das Staatsschiff umzusteuern, ist die eine Frage und ob er das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen kann eine andere. Und welche Aufgabe ist eigentlich die schwierigere? Die Bevölkerung, aber auch Sozialwissenschaftler und Journalisten, verlangen Neuwahlen, auch weil alle Regierungsparteien im fraglichen letzten Wahlkampf 2006 gegen die gesetzliche Obergrenze der Wahlkampfausgaben verstoßen haben. Es wird argumentiert, diese politischen Kräfte hätten ihren Sieg erkauft. Aber woher bei einer bald anstehenden Wahl unbelastete politische Parteien und Politiker kommen sollen, darauf hat niemand eine Antwort. Und hier sind Zweifel auch deshalb angebracht, weil viele der Parlamentarier auf den schwarzen Gehaltslisten von Lembergs stehen sollen – aber einstweilen weiß niemand wer.

19. Dezember 2007

Werbung für die neue Ostgrenze Europas

Riga ist nicht Lettland - ein Spruch, der sich auch bei oberflächlich durchreisenden Gästen herumsprechen könnte. Wer schon einmal in Lettland war, hat außer der Hauptstadt vielleicht auch Kurland (Liepaja, Ventspils, Kuldiga?), ganz sicher das Schloß Rundale, oder auch die Burgen und Schlösser Vidzemes (Cesis, Valmiera, Sigulda?) bereist. Ein Besuch des Ostens Lettlands ist bei vielen erst beim intensiveren Kennenlernen des
Landes drin: zu unrecht. Geboten werden Menschen und Landschaften, und vor allem
Handwerk und Kultur.

Wir sind Latgale!
Latgale (oder Deutsch "Letgallen") als eigenen Schwer- punkt vorzu- stellen, das wagte inmitten des deutschen Weihnachts- trubels die norddeutsche Stadt Buxtehude. Dorfähnlich aufgebaut, mit Essen am offenen Feuer, Schmiede, Textilkünstler/innen, Spinnerei und Musikinstrumenten rundherum präsentierten sich die östlichen EU-Nachbarn den deutschen Gastgebern kreativ, kommunikativ und selbstbewußt. - Nein, hier wird kein auf den städtischen Geschmack abgerundetes Essen gekocht: Speck, Sauerkraut, und vielleicht noch einen Schnaps oder Kräutertee dazu, das war die Devise in Buxtehude.

Nicht in der Provinz versauern - und sich wohl auch nicht auf die Fähigkeiten lettischer Großhändler zu vertrauen - eine Konsequenz für Menschen aus Latgale? Sind doch lettische Waren in deutschen Geschäften immer noch sehr selten: wo sind die Rigaer Sprotten, wo der lettische Landhonig, wo das Tongeschirr aus Latgale, das Bier aus Tervete, die Laima-Schokolade, der Klostera-siers? Nicht einmal der seit Jahrzehnten berühmte Riga Balzams hat es in das Sortiment deutscher Supermärkte geschafft. Statt dessen kaufen Letten "Kinder"-schokolade, Colgate und deutsche Autos - das nennt sich wohl Marktwirtschaft.

Noch sind aber Traditionen und typische Gewerke in Ludza, Balvi, Baltinava oder Viļaka (um nur einige Beispiele kleinerer Gemeinden in Latgale zu nennen) nicht verschwunden. Noch kann den Schmieden, den Töpfern, den Webern oder Instrumentenbauern bei der Arbeit zugesehen werden. Noch sind nicht alle Landbewohner/innen zu reisenden Hilfs- und Wanderarbeitern an den Rändern der neuen EU geworden - allerdings besteht Grund zu der Befürchtung, die kulturgeschichtlichen Strukturen könnten schneller zusammenfallen, als es dann showartig für Touristen (und gegen Eintrittsgeld) wieder aufgebaut werden kann. Natürlich gibt es auch viele Stimmen, die einfach sagen: die moderne Zeit schreitet eben voran! Auch wir (Letten) wollen modern und nicht rückständig sein!

 Und auch wir sind Latgale!
Heraus aus der verschwiegenen Ecke! In den heutigen Zeiten heißt das vor allem: hinein ins Internet. Das hat sich auch die kleine Regionalzeitung "Vaduguns" ("Leitfeuer") gedacht, die von einer Redaktionsgruppe im nordostlettischen Balvi herausgegeben wird. Eine Gruppe von Jugendlichen hat sich dort ein eigenes Projekt vorgenommen: die eigene Region im Jahreslauf vorzustellen. "Latgale erzählt Europa" heißt es da.

Was hat Latgale zu erzählen? Auch wenn es auf der Webseite von "Vaduguns" vorerst nur in lettischer Version zu sehen ist (geplant waren auch Versionen in Englisch, Deutsch und Französisch), sind schon die Kalender-Fotos eindrucksvoll: hier gibt es den Pferdeschlitten und das Holzschlagen im Winter, das Herstellen von Birkensaft, Kühehüten, Wäschewaschen und Heumachen, Kartoffellese und Honigernte - von viel Arbeit ist die Rede. Es wird aber auch Theater gespielt, Bücher geschrieben und gelesen, geräuchertes Fleisch und selbstgemachtes Bier genossen, und ein Saunagang darf natürlich auch nicht fehlen. So zusamengefasst dürfte sicher sein, was viele "Latgalīši" (Bewohn er/innen der Region Latgalen) denken: Wo auf Erden könnte es schöner sein! 

Mehr über Latgale:

Latgales Radio live

Radio Oira (Folkradio) live

Portal "Latgale.lv" (meist Lettisch/Russisch, etwas Englisch)

Bildergalerie Fotos aus Latgale

Projekt "Baltic Country of Lakes"

Der Jahreskalender der Jugendlichen aus Balvi (Latgale erzählt Europa, aus: Vaduguns.lv))

Pferderassen aus Latgale

14. Dezember 2007

Keine andere Wahl?

oder: ist Godmanis ein Gutmanis?

In Lettland gibt es eine bekannte Legende. Sie wird nahezu allen Besuchern der Gegend um das schöne Tal der Gauja erzählt, zwischen Sigulda und Turaida. Die Legende handelt von einer Höhle, in dem ein "guter Mann" gelebt haben soll, ein Zauberer, der die Menschen unter Verwendung des reinen Wasser der in der Höhle entspringenden Quelle geheilt haben soll. Daher der heutige Name: Gutmanis-Höhle.

Seit heute könnte die Frage lauten: Ist "Godmanis" ein "Gutmanis"? Nachdem seit Oktober Tausende gegen die Selbstgerechtigkeit ihrer Regierung in Riga auf den Straßen demonstrierten, nach Wochen quälender Blockierung der politischen Handlungsfähigkeit, nach einem um Wochen verzögerten, aber überfälligen Rücktritt des ungeliebten Regierungschefs Kalvitis, sucht Staatspräsident Valdis Zatlers nun einen Kandidaten für den Posten des obersten politischen Dompteurs, der fünf sich eifersüchtig belauernde Parteien zusammenschmieden kann.

Ja, will denn niemand Lettland regieren? Das könnten sich Außen- stehende fragen. - Ja, doch, könnte die Antwort lauten, aber nur dann, wenn Aussicht besteht, die eigene Klientel bei der persönlichen Bereicherung zu fördern. - Setzen wir dieses sokratische Gespräch fort, würde wohl gefragt werden: Bereicherung? Es sind doch demokratisch gewählte Volksvertreter! - Sicher, sicherlich, nur: es liegt nur ein Jahr zurück, da glaubte die Mehrheit der Menschen in Lettland, eine Regierung wiederwählen zu können, weil so etwas wie 'Licht am Ende des Tunnels' erkennbar schien. 'Nicht mir geht es gut, aber meinen Kindern wird es mal besser gehen', das war ein oft gehörter Satz (der auch schon beim "Ja" zur Europäischen Union Anwendung fand).

Doch nun regiert offenbar die Selbstgerechtigkeit. Keine politischen Visionen, keine charismatischen Figuren. Nicht einmal "weise Älteste" - die bisher auch als "Gewissen ihres Volks" tätige ehemalige Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga soll ja in einen "Europäischen Rat der Weisen" berufen werden, ist jedenfalls ein zu potentes politisches Kaliber für die gegenwärtigen Kleinkariertheiten der lettischen Alltagspolitik.
Statt dessen gebärden sich die Regierungschefs, kaum dass sie auch nur die Aussicht haben, auf dem schönen Chefsessel Platz zu nehmen, seltsam autistisch.

Versuchen wir mal, die Lage nach dem Rücktritt von Kalvitis am 5.12. zusammenzufassen:

 - Variante 1: Valdis Dombrovskis. Bisher Mitglied des Europaparlaments. Seine Partei (Jaunais Laiks - JL, bisher in der Opposition) betont, man wolle keinesfalls unter einem Regierungschef mitregieren, der sich wie ein "Kalvitis Nr.2" gebährde. Will sagen: Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit allen anderen vier bisherigen Koalitionsparteien - aber bitte nur unter unserer Leitung.

- Variante 2: Edgars Zalāns. Seit dem mit politischem Getöse begleiteten Rücktritt von Minister Aigars Štokenbergs bekleidet Zalāns nun seit wenigen Wochen das Amt des Ministers für Regionalentwicklung, ist aber bekannter als Bürgermeister von Kuldiga in Kurzeme (Kurland). Am Tage seiner Nominierung durch die Tautas Partija (der auch Kalvitis entstammt) galt Zalāns noch als "junges, frisches Gesicht" - denn die weitaus bekannteren möglichen Kandidaten Demakova (bisher Kulturministerin), Spurdziņš (bisher Finanzminister), Segliņš (früher Innenminister, heute Vorsitzender der juristischen Kommission des Parlaments), oder Riekstiņš (jetzt neuer Außenminister) wurden trotz größerer politischer Erfahrung nicht nominiert. Die neuesten Umfragen wiesen nur noch 5,1% Unterstützung durch die Bevölkerung für die Tautas Partija aus. Und Zalāns tat überraschend nichts zur Hebung seines Ansehens in der Öffentlichkeit, im Gegenteil - auch wenn er öffentlich damit prahlte, kürzlich eine private "Führungsakademie" absolviert zu haben. Gefragt danach, ob er denn auf die Proteste und hitzigen Diskussionen in der lettischen Öffentlichkeit reagieren würde, ob er sich etwa in den Medien selbst zur Diskussion stellen würde, sagte er brüsk: "Ich lese die Zeitungen nicht, und an den politischen Showveranstaltungen im Fernsehen beteilige ich mich nicht!" - Damit tat er einiges dazu, seine Nominierung vielleicht doch noch als rein taktisches und von Parteifinanzier Andris Šķēle gelenktes Manöver erklärbar zu lassen.

Variante 3: Ein unparteiischer Kandidat. Diese Variante wurde von Präsident Zatlers schon mehrfach ins Spiel gebracht. Absehbar war ja, dass die beiden stärksten Parteien im Parlament, Tautas Partija und Jauns Laiks, jeweils die Parole ausgegeben hatten: Kooperation mit den anderen Parteien des rechten Spektrums ja, aber nur unter unserer Leitung. Also ein Unparteischer?
Schon am 27.November wurden im Lettischen Fernsehen Spekulationen bekannt, Bankier Mārtiņš Bondars könnte mit der Regierungsbildung betraut werden. Und noch in dieser Woche zog Präsident Zatlers Aivis Ronis, Vorsitzender eines lettisch-amerikanischen Finanzforums, und Andris Bērziņš, den Vorsitzenden der lettischen Industrie- und Handelskammer, zu den Gesprächen zur Vorbereitung der Regierungsbildung hinzu (laut lettischer Gesetzgebung muss der Präsident den Kandidaten für das Amt des Regierungschefs vorschlagen, dieser versucht dann eine Mehrheit im Parlament zu bekommen).
Nein, nein, nein - sagen kathegorisch besonders Tautas Partija und auch die "Pastorenpartei" (Erste Partei). Also sah Zatlers wohl wenig Erfolgschancen für diese Variante, jedenfalls in der jetzigen Situation.

Variante 4: nehmen, was zu haben ist. Am meisten als Zünglein an der Waage möchte sich immer die Pastorenpartei selbst ins Spiel bringen, zumal hinter dieser Gruppierung ebenfalls kapitalkräftige Geschäftsleute stehen. Also nominiert sie das "alte Schlachtroß" Ivars Godmanis. "Soll es dieser doch erstmal versuchen," wird sich Zatlers vielleicht gedacht haben. (Foto: Kanzlei des lettischen Präsidenten, 1.10.2007)
Allerdings: viele Lettinnen und Letten werden Godmanis als Regierungschef der schwierigsten Umbruchzeit in Erinnerung haben, als er sich auch nicht gerade sensibel gegenüber den Alltagsschwierigkeiten des "gewöhnlichen Volkes" gab. Zwischen 1990 und 1993 war er schonmal Chef des "Noch-Sowjetlettischen Ministerrats": schon dominiert von den Vertretern der lettischen "Volksfront"-Bewegung, aber noch vor den ersten freien demokratischen Wahlen nach Wiederherstellung der Unabhängigkeit damals. Pressekonferenzen glichen damals in Lettland noch Audienzen mit langen Reden der Regierenden, wo wenig Fragen gestellt wurden. Wie können den die Letten die zu erwarteten großen Schwierigkeiten des Umbruchs überstehen? So die Frage an Godmanis damals. "Nun ja, ich weiß, die Letten sind ein starkes Volk", dozierte Godmanis, "für die Älteren wird es schwer werden, das ist unvermeidlich. Sie sind zu sehr auch an das sowjetische System gewöhnt. Die mittlere Generation, nun sie wird sich umgewöhnen müssen. Und die Jungen, ja ich vertraue in die junge Generation!" (so schlicht erklärte Ministerpräsident Godmanis es damals seinem Volk - aus der Erinnerung zitiert, ich saß damals vor einem lettischen Fernseher).

Und was macht Ex-Premier Kalvitis derweil? Er bilanziert seine exakt drei Jahre Regierungszeit als "sehr erfolgreich" und sagt: "Präsidentin Vīķe-Freiberga und ich waren ein gutes Tandem" (in der lettischen Fernsehsendung "900 Sekunden"). Da gibt es ein schönes deutsches Sprichwort dafür: "Sich im Ruhme anderer sonnen wollen."

Seltsam nur, dass schon jetzt als sicher gilt, dass gerade der Abschluß des enorm wichtigen russisch-lettischen Grenzabkommens praktisch ohne lettische Regierung stattfinden wird. Eine Regierungsbildung noch vor Weihnachten gilt inzwischen schon als unwahrscheinlich - auf jeden Fall aber als unmöglich noch vor dem für den 18.12. anvisierten Besuchstermin des russischen Außenministers Lavrov in Riga (LETA). Also müssen die noch amtierenden Figuren durchregieren und abarbeiten, was ihnen Kalvitis mundgerecht hingelegt hat.

Mehr Info:
Ivars Godmanis im lettischen Wikipeda

Angaben von Ivars Godmanis beim lettischen Wahlamt

Info des bisherigen lettischen Innenministers Godmanis

Videoausschnitt "Kas notiek Latvija" mit Ivars Godmanis (14.12. - lett.)

Vor der Entscheidung des Präsidenten: Kandidaten bei "Kas notiek Latvija" (12.12. - lett.)

Offizielle Presseerklärung des lettischen Präsidenten

P.S.: Für die (wie immer superschnelle) deutsche Presse ist Ivars Godmanis übrigens schon zum Ministerpräsidenten "ernannt" worden. AP erfand die Meldung, Regionalpresse wie die "Mittelbayrische" drucken es. Auch die russische staatsdiktierte Presse Novosti meldet es (die mit Vorliebe immer aus dem "postsowjetischen Raum" berichtet). Zatlers selbst sagt in seinem heute veröffentlichten Pressetext korrekt, er habe "Godmanis eingeladen, ein Ministerkabinett zusammenzustellen" (also eine Regierung zu bilden). Vorgeschlagen ist er, bestätigen muss es das Parlament.

Nachtrag: Das lettische Parlament (Saeima) hat am 20.Dezember die von Ivars Godmanis vorgeschlagene Kabinettzusammenstellung nach zweistündiger Debatte mit einer Mehrheit von 54 zu 43 Stimmen gebilligt. Es bilden weiterhin dieselben vier Parteien die Regierung wie es beim Kabinett Kalvitis der Fall war. Auch die Partei "Jaunais Laiks" bliebt in der Opposition.

9. Dezember 2007

Auf den Spuren der Denkmäler

Wer kennt Makss Metjūss? Vielleicht würde er uns in Riga über den Weg laufen, aber viel verrät Makss nicht über sich. Allerdings versucht er sich lettischen Gepflogenheiten anzupassen, und das bedeutet für Menschen aus anderen Ländern oft schon ein kleines Versteckspiel. Makss ist zugezogen aus Anglija - also England. Und da Makss sich offenbar in Riga wohlfühlt, hat er die alte englische Schreibweise (Max Matthews) aufgegeben und schafft sich fleissig neue Identitäten: als Stadtführer und Buchautor. Seine Internetseite widmet er seinem neuen Lebensinhalt: der Erforschung Rigas.

Auch anderen ist sicher schon die Vielfalt an Denkmälern, Gedenksteinen, Plaketten und Skulpturen in Riga aufgefallen. Ständig kommen neue hinzu - auch wenn die großen Schlagzeilen sich eher um Andenken an Sowjetzeiten drehen. Doch viele steinerne und metallene Zeugnisse finden sich auch eher unscheinbar am Wegesrand - Makss fotografiert sie und versucht Informa- tionen dazu zu recher- chieren. Dabei doku- mentiert er auch vergängliche Kunstwerke, wie zum Beispiel die Figur des "Denkers"

, die 2004 nur ein paar Monate lang in der Nähe des lettischen Parlaments ihren Platz hatte, oder "Spiderman", der sich 2005 plötzlich an einigen Parkbäumen fand. Makss hat aber auch die "ganz gewöhnlichen Denkmäler" aufgelistet - bisher sind es allein schon 129, die an bestimmte Personen der Geschichte und Kultur erinnern sollen.

Und Makss lernt auch gern dazu. Denn in Riga gibt es wie in jeder Stadt, die gern Gäste und Besucher/innen empfängt, eine Menge nett klingende Geschichten. So fotografiert Makss auf dem Rathausplatz die Gedenkplakette an den angeblich ersten Weihnachtsbaum, den es im Jahre 1510 in Riga gegeben haben soll - eine Geschichte, die auf Martin Luther persönlich zurückgeführt wird. Aber von Lesern seiner Webseite lässt sich Makss belehren, und dokumentiert nunmehr auch die Ungereimtheiten im Zusammenhang mit dieser Geschichte.

Bei Makss lässt sich in aller Ruhe "surfen", denn Makss hat auch Rigas Friedhöfe und Kirchgärten "durch- forscht": wer hätte schon gewußt, dass in in Riga noch ein Denkmal zu Ehren der deutschen Landeswehr gibt? Oder die Reste der Berliner Mauer, die in Riga aufgestellt sind? Oder, neben den Gedenken an deportierte Letten, auch den Gedenkstein an die von Sowjets 1941 aus Riga deportierten Russen? Wer weiß schon, dass es mitten in Riga ein Kunstwerk zu Ehren von an AIDS gestorbenen Künstlern gibt? Oder das die japanische Stadt Kobi Riga eine Uhr schenkte? Oder den Gedenkstein, der an den Baum erinnert, den Peter I. in Riga pflanzte? Auch Usbekistan schenkte Riga ein Denkmal: es stellt Mirzo Ulugbek dar, einen Wissenschaftler aus Samarkand.

Fehlt eigentlich nur der Ergeiz, es Anglijas Makss gleichzutun. So nach dem Motto: ich sehe etwas, was Du nicht siehst ...

Webseite "Riga Research"

Makss' Liste der Denkmäler in Riga

8. Dezember 2007

Die Sehnsucht des „Volkes" nach einer unschuldigen Politik

Dieser Beitrag ist die übersetzte und ergänzte Version des lettischen Beitrages „Ilgas pēc nevainīgas politikas“, der in Zusammenarbeit mit Veiko Spolītis bei www.politika.lv veröffentlicht wurde.

Mit dem Wort „Volk“ soll Bezug genommen werden auf die häufige Verwendung dieses Begriffes in der lettischen Bevölkerung, mit dem sich die Menschen von der politischen Elite abgrenzen wollen.

„Was ist das für eine Demokratie?”
Das kann man häufig als Kommentar von Letten hören, wenn sie über ihre Heimat sprechen, wenn auch meistens eher die Rede von der sozialen Situation im Lande ist. Die Menschen beschweren sich über Korruption und bezeichnen Politiker als Diebe, manchmal wird sogar der Staat öffentlich als Kleptokratie bezeichnet. Dabei gilt dies mitunter noch eher als positive Abgrenzung von Staaten, in denen die Oligarchen ihre Interessen ohne jede Rücksicht auf den Bestand des Staatswesens selbst durchsetzen.[1] Nichtsdestotrotz beklagen auch Politiker, daß politische Programme oftmals nicht mehr als deklarativen Charakter haben, hinter denen sich die Partikularinteressen der Parteielite verstecken.[2] Den Letten fehlen also selten Worte, um ihren Staat in schlechtem Licht darzustellen. Da diese Meinung auch gegenüber ausländischen Journalisten und Vertretern anderer Organisationen geäußert wird, ist die Vorstellung von Lettland im Ausland oft keine positive.

Trotzdem zeigen Umfragen, daß die Einwohner Lettlands mit 69 zu 24% dennoch Patrioten sind. Sogar unter den wegen Einbürgerung weniger werdenden Staatenlosen oszilliert die Verneinung einer patriotischer Einstellung zwischen 35 und 40% und liegt damit seit 2002 ständig unter den Werten der patriotisch Empfindenden mit 2006 54 zu 40%. Unter den Letten sagten zur gleichen Zeit immerhin 21% gegenüber einer starken Mehrheit von 72% sie hielten sich für Patrioten.[3] Die Betrachtung von Stadt und Land wie auch des Bildungsniveaus machen deutlich, wie sehr diese Werte mit dem Wohlstand korrespondieren, und folglich bezieht sich der gemessene Patriotismus meist weniger auf den Staat denn auf das Land und die Nation. Bereits im 19. Jh. stellte Alexis de Tocqueville fest, daß die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Staatsform in direktem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation steht.[4] Einstweilen aber sind die Lebensumstände in Lettland geprägt von einem großen Unterschied zwischen Erwartungen und der tatsächlichen Performanz des neuen Systems.

Gesellschaftliche Realität
Woher kommt der dargestellte Nihilismus vor dem Hintergrund des dennoch zu konstatierenden Patriotismus?[5] Noch auf den Barrikaden in der Altstadt von Riga haben die Letten während des Umsturzversuches[6] im Januar 1991 euphorisch für ihre Unabhängigkeit gekämpft und wollten zurückkehren in den Schoß der europäischen Nationen. Fünfzehn Jahre später lehnen die Menschen vor dem Hintergrund vorwiegend aus der Sowjetzeit stammender Werte die materialistische Gesellschaft des Westens ab, dessen Wohlstand sie gleichzeitig gerne erreichen würden und wohin seit dem Beitritt zur EU Dank der Öffnung der Arbeitsmärkte in Irland und Großbritannien viele – wenigstens vorübergehend – übersiedeln, wenn es sich auch vorwiegend um gering qualifizierte Arbeitskräfte handelt.
Ostrovska ist der Ansicht, daß die Menschen in der Zeit des „Nationalen Erwachens“ bereit waren alles zu akzeptieren, um die Unabhängigkeit zu erreichen: „If the price for sovereignty (understood as a nation state), is democracy – let it be democracy.“[7] Damals war die nationale Frage noch deutlich wichtiger für die Mehrheit der Bevölkerung als sozioökonomische Aspekte. Dabei ist natürlich zu beachten, daß die dramatische Verschlechterung der Lebensumstände erst nach der Unabhängigkeit eintrat, weil nach dem Zusammenbruch der UdSSR die örtliche, damals für sowjetische Verhältnisse gut entwickelte Industrie ihre Konkurrenzfähigkeit verlor; dann folgten Arbeitslosigkeit und der Einbruch des ohnehin bescheidenen Wohlstandes.
In Unwissenheit über die Grundlagen der Marktwirtschaft und der realen Lebensumstände im Westen, worüber zahlreiche Mythen verbreitet sind, sowie auch über die ökonomischen Folgen der Sowjetherrschaft, herrschen in Lettland einstweilen noch grundlegende Mißverständnisse über Demokratie und Marktwirtschaft vor, als handele es sich um ein System, unter dem sich automatisch und ohne Anstrengung Wohlstand einstellt, in dem die Politiker ihre Versprechen einhalten. „Die Bereitschaft einer Mehrheit der Bevölkerung war groß, an die Stelle des Zukunftsglaubens (in den Kommunismus) einen anderen (in Marktwirtschaft und Demokratie) zu setzen.“[8] Das wurde etwa deutlich im Unverständnis über die Wahlniederlage von Helmut Kohl in Deutschland 1998, als viele Menschen in Lettland verwundert fragten, warum denn die Deutschen ob ihres Wohlstandes den erfolgreichen Bundeskanzler nicht mehr wollten.

Ursache ist die Lebenserfahrung aus dem sozialistischen System, dessen Regierung gleichzeitig Arbeitsplatz und Wohnung garantierte, die Versorgung von der Wiege bis an die Bare, und sich somit niemand über sein Auskommen Sorgen zu machen brauchte. Deshalb ist es kein Wunder, wenn die Menschen weiterhin die Regierung als erste Anlaufsstelle für Hilfe ansehen,[9] als Geldverteilungsorgan oder zugespitzter formuliert als Garant für den freien Zugang zum Geldautomaten. Das verstehen viele unter Ehrlichkeit.
De facto erwarten die Menschen unter den Bedingungen von Demokratie und Marktwirtschaft von der Regierung die Erfüllung der Versprechen der Kommunisten. Da dies aber unrealistisch ist, bewerten die Menschen ihre eigenen Lebensumstände vor dem Hintergrund der beschriebenen Mißverständnissen und weisen die Schuld für ihre schwierige Situation dem gegenwärtigen Regime und der amtierenden Regierung zu.
Die durch die Gewohnheit des Lebens in einer nivellierten Gesellschaft zweifellos vorwiegend sozialdemokratisch eingestellte Bevölkerung ist nicht bereit, die fortgesetzte Herausbildung von gesellschaftlichen Schichten mit unterschiedlichem Wohlstandsniveau zu akzeptieren. Der Unzufriedenheit mit den Erfolgen der Politik folgt eine Entfremdung von derselben. Aus diesem Grunde schwankt ein großer Teil der Gesellschaft – mitunter auch Vertreter aus den Sozialwissenschaften – zwischen Orientierung unter den neuen Bedingungen und der Verbreitung von Verschwörungstheorien.

Politische Kultur im Wandel
Wissenschaftler definieren diesen Begriff als geschriebene und ungeschriebene Ideen und Werte, die Grundlage des Verhaltens der Mitglieder einer Gesellschaft sind.[10] Das beinhaltet geschichtliche Determinanten, was als „geronnene“ Politik bezeichnet wird, plus neue Konflikte. Diese Theorie basiert auf dem Versuch von Almond und Verba zu charakterisieren, wie eine funktionierende Demokratie aussieht, daß dies den Stil und die Einigung über eine demokratische Vorgehensweise umfaßt.[11]
Die Geschichte Lettlands ist zum größten Teil die Geschichte von Fremdherrschaft, angefangen bei den deutschen Kreuzrittern bis zur sowjetischen Okkupation, nach deren Zusammenbruch eine demokratische politische Kultur sich erst entwickelt. Gleichzeitig ist das Verhalten der Menschen stark beeinflußt durch die Erfahrung der Diktatur, als erstens Passivität im öffentlichen Leben sowohl als Schutz wie auch als Protest gegen das Regime eingesetzt wurde[12] sowie zweitens in der Gesellschaft informelle Strukturen der Problemlösung vorherrschte.[13] Die Politik, welche auch im Westen selten Begeisterung auslöst, wird in Lettland einstweilen in ihrem Kern nicht verstanden, sondern gerne wie folgt beschrieben: „Das sind doch nur Spiele”. Aus diesem Grunde fehlt dem System die „diffuse Unterstützung”[14], die Legitimation, weil die Lösungskompetenz des derzeitigen Systems, das „output”, die Menschen nicht zufrieden stellt, was natürlich unter anderem auf die schwache Interessenaggregation und -formulierung, das „input”, zurückzuführen ist, also zwei Kriterien von Almond und Verba, oder einfacher formuliert: Das Wissen über Rechte und Pflichten des Bürgers in der Demokratie. Dieser Begriff stammt seinerseits aus dem Griechischen und bedeutet „Volksherrschaft“, nicht jedoch die Lösung der Probleme der Bevölkerung durch Beschlüsse der Elite, wie es die Propaganda der Sowjetunion hat Glauben machen wollen.

Ausländische Wissenschaftler konstatierten bei der Untersuchung der Einstellung und dem Verständnis der Demokratie bereits während der Zeit des Nationalen Erwachens ein Unverständnis bezüglich des Mehrparteiensystems, was ein Beispiel deutlich macht: Nachdem gerade die 50jährige Herrschaft einer einzelnen Partei, der Kommunistischen, geendet hatte, begriffen die Menschen nicht die Erfordernis eines Mehrparteiensystems.[15] Des weiteren blieb auch die Funktion einer Opposition unverstanden mit dem Hinweis, die Kritik der Regierung sei ebenfalls Aufgabe der Regierung.[16] Es ist darum wenig verwunderlich, daß die Bevölkerung nach wie vor die erforderliche Interessenvertretung inklusive des so genannten Lobbyismus, der freilich auch in Westeuropa kritisiert, gleichzeitig aber als normal und erforderlich akzeptiert wird, als Korruption verstehen; und selbst lettische Wissenschaftler wie etwa Ostrovska und Laķis definieren in ihren Publikationen den Unterschied zwischen Korruption und Lobbyismus nicht.

In der Zeit des Nationalen Erwachens diskutierten die Menschen in ihrer Freizeit, im privaten Bereich noch häufig über Politik, woraus Mattusch in den 90er Jahren schloß, daß dieses Interesse an Politik politische Lernfähigkeit und den Willen zur Demokratisierung bedeute.[17]
Heutzutage dagegen ist die Partizipation gering, wovon Zeugnis ablegt, wie gering die Zahl der Menschen ist, die sich aktiv in der Politik oder auch in Organisationen engagieren. Selbst die größten derzeit an der Macht befindlichen oder gewesenen Parteien haben sehr wenig Mitglieder. So haben die Sozialdemokraten (LSDSP) als größte Partei nur etwa 2.500 Mitglieder und waren zudem nur einmal in der Legislaturperiode von 1998 bis 2002 im Parlament vertreten. Daß sie trotzdem die größte Partei sind, hängt mir ihrer Vergangenheit zusammen, sie sind aus den von der KPdSU abgespaltenen Nationalkommunisten LDDP hervorgegangen, die sich später, nach wenigen Jahren feindschaftlicher Beziehungen, mit der historischen Wiedergründung der LSDSP vereinigten. Heute ist der frühere KGB-Offizier Juris Bojārs der wichtigste Vertreter, auch wenn er selbst wegen seiner Vergangenheit nicht kandidieren darf.

Die mehr oder weniger nationalistischen Konservativen (TB/LNNK) haben 2.028, die Volkspartei (TP) ungefähr 2.000 Mitglieder, während die Neue Zeit (JL) sogar nur 1.160 hat.[18] Im kleineren Nachbarland Estland hat die größte politische Kraft, die Zentrumspartei, kürzlich ihr 10.000. Mitglied aufgenommen. Den Parteien in Lettland fehlt also eine Verwurzelung in der Bevölkerung. Diese wird noch auffälliger durch die Konzentration des politischen Geschehens und der politischen Elite auf die Hauptstadt Riga. Viele Parteien haben in Kleinstädten und auf dem Lande keine Ortsverbände.[19]

Zweifellos sind die das Leben der Menschen oft beherrschenden und auch zeitraubenden Alltagssorgen dafür eine wichtige Ursache: „Because most residents are pre-occupied with issues of simple survival, it is understandable that people have no burning desire to become involved in the activities of non-governmental organizations.“[20] Aber teilweise entwickeln die Menschen auch sehr freiwillig keine Aktivität, denn Kritik ist einfacher ausgesprochen als Alternativen vorzuschlagen. Die Bevölkerung beteiligt sich nicht gern an Debatten. Mit diesem Begriff verbunden sind die Sitzungen des Parlaments, in denen ein Redner seine Ansicht verkündet, während die anderen lauschen.[21]
Zwar gibt es davon seltene Ausnahmen wie die heftigen Reaktionen auf die Forderung eines Teils der politischen Elite wie auch der liberal eingestellten Presse, eine Homosexuellenparade in Riga zu erlaube, was die traditionell eingestellte Gesellschaft Lettlands als eine aufoktroyierte Entscheidung empfindet. Generell aber tritt an die Stelle der demokratischen Massenlogik die Einflußlogik.[22] Die Menschen überlassen mit ihrer Passivität einzelnen Gruppierungen (oder Oligarchen) viel Raum zur Einflußnahme in der Politik. Das lettische Parteiensystem weist darum eine oligarchische Struktur auf, in der einzelne Parteien als „eigenartige, latente Lobbyismusinstitution“[23] Korruption Vorschub leisten.
Mit dieser „They versus us”-Mentalität[24] grenzen sich die Menschen gegenüber der Politik ab und geben ihrer Meinung Ausdruck, daß die Politiker in Parlament und Regierung sowieso nur korrupte Betrüger sind und Lettland nur gerettet werden kann, wenn es eines Tages gelingt, den richtigen Führer zu wählen: „many people in society have a paternalistic perception of democracy, believing that, if the right people are in power’, the situation will improve“.[25]

Umfragen zufolge halten 26,2% der Bevölkerung Lettland eine starke Führung für notwenig und 28,1% stimmen dem „eher“ zu. 8% sind unentschlossen. Daraus folgt, daß mehr als die Hälfte der Bürger das derzeitige Regierungssystem nicht als die ideale Lösung betrachten, und so oszillierte die Zustimmung zur These des Bedarfs nach einer starken Hand zwischen 50 und 60% während der letzten Jahre mit einer Gegnerschaft zwischen 40 und 50%.[26]
Aber gerade weil jeder seine eigenen Vorstellungen von einer starken Hand hat, witzeld die Letten über das politische Spektrum in in ihrem Land mit dem Sprichwort: „wo zwei Letten sind, gibt es drei Parteien“. Und tatsächlich war bis zur 8. Saeima[27] eine hohe Schwankung in der Wählergunst erkennbar[28] und jede Wahl wurde durch eine erst kurz zuvor gegründete neue Partei gewonnen, darunter Lettlands Weg (LC) 1993, die Demokratische Partei Hausherr 1995, die Volkspartei (TP) 1998 und die Neue Zeit (JL) 2002.[29] Hinter diesem Ergebnis verbergen sich zwei Aspekte: ein innerer und ein äußerer. Dem inneren Aspekt zur Folge versuchen Parteien, populäre Persönlichkeiten für sich zu gewinnen, ggf. auch von außerhalb der Politik wie etwa den Sportler Viktors Ščerbatihs oder den Komponisten Raimonds Pauls, der bereits für LC, die nicht mehr existierende Neue Partei (JP) und die TP kandidierte, während gleichzeitig dem äußeren Aspekt folgend populäre Persönlichkeiten auch versuchen, ihre Popularität für den Erfolg einer neugegründeten eigenen Partei einzusetzen wie Andris Šķēle 1998 mit der TP und Einars Repše 2002 mit der JL.[30] Mit der Wahl zur 9. Saeima 2006 gab es plötzlich keine neue Partei, was für eine allmähliche Stabilisierung des lettischen Parteiensystems spricht.

Vergleichende Politik
Die „geronnene“ Politik eines jedes Land unterscheidet sich Dank der jeweils eigenen Geschichte. Verfassungen und politische Kulturen sind folglich ebenfalls verschieden. In Lettland wurde 1993 nach der wiedergewonnenen Unabhängigkeit und der ersten Parlamentswahl im Unterschied zu den baltischen Nachbarn die Vorkriegsverfassung „Satversme“ von 1922 wieder in Kraft gesetzt. Während etwa in Deutschland viele Aspekte des Grundgesetzes den Erfahrungen der Weimarer Zeit geschuldet sind, also eine Reaktion auf die Erfahrung des Mißerfolges der Demokratie, was sich u.a. bei den Rechten des Präsidenten zeigt, der aber in Lettland das Recht der Benennung eines Kandidaten zur Regierungsbildung besitzt. Da das Land dennoch eine parlamentarische Demokratie ist, der Präsident also in erster Linie ein repräsentatives Organ, ist das direkt gewählte Parlament „Saeima“ die Institution mit der höchsten demokratischen Legitimität. Somit muß das erwähnte Recht als ein formales verstanden werden, denn der Präsident kann die Mehrheitsverhältnisse in der Volksvertretung und damit die Möglichkeiten der Koalitionsbildung nicht ignorieren. Andere Länder mit repräsentativen Präsidenten kennen ein vergleichbares Recht nicht einmal. Anderenfalls muß die Frage der Direktwahl des Präsidenten vergleichbar semi-präsidentiellen Systemen gestellt werden, ein in Lettland beliebtes Thema, mit dem sich die Unterstützung der Bevölkerung gut mobilisieren läßt. Der Experte für internationales Recht von der LSDSP, Juris Bojārs, legte vor der Wahl von 1998 gar zur Steigerung der Popularität seiner Partei einen neuen Verfassungsentwurf vor. Wird aber das formale Recht zur Nominierung eines Regierungschefs in Frage gestellt, muß dies unter Hinzuziehung des Aspektes geschehen, daß der Präsident in Lettland auch Kandidaten von außerhalb des Parlaments als Ministerpräsidenten benennen darf wie beispielsweise 1995 mit Andris Šķēle geschehen. Verfassungen anderer Staaten verlangen, daß der Regierungschef aus den Reihen der Abgeordneten bestimmt wird, es sich also um eine gewählte Personen handeln muß.

Politik und Politikwissenschaft in Lettland
Während in Westeuropa mehr oder weniger bekannt und, wenn vielleicht auch nur „zähneknirschend“, akzeptiert ist, daß Politik der Kampf um die Verwirklichung der eigenen Interessen ist – was im Pluralismus nach der Idee des „Positivsummenspiel”[31] ein Gemeinwohl besser garantiert, als eine nicht liberal-demokratische Regierungsform, so distanziert sich die Bevölkerung in Lettland von Politik, die nahezu ausschließlich negativ rezipiert wird, grundlegend. Aber diese Entfremdung führt zu Vertrauensverlust,[32] der in Lettland auch durch die großen Skandale der letzten 15 Jahre genährt wird wie den verschwundenen drei Millionen Lat im Rahmen des Zusammenbruchs der damals größten Kommerzbank des Baltikums, der Banka Baltija, wie auch die Probleme rund um die Privatisierung der Latttelekom, wo dem finnischen Investor über Jahre hinweg ein Monopol zugesprochen worden war.

Zu diesen Skandalen mit eher wirtschaftlichem Schaden kam zu Jahresbeginn 2006 mit „Jūrmalgate“ ein Skandal, der die fehlende moralische Integrität der Beteiligten belegte. Im Stadtrat des an Riga grenzenden Kurortes an der Ostsee mußte ein neuer Bürgermeister gewählt werden, angesichts der zersplitterten Parteienlandschaft kein einfaches Unterfangen. Der Verfassungsschutz hörte Telefongespräche wichtiger Politiker mit, in denen Stimmen gekauft werden sollten, um dort den wie es hieß „größten Dummkopf“ zu installieren. Dem politischen System fehlt deshalb die Legitimation: „Vor allem aber läßt sich eine weit verbreitete, zugleich tradierte und neu wachsende politische Apathie sowie ein teils latenter, teils manifester Autoritarismus als Ausdruck der Legitimationsschwierigkeiten des politischen Systems beobachten.“[33]

Sozialwissenschaftler, die sich beruflich mit der Beobachtung der heimischen Politik beschäftigen, bleiben ebensowenig unbeeindruckt von diesen Ereignissen. So wirft Curika im Grunde der Politik ihr Wesen vor mit der Formulierung, „wenn eine Partei in die Koalition möchte, dann muß sie das offensichtlich einzige, aber besonders effektive Mittel Mitte nutzen – Erpressung“. Weiter heißt es, „in Lettland wird dem Präsidentenamt theoretisch eine wichtige Rolle bei der Koalitionsbildung zugewiesen. Aber die Realität beweist, daß die Parteien meisten dem Staatspräsidenten nicht den geringsten Respekt als Entscheidungsbefugter bei der Ernennung eines Kandidaten für die Regierungsbildung erweise.“ Ganz im Gegenteil, der Präsident müsse oftmals eine längere Zeit warten, während die Parteien sich gegenseitig erpreßten, ehe sie sich untereinander auf einen Regierungschef geeinigt hätten, bis sich der Präsident auch mit anderen Kandidaten treffen kann, obwohl von Beginn an klar sei, daß er sowieso den von den Parteien portierten Kandidaten benennt. Wenigstens räumt die Autorin ein, daß selbstverständlich die Wahl des Präsidenten vor dem Hintergrund stehe, daß letztlich das Parlament dem vorgestellten Kabinett zustimmen muß.[34] Andererseits benennt sie in ihrem Text keinen Politikwissenschaftler als Autor, der den Kampf zwischen den Parteien um Macht und Einfluß, Forderungen, Verhandlungen und Kompromisse je als Erpressung bezeichnet hätte.

Eigentlich aber ist es ein Hinweis für Stabilität im Parteiensystem, wenn die Parteien sich bereits vor dem Treffen mit dem Präsidenten auf einen Regierungschef einigen können und dieser sich nicht den Kopf zerbrechen muß über einen Ausweg aus einer Pattsituation. Noch in den 90er Jahren, während das Parteiensystem mehr in Bewegung war, hatte der frühere Amtsinhaber, Guntis Ulmanis, mit Andrejs Krastiņš, Māris Grīnblats und Ziedonis Čevers immerhin drei Mal Kandidaten erfolglos berufen. Eine konsequente Verfolgung des Vorwurfs von Curika wirft die Frage auf, was ihrer Ansicht nach passieren würde, wenn eine einzelne Partei in Parlamentswahlen die absolute Mehrheit erzielte, sie also mit ihrem Spitzenkandidaten das Vertrauen des Wählers gewänne? In einer parlamentarischen Republik ist das Volk der Souverän und das Parlament das am höchsten demokratisch legitimierte Organ. In einem solchen Fall wäre selbstverständlich der Präsident auch nach der lettischen Verfassung faktisch gezwungen den Kandidaten dieser Mehrheitspartei zu ernennen. Alles andere könnte nur als konstitutionelle Krise bezeichnet werden.

Aber eine vergleichsweise paternalistische Denkweise findet sich auch in den Publikationen anderen Sozialwissenschaftler: „Doch von der Immunität der Letten gegen die Linke sprechend muß dennoch anerkannt werden, daß in Wahrheit keine reelle linke Alternative angeboten wird“[35] Puriņš und Šulcs bemühen sich nicht einmal darum, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie eigentlich Parteien entstehen, sind aber offensichtlich der Ansicht, daß die Existenz des gesamten politischen Spektrums Aufgabe der Elite ist. Die Politikwissenschaft ist zwar verhältnismäßig jung, aber bereits in den 50er Jahren hat Duverger bei der Herkunft von Parteien zwischen jenen aus der Mitte des Volkes, also „bottom up”, und den von der politischen Elite gegründeten, also „top down”, Parteien unterschieden.[36]

Aber in Lettland kann bestenfalls die konservative Partei TB/LNNK als „bottom up” bezeichnet werden. Sie ist das Ergebnis einer Vereinigung von TB (Für Vaterland und Freiheit) sowie der LNNK (Lettlands Nationale Unabhängigkeitsbewegung), die beide nicht aus dem Parlament heraus gegründet wurden. Aber tragischer noch müssen die anderen Parteien nicht nur als „top down” Gründung bezeichnet werden, sie sind vielmehr nach wie vor nur „top”-Parteien, also Honoratioren- oder Patronageparteien, deren Mitglieder sich wegen der fehlenden Partizipation der Bürger, die regelmäßig auch vom Eurobarometer bestätigt wird, weitgehend auf Funktionäre und Mandatsträger beschränkt. Die weitgehend passive Bevölkerung wirft der Elite vor, eine vom Volk herbeigesehnte Partei nicht zu gründen. Dahl sieht neben der Sozialisierung auch die Einbeziehung der Bevölkerung in die Parteiarbeit als eine Aufgabe von politischen Parteien an,[37] aber die Zurückhaltung der Wähler in Lettland erlaubt den Politikern, einen kleinen Kreis von Interessen zu vertreten. „Für die politischen Akteure ist es golglich sehr viel einfacher, eine „Schafherde“ hinter sich herzuziehen als sich mit über ihre Rechte und Pflichten interessierten Bürgern zu beschäftigen.”[38]

Daß eine solche Gründung bislang nicht stattgefunden hat wie auch die Reflektierung dieser Tatsache durch die einheimische Politikwissenschaft belegen, daß es in Lettland noch Probleme mit der Demokratie gibt. „Die Entwicklung einer konsolidierten Bürgergesellschaft erweist sich in den ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten als langfristiger, vor Rückschlägen nicht gefeiter Prozeß.”[39]

Demokratie mit Defekten – defekte Demokratie
Um die politische Situation in Staaten zu erklären, die sich zwar offiziell Demokratie nennen, in deren Systeme jedoch Unstimmigkeiten diagnostiziert werden können, haben Politikwissenschaftler in den 90er Jahren das Modell der „defekten Demokratien“ entwickelt. Dies wurde erforderlich, da beginnend mit Griechenland, Spanien und Portugal in den 70er Jahren über Südamerika und Asien zahlreiche Staaten eine von Huntington als dritte Welle der Demokratisierung bezeichnete Transformation erlebt haben.[40]
Die deutschen Politologen Croissant und Thiery konzentrieren sich weniger auf die bereits beschriebene Passivität, als sie sich mit der Frage befassen, in welchem Umfang eine Gesellschaft eine „öffentliche Arena zur Beeinflussung der Repräsentanten und Entscheidungsträger ausbilden kann”[41] Damit denken sie zunächst an solche Staaten, in denen die Elite die Bevölkerung von der Partizipation auszuschließen versucht und damit die Prinzipien der Demokratie mißachtet. Die Theorie der defekten Demokratien bezieht sich mit diesem Aspekt eines bewußten Ausschlusses der Öffentlichkeit durch die Elite nicht auf Lettland, ein solcher Vorwurf wäre zurückzuweisen, denn in Lettland verhindert die Partizipation der Bevölkerung niemand aktiv. Ganz im Gegenteil wird auch von Politikern in Lettland die Bedeutung einer Zivilgesellschaft betont, wenn auch in Folge von Korruption freilich die Organe der demokratischen Macht im Entscheidungsprozeß mitunter umgangen werden.

Im Unterschied zu Wissenschaftlern in Lettland, welche die Minderheitenfrage eher separat erforschen, sehen Croissant und Thiery sehr wohl den Ausschluß vom Demos aus ethnischen Gründen in Lettland. Folglich erwähnen Croissant und Merkel gerade Lettland als Beispiel, wo zwei Defekte zu finden sind, einerseits der Ausschluß ethnischer Minderheiten von den Bürgerrechten,[42] sowie das vielfach erwähnte hohe Ausmaß der Korruption. Nach Ansicht der meisten internationalen, politikwissenschaftlichen Beobachter steht die hohen Zahl Staatenloser in Lettland im Widerspruch zur Idee der Demokratie „one man one vote”. Andererseits sollte der stabilisierende Faktor des Staatsbürgerschaftsgesetzes nicht unerwähnt bleiben, denn in den frühen 90er Jahren konnten jene Immigranten, die eigentlich gegen die Unabhängigkeit Lettlands waren, am politischen Entscheidungsprozeß nicht teilnehmen und Lettland konnte deshalb nicht in eine konstitutionelle Krise stürzen.[43] Darüber hinaus wird oft verallgemeinernd von Minoritäten gesprochen und nicht unterschieden zwischen ethnischen Minderheiten und ihrem juristischem Status. Da ein großer Teil der heute in Lettland lebenden Menschen nicht lettischer Nationalität Nachfahren von Staatsbürgern sind, die schon in der Zwischenkriegszeit in Lettland gelebt haben, umfaßt der russifizierte Teil der Bevölkerung, also jener, der zumeist ausschließlich Russisch spricht, rechtlich gesehen zwei Gruppen, von denen nur ein Teil Staatenlose sind.

Als ernsthaften Defekt in Lettland könnte man dagegen die erwähnte Passivität bezeichnen. Vor diesem Hintergrund muß auch das Urteils von Mattusch verstanden werden, die den Parteien vorwirft, Interessenmaximierer bestimmter Klientel zu sein.[44] Ostrovska fügt hinzu, daß die ökonomischen Interessen von Oligarchen als gemeinsames Ziel die ideologische Diskussion ersetze.[45] In der Politikwissenschaft widerspricht dieser Sicht niemand: „East European parties seem to be more interested in governance than in interest aggregation“.[46]

Der zweite Defekt könnte darin liegen, daß die Menschen große Schwierigkeiten haben, sich ideologisch zu orientieren. „Most residents still have problems in understanding their own social interests, in connecting these interest with those of the political system, and in identifying themselves with any specific social groups.“[47] Das Parteiensystem Lettlands ist darum im Gegenteil zu dem Estlands einstweilen leider noch hauptsächlich ethnisch orientiert und teilt sich in pro-russische und pro-lettische Gruppierungen. Im Gegenteil zu Estland haben sehr viele Einwohner nicht lettischer Nationalität infolge ihrer Abstammung die lettische Staatsbürgerschaft. Die Parteien orientieren sich dagegen weniger an sozioökonomischen Aspekten, folglich spiegelt das Parteiensystem die gesellschaftliche Realität nicht wider, die nach Ostrovska wie folgt aussieht: „there has been a process of social disintegration, accompanied by gradual loss of legitimacy for the parliamentary democracy, and this, quite possible, may provoke authoritarianism.“[48]

Fazit
Die Hoffnungen des „Volkes“ nach der Wende beschreibt Juchler so „Die Erwartungen richteten sich dabei auf eine Verbesserung der Wirtschaftslage, aber auch auf die Bildung demokratischer Verhältnisse, auf eine gerechte moralisch erneuerte Gesellschaft schlechthin. Heute herrscht in den postsozialistischen Staaten Osteuropas Ernüchterung vor.“[49] Doch diese Hoffnungen waren irreal und damit kann in der Tat von „favourable conditions for legal and moral nihilism“[50] gesprochen werden, und darin liegt zweifelsohne eine Gefahr: „Die erworbene Abneigung gegen die vorangegangene autoritäre Form der Politik mischt sich in bedenklicher Weise mit Frustration gegenüber den Resultaten einer Demokratisierung, die fast ausschließlich durch die Parteieliten getragen wird.“[51] Aber letztlich handeln sowohl die Durchschnittsbürger als auch die politische Elite gleichermaßen vor dem Hintergrund ihrer Lebenserfahrung aus der Sowjetzeit.

So verständlich die Einstellungen der Menschen unter den beschriebenen Bedingungen in weiten Teilen auch sein mag, die erwähnten Folgen bleiben doch ein Hindernis auf dem Weg zur gelebten Demokratie. Hilfe und Unterstützung zu verlangen ist einfach, aber die Nötigen finanziellen Mittel hierfür können nur durch den Steuerzahler aufgebracht werden. Aber da es einstweilen keine großen Steuerzahler gibt und auch die Bereitschaft der Durchschnittbürger, ihrer Steuern ehrlich zu entrichten, gering ist, werden die Staatseinnahmen nicht ausreichen, um die Wünsche der Bevölkerung gegenüber dem Staat zu befriedigen. Dies wird begünstigt durch die Tatsache, daß Lettland bislang noch kein transparentes System der Steuererklärung eingeführt hat. Angesichts der Leistung der Wirtschaft Lettlands ist in naher Zukunft ein dem Westen vergleichbarer Lebensstandard nicht abzusehen. Er wird sich nur mittel- und langfristig verbessern inklusive der weiteren Herausbildung einer gesellschaftlichen Stratifikation. Aber das bedeutet selbstverständlich nicht, daß Lettland eine Kleptokratie sein muß, wenn einzig die Einwohner dies nicht wollen und nicht zulassen.

Bald werden seit der erneuerten Unabhängigkeit 18 Jahre vergangen sein. Wann wird die Bevölkerung Lettlands sich damit abfinden, daß die Politik nicht unschuldig ist, es nicht sein kann und nicht einmal sein darf? Einstweilen ist Wolff-Poweska auch für Lettland zuzustimmen: „es herrscht Demokratie ohne demokratische Kultur“.[52] Als Antwort auf die von Einheimischen oft gestellte Frage kann also geantwortet werden: Die Demokratie in Lettland ist eine formale.

Anmerkungen
[1] vgl. Ķemers, Ivars: Kleptokrātijas plusi un mīnusi, Diena 13.11.2001
[2] vgl. Škapars, Jānis: Jūrmalgeita un daudzpartiju problēma, Kultūras Diena 9.2.2007
[3] vgl. Umfrage des Instituts SKDS, 2006
[4] vgl. de Tocqueville, Alexis: L’Ancien Régime et la Révolution, 1856
[5] Diesen Begriff verwenden die Einstellung der Bevölkerung beschreibend auch Ostrovska und Tabuns. Vgl. Ostrovska, Ilze / Odīte, Liene / Zītars, Valdis / Āboltiņa, Signe / Strode, Ieva / Indāns, Andris / Brants, Māris / Vanaga, Sanita: 6. Saeimas vēlēšanas gaidot; in: Socioloģijas un politoloģijas žurnāls Nr.6, 06.1995, S.18; Tabuns, Aivars / Tabuna, Ausma: Estraged europeans - sociological investigation of Latvian society; in: Humanities and Social Sciences 1(22)/99, S.27
[6] Im Januar 1991 versuchten Sondereinheiten der Sowjetmacht Rundfunk- und Regierungsgebäude einzunehmen. Vgl. auch den Eingangsbeitrag.
[7] vgl. Ostrovska, Ilze: Nationalism and democracy: The choice without choice; in: Vēbers, Elmārs: Integrācija un etnopolitika, Riga 2000, S. 164
[8] vgl. Segert, Dieter: Aufstieg der (kommunistischen) Nachfolge-Parteien?; in: Wollmann, Helmut / Wiesenthal, Helmut / Bönker, Frank (Hrsg.): Transformationen sozialistischer Gesellschaften: Am Ende des Anfangs, Leviathan Sonderheft 15/1995, S.465
[9] vgl. Boulanger, Christian: „Politische Kultur“ und „Zivilgesellschaft“ in der Transformationsforschung: Versuch einer Annäherung und Kritik; in: Berliner Osteuropa Info 13/99, S.16
[10] vgl. Fenner, Christian: Politische Kultur; in: Dieter Nohlen (ed.), Lexikon der Politik. Band 3: Die westlichen Länder. München: Beck 1992
[11] vgl. Almond, Gabriel / Verba, Sidney: The Civic Culture: Political Attitudes and Democracy in Five Nations, 1963
[12] vgl. Putniņa, Aivita: Strādāsim vai noalgosim Antiņu? Interview http://www.politika.lv/, 11.09.2001
[13] vgl. Lemke, Jakob: Zwölf Jahre, zwölf Regierungen. Akteure, Ereignisse, Spezifika der litauischen Politik; in: Osteuropa 9/10/2002, S.1243
[14] vgl. Merkel, Wolfgang: Systemtransformation, Opladen 1999, S.137
[15] vgl. Arter, David: Parties and democracy in the Post-Soviet republics: the case of Estonia, Aldershot Dartmouth 1996, S.205, 234
[16] vgl. Lieven, Anatol: The Baltic revolution, New Haven und London 1994, S.265f.
[17] vgl. Mattusch, Katrin: Demokratisierung im Baltikum? Frankfurt 1996
[18] vgl. Barkāns, Elmārs: Partijas: spēcīgas organizācijas vai interešu klubi?, „Nedēļa“ 12.06.2006
[19] vgl. Škapars, Jānis: Jūrmalgeita un daudzpartiju problēma, Kultūras Diena 9.2.2007
[20] vgl. Ostrovska, Ilze: The State and it’s civil society: Priorities in a period of transition; in: Humanities and Social Sciences 4(13)/96 1(14)/97, S.78
[21] vgl. Akule, Dace: Vai Eiropa noticēs pilsoņu debatēm?, http://www.politika.lv/, 13.2.2007
[22] vgl. Widmaier, Ulrich / Gawrich, Andrea / Becker, Ute: Regierungssysteme Zentral- und Osteuropas, Opladen 1999
[23] Das Originalzitat: „savdabīgu, latentu lobisma institūciju“. Vgl. Broks, Jānis / Ozoliņš, Uldis / Ozolzīle, Gunārs / Tabuns, Aivars / Tīsenkopfs, Tālis: Demokrātijas stabilitāte. Latvijā: priekšnoteikumi un izredzes; in: Tabuns, Aivars (Hrsg.): Sabiedrības pārmaiņas Latvijā, Riga 1998, S.168
[24] vgl. Mény, Yves: The people, the elites and the populist challange, Key note adress to the German political science association meeting, Bamberg October 1997, S.9
[25] vgl. Tabuns, Aivars / Tabuna, Ausma: Estraged europeans - sociological investigation of Latvian society; in: Humanities and Social Sciences 1(22)/99, S.26ff.
[26] Umfrage des Instituts SKDS, 2005
[27] Die Letten numerieren ihre Parlamente beginnend mit dem ersten in den 20er Jahren. Somit wurde 1993 nach der wiedergewonnen Unabhängigkeit die 5. Saeima gewählt. Weitere Wahlen folgten 1995, 1998, 2002 und 2006.
[28] vgl. Pedersen, Mogens: The Dynamics of European Party Systems: Changing Patterns of Electoral Volatility, 1979
[29] vgl. Ginters, Māris: Vēlētāju balsojuma mainīgums (Electoral Volatility) Latvijas Republikas Saeimas vēlēšanu rezultātu kontekstā. (1993. – 2002.), Maģistra darbs Rīgas Stradiņa Universitāte 2005
[30] vgl. Reetz , Axel: Die Entwicklung der Parteiensysteme in den baltischen Staaten, Wittenbach 2004, S.159
[31] vgl. Offe, Claus: Der Tunnel am Ende des Lichts, Frankfurt am Main 1994, S.86ff.
[32] vgl. Zepa, Brigita: Līdzdalība kā politiskās nācijas veidošanās nosacījums; in: Pilsoniskā apziņa, Riga 1998, S.234
[33] vgl. Meyer, Gerd: Die politischen Kulturen Ostmitteleuropas im Umbruch; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 10/1993, S.10
[34] Die Originalzitate: „ja partija grib iekļūt koalīcijā, tai jāmāk izmantot šķiet vienīgais, bet tik efektīvais ierocis – šantāža“ sowie „Latvijā nozīmīga loma koalīcijas veidošanā teorētiski tiek piešķirta valsts prezidentam. Bet realitāte pierāda, ka partijas vairumā gadījumu neizrāda pat vismazāko cieņu pret prezidentu kā valdības vadītāja nominētāju.“ Vgl. Curika, Linda: Koalīciju veidošanas labirinti, http://www.politika.lv/, 10.10.2006. Der Artikel ist eine Zusammenfassung der Magisterarbeit der Autorin zum gleichen Thema, die von Ilze Ostrovska betreut worden ist.
[35] Das Originalzitat: „Taču runājot par latviešu imunitāti pret kreisumu, tomēr jāatzīst, ka patiesībā nekāda reāla kreisa alternatīva netiek piedāvāta.“ Vgl. Puriņš, Gatis / Šulcs, Uģis: 9.Saeima: Labējā nestabilitāte, http://www.politika.lv/, 10.10.2006
[36] vgl. Duverger, Maurice: Die politischen Parteien, Tübingen 1959
[37] vgl. Dahl, Robert: Democracy and ist Critics, New Haven; Yale University Press, 1989, S.15-20
[38] Das Originalzitat: “Proti, politikas ganiem ir daudz vienkāršāk vest aiz sevis t.s. „aitu baru”, nevis savas tiesības un pienākumus zinošus pilsoņus.” Vgl. Reetz, Axel / Spolītis, Veiko: Vēlētājs Aizspogulijā, www.politika.lv , 3.10.2006.
[39] vgl. Ismayr, Wolfgang: Die politischen Systeme der EU-Beitrittsländer im Vergleich; in: Aus Politik und Zeitgeschichte B5-6/2004, S.14
[40] vgl. Huntington, Samuel: The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, London 1991
[41] vgl. Croissant, Aurel / Thiery, Peter: Von defekten und anderen Demokratien; in: Welttrends Nr. 29, Winter 2000/2001, S.20ff., 26; auch Croissant, Aurel / Thiery, Peter: Defekte Demokratie. Konzept, Operationalisierung und Messung; in: Lauth, Hans-Joachim / Pickel, Gerd / Welzel, Christian: Demokratiemessung, Wiesbaden 2000, S.96ff. Diese Annahme findet ihre Parallele in dem schon vorher erörterten angeblichen Ausschluß der Minderheiten vom politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben.
[42] vgl. Merkel, Wolfgang / Croissant, Aurel: Defective democracies: Concept and causes, Manuskript 2000
[43] vgl. Broks, Jānis / Ozoliņš, Uldis / Ozolzīle, Gunārs / Tabuns, Aivars / Tīsenkopfs, Tālis: Demokrātijas stabilitāte. Latvijā: priekšnoteikumi un izredzes; in: Tabuns, Aivars (Hrsg.): Sabiedrības pārmaiņas Latvijā, Riga 1998, S.171
[44] vgl. Mattusch, Katrin: Vielfalt trotz ähnlicher Geschichte. Die drei baltischen Staaten und ihre unterschiedlichen Parteiensysteme; in: Segert, Dieter (Hrsg.): Spätsozialismus und Parteienbildung in Osteuropa nach 1989, Berlin 1996
[45] vgl. Ostrovska, Ilze: 6. Saeimas vēlēšanās: izvēle un rezultāti; in: Socioloģijas un politoloģijas žurnāls Nr. 7, 05.1996, S.46f.
[46] vgl. Žeruolis, Darius: Change and stability in emerging East European party systems: What the revelance of West European party models, Msc Dissertation, The London School of Economics and Political Science, S.11
[47] vgl. Ostrovska, Ilze: The State and it’s civil society: Priorities in a period of transition; in: Humanities and Social Sciences 4(13)/96 1(14)/97, S.78
[48] vgl. Ostrovska, Ilze: The State and it’s civil society: Priorities in a period of transition; in: Humanities and Social Sciences 4(13)/96 1(14)/97, S.78
[49] vgl. Juchler, Jakob: Der wirtschaftliche und politische Transformationsprozess Osteuropas in komparativer Perspektive, Zürich 03.2000, S.5
[50] vgl. Tabuns, Aivars / Tabuna, Ausma: Estraged europeans - sociological investigation of Latvian society; in: Humanities and Social Sciences 1(22)/99, S.26ff.
[51] vgl. Segert, Dieter: Die Entwicklung der Parteienlandschaft im ostmitteleuropäischen Transformationsprozeß; in: Hans Süssmuth (Hrsg): Transformationsprozesse in den Staaten Ostmitteleuropas 1989-1995, Baden-Baden 1998, S.108
[52] vgl. Wolff-Poweska, Anna: Politische Kultur in den postkommunistischen Gesellschaften; in: Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Demokratie und Marktwirtschaft in Osteuropa. Strategien für Europa, Gütersloh 1995, S.49