18. November 2017

Riga Porzellan - Legende und Gegenwart

Als die Schornsteine noch rauchten: Ansicht der
Porzellanfabrik Jessen in Riga
EIN BEITRAG ZUM 99.GEBURTSTAG LETTLANDS
Es soll ursprünglich der Name einer Meeresschnecke gewesen sein: das sogenannte "weiße Gold", als Endprodukt - Porzellan. Das wiederum ist nicht überall gleich: es gibt verschiedene Mischungs-verhältnisse, Brenntemperaturen und Härtegrade. Doch Porzellan aus Lettland? Legendär ist Porzellan aus China, in Deutschland Meißen, Dresden, auch Thüringen, darüber hinaus Wien, und auch in St.Petersburg.

Also: Porzellan aus Riga? Zumindest zu Sowjetzeiten war auf diesem Gebiet nichts von besonderer Qualität bekannt. Schaut man aber ins 19.Jahrhundert, so gab es hier die große Konkurrenz zweier Marken: Kusnezow (gegr. 1841) und Jessen (gegr. 1886) - beide hatten ihre große Zeit vor dem 1.Weltkrieg. - Geht man heute ins Rigaer Porzellanmuseum, so sind dort weitgehend nur Produkte aus der Zeit 1950 bis 1990 ausgestellt; hier findet sich auch kein Nachlass einer bestimmten Fertigungstradition, sondern die Exponate sind eher einzelne Schenkungen von Privatpersonen, oder modernes Porzellan zeitgenössischer Künstler/innen.

Von der Zeit der Jessens und Kusnezows blieb Riga wenig. Es soll ein Schmied namens Jakov gewesen sein, der, aus dem russischen Dorf Novoharitonovo stammend, im Jahre 1812 den Namen Kuzņecovs (russ. Кузнецова) annahm, und 1841 die Produktion nach Riga verlegte. Sein Enkel Sidors übernahm die Fabrik für Tonwaren (sogenannte "Halbfayencen), dessen ältester Sohn Matvejs Kuzņecovs wurde 1864 der Chef. Ab 1851 wurde auch Porzellan produziert. 1913 arbeiteten dort 2650 Menschen.
Ehemals begehrte Exportware:
Produkte aus dem Hause Kuzņecovs
Fünf Söhne und zwei Töchter von Matvejs Kuzņecovs bauten das Familiennetzwerk immer weiter aus; der Vater war Anhänger der altgläubigen Orthodoxie und soll das auch gegenüber seinen Angestellten vertreten haben: weder Rauchen noch Alkohol war gerne gesehen. Die Firma hatte Filialien in ganz Russland, aber nach 1917 blieb der Familie nur noch der Betrieb in Riga (alles andere wurde von den Bolschewiken verstaatlicht), die Porzellanherstellung konnte in der Zwischenkriegsheit dort fortgesetzt werden. Die notwendigen Rohstoffe wurden importiert: Kaolin aus Deutschland oder der Tschechoslowakei, die Keramikfarben aus Frankreich, Feldspat aus der Schweiz oder Schweden, Schamotte, Dekore und Gold wiederum aus Deutschland. Selbst die russische Botschaft soll in den 1920iger Jahren lukrative Aufträge an die Kuzņecovs vergeben haben. Rūdolfs Pelše, Professor an der Kunstakademie in Riga, wurde als Berater engagiert, und viele namhafte Künstler/innen bemalten u.a. damals Porzellan, darunter Ludolfs Liberts, Niklāvs Strunke und Romans Suta, der ab 1938 selbst Porzellanmaler ausbildete. 

1937 konnte die Firma Kuzņecovs in Riga ihr 125-jähriges Bestehen feiern - Präsident Ulmanis lud die ganze Familie (30 Personen) aus diesem Anlaß zu einer Audienz ein. Einige Mitglieder der Familie Kuzņecovs mussten ihre Loyalität zum lettischen Staat später teuer bezahlen: am 14. Juni 1941 wurden neun Kuzņecovs nach Sibirien verbannt, auch der Chemiker und technische Direktor der Firma Mārtiņš Kalniņš mit Familie erlitt dieses Schicksal (Gründer der chemischen Werke "Nitra"). Zwei weitere Kuzņecovs wurden zwei Tage nach dem Beginn des Angriffs Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion am 27.Juni 1941 im Rigaer Zentralgefängnis erschossen.

Die Sowjets verstaatlichten dann den Betrieb, aber am alten Firmensitz wurde noch bis 1991 produziert. Es folgte der Versuch mit "Latvpotik", einem lettisch-schweizerischen Unternehmen, dann "Latelektrokeramika" - diese Firma wurde 2010 aufgelöst. 2013/14 wurde das gesamte Betriebsgelände geräumt, sämtliche alten Gebäude niedergerissen. An dieser Stelle wird voraussichtlich 2019 das rieisige Einkaufszentrum "Akropole" eröffnet werden, auf 98.000 qm Fläche. Die zuständigen Projektentwickler kündigten an, "Fragmente der alten Fassade" als "Erinnerung" stehen lassen zu wollen.

Die zweite große Porzellanfabrik in Riga gründete der im Alter von 20 Jahren aus Deutschland nach Lettland gekommene Jakob Karl Jessen am 2. Februar 1886 im Norden Rigas, in Jaunmīlgravis. Er nutze von Anfang an Dampfmaschinen, und baute die Firma zusammen mit seinem Partner, einem russischen Händler namens Hrapunovs auf. Während Kuzņecov sich am russischen Markt orientierte, stützte sich Jessen zunächst auf Kunden unter den Deutschbalten; auch unter den Dekorateuren und Porzellanmalern waren viele Deutsche. Hergestellt wurden später auch Isolatoren für die Stromleitungen.
Produkte aus dem Hause Jessen
(siehe: www.laikmetazimes.lv)
Um die Jahrtausendwende herum errang das Porzellan aus dem Hause Jessen mehrere Auszeichungen bei internationalen Austellungen, auch anläßlich des 700-jährigen Stadtjubiläums der Stadt Riga. 532 Arbeiter waren zu dieser Zeit bei Jessen beschäftigt. Als sich im 1.Weltkrieg 1915 die Front auf Riga zubewegte, wurden große Teile der Porzellanfabrikation in die Ukraine verlegt, wo die Firma eine Filiale hatte.
Erst in den 1930iger Jahren setzte Ferdinand Jessen die Porzellanherstellung fort, Ende der 30iger Jahre wurden bei Jessen auch Lizenzkopien der bekannten deutschen Firma "Rosenthal" und der finnischen "Arabia" hergestellt.1939 schlossen sich die Eigentümer der Jessen-Porzellanfabrik der Umsiedlung "heim ins Reich" an (Folge des Hitler-Stalin-Pakts) - die Firma wurde geschlossen.

Die letzten Jessen-Produkte - 
Billigware aus den 1990iger Jahren
Erstaunlich, wie viel Journalist und Blogger Ervīns Jākobsons an Informationen zusammentragen konnte - vor allem auch viele Abbildungen der früher produzierten Porzellangegenstände. Bei ihm ist auch nachzulesen, dass die Eigentümer Jessen während der Besetzung durch Nazi-Deutschland zurückkehrten und den Betrieb eine Zeitlang noch weiterführten. 244 Arbeiter seien in dieser Zeit beschäftigt gewesen. Als sich dann die Front wieder Riga genähert habe, schreibt Jākobsons, sei man bemüht gewesen alles zu demontieren und Richtung Deutschland zu schicken - aber "mutige Angestellte" hätten einiges im Hof unter Abfall verstecken können, so habe man nach dem Krieg relativ schnell weitermachen können. In der Sowjetzeit lief es zunächst als “Rīgas porcelāna fabrika” - 1963 wurde der Betrieb dann zusammen mit der ehemaligen Kuznetsov-Fabrik an der Maskavas iela 257 unter der Bezeichnung "Rīgas porcelāna un fajansa rūpnīca" vereinigt. Ab 1968 wurde nur noch Porzellan hergestellt. - Als dann nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit das Gelände an der Lēdurgas ielā 3 privatisiert und aufgeteilt wurde, habe es zwischen 1996 und 2003 auch noch eine "SIA Jesena porcelāns” gegeben (Jessen GmbH), so Jākobsons, mit recht billig hergestellten Tassen und Tellern und dem neu geschaffenen Warenzeichen “Jesens 1886 Rīga”.

Eines der Glanzstücke zum 700.
Geburtstag Rigas: eine riesige Porzellanvase
aus dem Jahr 1901
Der einzige Ort, wo heute wieder Porzellan produziert wird, ist Piebalga in Vidzeme. Inhaber Jānis Ronis versucht dort mit Frau, zwei Kindern und sieben Angestellten seit 2007 eine kleine Porzellanfabrikation aufzubauen - "Piebalgas porcelāna fabrika". (jauns.lv) Das notwendige Ausgangsmaterial müssen sie allerdings in Großbritanien und Deutschland einkaufen.

Ein unklarer Punkt der Geschichte des Porzellans aus Riga ist vielleicht noch die Verbindung zur russischen Stadt Gschel (russ: Гжель / lett: Gžeļa), einem der traditionellen Zentren der russischen Keramikherstellung (60km südöstl. von Moskau - siehe auch: "Gzhel, blue fairytale of Russia"). Beide große Rigaer Porzellanfirmen weisen im Laufe ihrer Entstehungsgeschichte (personelle) Bezüge dahin auf. Warum also kam es zur Porzellanherstellung in Riga? Nur weil der Hafen Riga für das russische Reich das Tor zum Westen darstellte? Oder weil die Firmeninhaber Altgläubige waren, die in Riga ruhiger und besser leben konnten? Oder haben doch einige ehemalige Kuznetsov- oder Jessen-Leute früher Ideen aus Gschel kopiert und nach Riga mitgebracht? Und, falls ja, legal oder illegal? An dieser Stelle sind noch einige Punkte in den bisherigen historischen Darstellungen aus lettischer Feder offen.

Infoquellen: 
Ingunda Šperberga / Ilgars Grosvalds: "Rīgas porcelāns", Rīgas Tehniskā universitāte / Latvijas Ķīmijas vēstures muzejs 2016.
Ervīns Jākobsons: Laikmeta zīmes - Rīgas porcelāns.
Ineta Lipša: Leģendas - Kuzņecovi. Porcelāns (Dienas bizness)
O. Puhļaks: Matvejs Kuzņecovs (Russkije.lv)

14. November 2017

Zuhörer, Inspirator und Wortkünstler

Die meisten Deutschen können wohl keine zwei Zeilen aus Goethes "Faust" zitieren - er hat den gesamten Text ins Lettische übersetzt. Wer sich mit ihm unterhalten hat musste immer damit rechnen, dass er mitten im Gespräch in andere Sprachen wechselt, frei aus Werken deutscher Klassiker zitiert, oder dem Gast aktuelle Fragen seiner vielen Übersetzungsprojekte darlegt. Es ist ihm zu wünschen, dass nicht nur seine zwei in lettischer Sprache erschienenen Gedichtsammlungen ("Re(h)abilitācija" 2004, "Dāvinājumi» 2008) noch mehr Leserinnen und Leser in Deutschland finden, sondern auch seine vielfältigen Erinnerungen an Ereignisse zwischen Deutschland und Lettland. Am 13. November verstarb der Übersetzer, Dr. der Philologie, Sprachkundler und Dichter Valdis Bisenieks im gesegneten Alter von 89 Jahren in Riga.

Ohne ihn wäre wohl die Zahl der in lettischer Sprache herausgegebenen Werke der Weltliteratur um einiges geringer. Valdis Bisenieks wurde 1928 in einer Beamtenfamilie geboren, sein Vater arbeitete im lettischen Landwirtschaftsministerium. Erst nach dem Krieg, 1948, konnte er die Mittelschule abschließen, bis 1953 studierte er Philologie, arbeitete an verschiedenen Hochschulen, von 1965 bis 1990 an der Lettischen Universität. "Als ich mein Studium 1948 begann, konnte ich auf der Universität noch Schillers Wilhelm Tell lesen", äusserte er sich einmal über die Rolle der Germanistik im Sowjetsystem (sie wurde an der Universität Riga 1953 abgeschafft). In den späteren Jahren stellte Bisenieks dann "marxistische Literaturverflachung" fest.
Er beschäftigte sich mit der allgemeinen Sprachwissenschaft, der Phonetik, der Syntax der deutschen Sprache und linguistischen Analysen. Jahrelang arbeitete er an mehreren Ausgaben von Lexika Deutsch-Lettisch (letzte Neuausgabe 2007), und übersetzte außer aus dem Deutschen auch vom Lettischen ins Deutsche, aus dem Italienischen, englischen und sogar altindische Sprachen des Sanskrit. Russisch beherrscht er selbstverständlich ebenfalls, Ukrainisch konnte er zumindest lesen.

"Im Alter von 16 Jahren las ich Thomas Manns "Tonio Kröger" in Deutsch, und von da an wollte ich Übersetzer werden," so erzählte er einmal. An dem deutsch-lettischen Wörterbuch arbeitete er nach eigenen Angaben jahrelang in einer eigens angemieteten Fischerhütte in Carnikava, nördlich von Riga (Diena). Er übersetzte die Hinduistischen Lehren der Bhagavad Gita, das "Stundenbuch" von Rainer Maria Rilke, die Livländische Reimchronik, Arnold Zweigs "Sergeant Grischa", Werke von Thomas Mann und Hermann Hesse, sowie -  nach eigener Einschätzung die schwierigste Übersetzerarbeit - die "Göttliche Komödie" von Dante. Nachdichten sei wie ein Gemälde fälschen, sagte Bisenieks einmal; der Unterschied sei nur, dass man fürs Gemälde fälschen ins Gefängnis komme (Diena).

Den "Faust" ins Lettische zu übersetzen, das wagte vor ihm nur der große Rainis. "Die Version von Rainis klingt vielleicht schöner - meine ist präziser," kommentierte er selbst (TVNet). Rainis selbst dichte eher wie Schiller, meint Bisenieks, eben wie ein Idealist - Goethe dagegen fehle jedes Pathos. - Ein Werk von Rainis wiederum übersetzte Bisenieks ins Deutsche - genauso wie Knuts Skujenieks, Amanda Aizpuriete, und die "Landvermesserzeiten" der Gebrüder Kaudzīte. Von einer Journalistin wurde Bisenieks einmal "Ritter der Worte" genannt. Er selbst drückte es so aus: "Ich habe festgestellt dass ich die Fähigkeit habe die Tropfen im Ozean zu sehen." (lsm3)

Manchen Menschen sagt man nach, das absolute Gehör zu haben. Jede Sprachveriante, Dialekte oder andere Besonderheiten war er gewohnt aus langen Gesprächen mit vielen Menschen zu nehmen - um nicht nur von Angelesenem abhängig zu sein. So hat er sicher nicht nur von seinen beiden Söhnen Armands (heute Architekt) und Ingmārs (Historiker) gelernt, dass die lettische Jugend sich heute nicht nur anders ausdrückt - sondern sogar die Worte anders betont; der Einfluss des Englischen, wie Bisenieks im Interview einmal sagte.

Seit 1992 war er der Präsident des Rotari-Klubs in Riga. Für die Übersetzung von Dantes "Göttliche Komödie" ins Lettische bekam er 2000 einen Preis von der Botschaft Italiens verliehen, 2008 erhielt er in Lettland den Literaturpreis für sein Lebenswerk. Logisch, dass Bisenieks auch Ehrenmitglied in der Dante-Alighieri-Gesellschaft Lettlands war.

Der leidenschaftliche Pfeifenraucher Valdis Bisenieks lebte die letzten 10 Jahre seines Lebens am Stadtrand Rigas (Dreiliņi). "Nahe am Vaterhaus", wie er sagte (TVNet). Er hielt sich mit Jogging fit - angefangen hatte er damit schon in den 1960iger Jahren, damals wegen Asthmabeschwerden. Nun beschrieb ihn die Presse eher als "leicht erkennbar an der etwas altertümlich wirkenden Sportkleidung" (der "laufende Professor", siehe DIENA). Wenn er morgens früh um 11 Uhr sein Laufpensum absolvierte, war der wichtigeste Teil des Tages bereits gelaufen - "Ich bin ein früher Vogel", pflegte er zu sagen, "ich stehe auf wie früher die Bauern, um drei Uhr." Medikamente habe er fast sein ganzes Leben nicht gebraucht.
Gefragt, ob er an die Wiedergeburt glaube, antwortete er nicht mit nein (Kas Jauns). Ein Entwurf für ein Aussprache-Lehrbuch für Kinder blieb bisher unveröffentlicht.

"Lai vieglas smiltis" - "leichten Sand" wünschen Lettinnen und Letten traditionell denjenigen, die sich nach "Aizsaule" verabschieden. Ich wünsche ihm, sollte er es irgendwo brauchen, noch ein Glas guten Rotwein und einen Kräuterschnaps dazu.
Über den Wert eines guten Buches schrieb er die folgenden Zeilen (zitiert nach Jumava):
Laba grāmata ir tev kā partnere - ein gutes Buch ist Dir wie eine Partner/in,
Dažai mīklai tā atnāk atbilde - für allerlei Rätsel findet sich eine Antwort.
Laba grāmata ir tev kā uzticams draugs - ein gutes Buch ist Dir wie ein/e vertrauensvoller Freund/in,
Ar kuru kopā ik brīdis ir jauks - mit dem/der zusammen jeder Moment eine Freude ist.
Un bezgalīgs domu un darba lauks - und ein endloses Gedanken- und Arbeitsfeld.