28. Oktober 2022

Selbstfindung, bewaffnet

Ex-Aussenminister Artis Pabriks hatte es wohl als Wahlkampfhilfe gedacht: in Zeiten der militärischen Bedrohung durch den großen Nachbarn im Osten schien die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Lettland eine Maßnahme nachgewiesenen Verantwortungsgefühls. Doch es kam, wie schon vorauszusehen war, anders: wer konnte schon wissen, wer nach den Parlamentswahlen Verteidigungsminster sein würde? Ex/Minister Pabriks baute ganz auf seinen Wahlslogan "Drošība sākas ar premjeru" (Sicherheit beginnt beim Regierungschef) - aber seine Partei "Attīstībai par" scheiterte knapp an der 5%-Hürde - und nun beginnt die Diskussion von neuem. 

Wenn es um den "Staatsverteidigungsdienst" geht (lettisch "Valsts aizsardzības dienests" - VAD), so sind in den verschiedenen Parteien - besonders diejenigen, die jetzt die neue Regierung zu bilden bereit sind - die Details offenbar noch nicht ausdiskutiert. Dem bisherigen Gesetzentwurf zufolge sollten für alle jungen Männer im Alter zwischen 18 und 27 Jahren drei verschiedenen Dienste geschaffen werden: den Militärdienst, einen Dienst bei den lettischen "Zemessardzes" (bisher ein Freiwilligenkontingent, auch "Nationalgarde" genannt), und eine spezielle militärische Ausbildung für Studierende an Hochschulen (inklusive der Möglichkeit zur Offizierslaufbahn). Dazu ist auch noch ein "Alternativdienst" vorgesehen, der bei Institutionen der Ministerien für Inneres, Gesundheit oder Soziales abgeleistet werden kann. Frauen soll dasselbe auf freiwilliger Basis angeboten werden. Der reguläre Dienst soll ein Jahr dauern, einschließlich einen Monat Urlaub. Dies alles sollte, nach Plänen von Ex-Minister Pabriks, bis 2027 stufenweise eingeführt werden, um dann, beginnend mit dem Jahr 2028, jedes Jahr 7500 junge Menschen einberufen zu können. 

Inzwischen gibt es die ersten Protestdemonstrationen gegen die Wiedereinführung der Militärdienstpflicht. Zwar ist die Anzahl der dort Teilnehmenden eher überschaubar, aber einige der geplanten neuen Bestimmungen klingen schon recht drastisch: offenbar sind für diejenigen, die sich zukünftig dem Militärsdienst - also auch dem Alternativdienst - ganz entziehen wollen, Gefängnisstrafen von bis zu drei Jahren vorgesehen. (Tvnet / bnn-news)

Die Slogans der Protestierenden hatten dabei nur teilweise antimilitaristischen Charakter - einige argumentieren, der Krieg in der Ukraine habe gezeigt, dass eine professionelle Armee solche Situationen besser bewältigen könne. Eine Mobilisierung verbessere aber nicht die Wirtschaft, und menschliche Arbeitskraft werde auch anderswo dringend gebraucht. Der Zuspruch von Neuverpflichteten bei der bisherigen lettischen Berufsarmee war in den vergangenen Jahren allerdings nicht so stark gestiegen wie erhofft (NRA).

Zu den Protestierenden gesellt hat sich auch Sergejs Pogorelovs, ein Parteifreund von Ex-Minister Pabriks, der sogar auf dem Portal "Manabalss" Unterschriften gegen die Dienstpflicht sammelt; bisher haben den Aufruf 12.000 Menschen unterzeichnet. Dort wird unter anderem so argumentiert, dass ein "Zwangsdienst" die Freiheit junger Menschen unverhältnismäßig einschränke. 

"Wenn ihr Zeit für die Selbstfindung braucht, geht in die Armee!" so wird Ainars Latkovskis zitiert, ein Parteifreund von Regierungschef Kariņš, Fraktionschef der "Jauna Vienotība" (lsm). Dennoch wurde die notwendige Beschlussfassung im Parlament (Saeima) jetzt überraschend um ein halbes Jahr verschoben - das müsse jetzt die neue Regierung und das neu gewählte Parlament ausarbeiten, heißt es. Der entsprechende Punkt wurde von der Tagesordnung der letzten Kabinettsitzung der alten Legislaturperiode getrichen (delfi). Allein 102 Verbesserungsvorschläge seien bei der zuständigen Parlamentskommission eingegangen.

Zwar betonen die drei Parteien, die gegenwärtig über die Regierungsbildung verhandeln, das Thema stehe ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Aber zumindest das Jahr 2023 könnte bis zu einer endgültigen Beschlussfassung noch vergehen (lsm), schätzen einige. Es seien noch einige Unklarheiten zu beseitigen, erläuterte Ineta Piļāne, Stellvertreterin des "Ombusmannes" (Tiesībsargs) des lettischen Parlaments für juristische Fragen. Es sei zum Beispiel noch völlig unklar, wie der "Alternativdienst" (Zivildienst) ausgestaltet und wie er organisiert werden soll. Ausserdem sei auch die Frage noch einmal genauer zu betrachten, warum der verpflichtende Wehrdienst nur für Männer gelten solle. (baltics.news / lsm)

Noch ist über die Postenverteilung in der neuen Regierung nicht entschieden. Als eine der möglichen Varianten wird die Rückkehr von Ex-Verteidigungsminister Raimonds Bergmanis auf diesen Posten genannt. Bergmanis, bisher Mitglied bei der Lettischen Grünen Partei, hat sich inzwischen (ebenso wie die Grüne Partei) der "Vereinigten Liste" (Apvienotais saraksts) angeschlossen, die Teil der neuen Regierungskoalition sein wird. Dort ist folgender Satz im Parteiprogramm zu finden: "Es ist Zeit für die allgemeine Mobilisierung". 

An anderer Stelle ist derweil nachzulesen, wie ein Fitnesstest für Jugendliche aussehen könnte, der einer Einberufung vorgeschaltet sein könnte: Minimum 33 Liegestütze, 43 "Sit-ups", und ein 3000-m-Lauf unter 14,29 Minuten. (jauns)

2. Oktober 2022

Geschüttelt, nicht gerührt

Wieder einmal hat eine Wahl die Hierarchie der lettischen Parteienlandschaft kräftig durcheinandergeschüttelt. Noch ist unklar, mit wem der Wahlsieger und amtierende Ministerpräsident Krišjānis Kariņš die nächste Regierung bilden kann - die Analysen versuchen das "Schüttelresultat" zu sortieren. Aussenminister Rinkēvičš gab den Beschluss des Parteivorstands der "Jauna Vienotība" bekannt, niemanden für ein Ministeramt zu nominieren, der oder die nicht auch erfolgreich ins Parlament gewählt worden sei (jauns.lv)

Die nach Prozentzahlen zweitstärkste Liste der "Bauern und Grünen" ist also nunmehr eine Liste nur noch von "Bauern, die sich grün nennen, und unterstützt von traditionell eingestellten Sozialdemokraten" - ein Stück echte lettische Farbenlehre. Mit einem Finanzier im Hintergrund, der inzwischen gerichtlich verurteilt ist, und ehemals als einer der "Oligarchen lettischen Formats" galt (Aivars Lembergs). 
Die Partei hält ihm die Treue (oder seinem Geld?), und versucht auch mit der Beibehaltung des Kürzels ZZS Kontinuität anzudeuten. Ihre Hochburgen befinden sich vor allem in Landgemeinden, die eher in Lettlands Peripherie liegen, und natürlich in Ventspils (die Stadt die Lembergs lange unter Kontrolle hatte). Stärke der Partei ist sicher ein in jahrelanger Arbeit aufgebautes gutes Netzwerk, vor allem außerhalb Rigas. Nach Koalitionsmöglichkeiten mit der ZZS gefragt, antworten viele andere Parteien: "Solange sie an Lembergs festhalten ... nicht." Lembergs selbst meint dazu: "Nur keine Eile! Ich entscheide selbst, wann ich zum politischen Grabhügel gehe." (xtv.lv)

AP-Spitzenkandidat Artis Pabriks, der im Wahlkampf als bisheriger Verteidigungminister vor allem mit dem Versuch der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht auffiel, begründet den Absturz seiner Partei "Attīstībai/Par!" mit den vielen Projekten, an denen man zwar erfolgreich gearbeitet habe, mit denen man in Lettland aber, nach Einschätzung von Pabriks, offenbar zur "Avantgarde" zähle. Konkret führt er den Abschluß der Regionalreform mit häufig völlig neuem Zuschnitt von Gemeinden und Bezirken ebenso an wie ein Gesetzentwurf zur Verbesserung der Lage gleichgeschlechtlicher Paare, die Einführung eines Flaschenpfands, und auch "Kommunikationsfehler" bei der Bewältigung der Covid-19-Krise (seine Partei stellte auch den Gesundheitsminister). Als am Schluß der Stimmauszählung das Ergebnis der AP sogar unter 5% sinkt, verkündet Pabriks: "Meine Zeit in führenden Positionen der Politik ist vorbei." (LA)

"Saskaņa" (deutsch meist als "Harmonie" übersetzt) hat selbst in bisherigen Hochburgen wie Daugavpils, wo sie mit Andrejs Elksniņš den Bürgermeister stellen, einen Absturz von bisher 35,73% auf 16,89% der Stimmen erlebt. Elksniņš war zuletzt dadurch in die Schlagzeilen gekommen, dass er sowohl beim Hissen einer Ukraine-Flagge am Rathaus sehr zögerlich war, wie auch beim Benennen von Sowjetdenkmälern in seiner Stadt, die für einen Abriss vorgesehen wären. Außerdem hatte sich "Saskaņa" gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht ausgesprochen und den Bau eines LNG-Terminals in Skulte in Frage gestellt.

Den Platz der "Saskaņa" übernimmt nun teilweise die Partei "für Stabilität" ("Stabilitātei"), die zum Beispiel in Daugavpils 26,01% der Stimmen erreichte. (apollo.lv) Parteichef Aleksejs Rosļikovs wird von manchen als Vertreter einer neuen Generation eingeschätzt, die nun die Interessen der Russischsprachigen in Lettland versucht anders zu definieren. "Stabilität" heißt für diese Partei, Lettlands Mitgliedschaft in der EU auf den Prüfstand zu stellen, evtl. sogar Staatsschulden nicht zurückzahlen zu wollen, das Wahlrecht auch für Menschen ohne lettische Staatsbürgerschaft einzuführen, und gleichzeitig auch diejenigen strafrechtlich zu belangen, die "durch Covid-Maßnahmen Menschen ausgrenzen, ihnen Einkommen entziehen und Impfungen erzwingen". "Stabilitāte" bezeichnet außerdem die möglichen Konkurrenten der "Saskana" und "Latvijas Krievu savienība" als "fiktive Opposition" - und traf damit offenbar den Nerv der potentiellen Wählerschaft, denn beide Konkurrenten sind nun außen vor. "Die Wahlresultate zeugen von einer gewissen Desorientierung unter der russischsprachigen Wählerschaft in Lettland", meint der Politologe Juris Rozenvalds (LA)

Ein ganz besonderer Fall ist noch Mairis Briedis. Der Profiboxer und ehemalige Weltmeister, noch im Juli 2022 im Boxring aktiv (Boxen1), kandidierte überraschend für "Saskaņa" - die nun krachend durchfiel. Briedis neueste Aussage, vielleicht geübt darin wie man Schlagzeilen macht, klingt nun so: "Je nachdem wie die Wahlergebnisse ausfallen werden ich sehen, ob ich in Lettland bleibe. Ich bin kein Masochist". (Latvijas Avize)

Dann gibts noch zwei Neue im Parlament. Zum einen sind das die "Progressiven", bereits die dritte Partei in Lettland, die mit dem Etikett "sozialdemokratisch" in Verbindung gebracht wird - diesmal aber weder als Rainis-Nachfolger noch Moskau-freundlich. Gelegentlich werden sie auch die "wahren Grünen Lettlands" genannt, weil ihr Wahlprogramm demjenigen von Grünen Parteien in Westeuropa sehr viel mehr ähnelt als das bei den lettischen "Grünen" der Fall ist. Sie selbst zitieren häufig Beispiele aus Schweden oder Dänemark, orientieren sich also am "skandinavischen Modell". Immerhin haben sie es schon im Stadtrat von Riga zum Mitregieren geschafft, nun folgt der Einzug ins lettische Parlament. Spitzenkandidat Kaspars Briškens betont außerdem die Finanzierung der Partei aus eigenen Mitteln - man sei nicht abhängig von irgendwelchen fragwürdigen Geldgebern (IR). 

Wirklich "neu" ist Ainārs Šlesers nicht. 2010 veranlasste der damalige Präsident Valdis Zatlers ein Referendum zur Entlassung des Parlaments, weil dieses sich weigerte die Immunität eines Abgeordneten aufzuheben, welcher der Korruption angeklagt war. Dieser Abgeordnete war Ainārs Šlesers. Noch heute gilt er als "Oligarch", ist allerdings im Gegensatz zu Lembergs noch von keinem Gericht verurteilt worden. Wie groß das heutige Privatvermögen des durch lettisch-norwegische Geschäftsverbindungen reich gewordene Šlesers ist, gilt als schwer abschätzbar. Seit 2010 war der auch mal als "Bulldozer" bezeichnete Geschäftsmann an verschiedenen anderen Parteien beteiligt, immer als "Führungsfigur" ("Šlesera Reformu partija", "Vienoti Latvijai", u.a.). Nun also "Lettland zuerst" - ("Latvija pirmajā vietā" - wörtlich übersetzt: "Lettland an erster Stelle"), mit deutlichen Bezug auf den Ex-US-Präsidenten und ganz ähnlicher Strategie, sich in der virtuellen Welt des Internet eine eigene Realität zu schaffen (Wahlinfos finden sich fast ausschließlich nur auf Facebook, Instagram und Tiktok). Noch dazu steht Šlesers religiösen Vereinigungen nahe, die in Deutschland wahrscheinlich als "Sekten" bezeichnet würden; immer mit deutlichem Bezug auf Werte einer "traditionellen Familie" (Šlesers hat fünf Kinder, auch sein Sohn Ričards ist inzwischen Parteiaktivist und Kandidat).

Journalisten des "Baltijas pētnieciskās žurnālistikas centrs" (Zentrum für investigativen Journalismus "Re:baltica") bezeichneten die von Šlesers vertretenen Gruppierungen als "Quelle der Desinformation in Lettland". Impfgegner und Verschwörungstheoretiker finden hier also leicht Gleichgesinnte. Wer auch immer als Vertreter dieser Partei in der Berichterstattung der Wahlnacht vor ein Mikrofon kam, wurde nicht müde sich laut über die allgemeine Benachteiligng durch die "Herrschaftsmedien" zu beklagen - schließlich will man "das Volk vor dem Bankrott und dem Kariņš-Levits-Regime" retten, so der Wahlslogan. 

Da kann man nur sagen: viel Spaß all denen, die sich in Koaltionsverhandlungen einigen müssen. Und: kein Spaß für deutschsprachige Journalisten. "Von den Parteien, die die russischstämmige Minderheit im Land vertreten, konnte keine einen Sitz im neuen Parlament erringen" (20Uhr-Tagesschau der ARD am 2.10. - da wird "Stabilitāte" aber sicher protestieren!). Aus ähnlichem Grund krass daneben liegt auch die "Welt" mit einer Schlagzeile wie dieser: "Kremlfreundliche Partei verpasst Einzug in lettisches Parlament". Andere deutsche Journalisten sprechen / schreiben nach wie vor von einer "Liste der Grünen und Bauern" - was ja nun auch nicht mehr so ganz stimmt.

Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 60% und war damit so hoch wie seit Jahren nicht mehr (2010 waren es 63,12%). Als besondere Vorkommnisse werden noch gemeldet, dass außer einem lettischen Pass und zwei ID-Karten, die in Wahlurnen aufgefunden wurden, sich zwischen den Wahlzetteln auch ein Brief an die Leiterin des lettischen Wahlamts Kristīne Bērziņa befunden habe; dieser wurde ihr auch übergeben, heißt es. 

Mehr Details zu den Wahlergebnissen siehe Lettisches Wahlamt