Die nach Prozentzahlen zweitstärkste Liste der "Bauern und Grünen" ist also nunmehr eine Liste nur noch von "Bauern, die sich grün nennen, und unterstützt von traditionell eingestellten Sozialdemokraten" - ein Stück echte lettische Farbenlehre. Mit einem Finanzier im Hintergrund, der inzwischen gerichtlich verurteilt ist, und ehemals als einer der "Oligarchen lettischen Formats" galt (Aivars Lembergs).
AP-Spitzenkandidat Artis Pabriks, der im Wahlkampf als bisheriger Verteidigungminister vor allem mit dem Versuch der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht auffiel, begründet den Absturz seiner Partei "Attīstībai/Par!" mit den vielen Projekten, an denen man zwar erfolgreich gearbeitet habe, mit denen man in Lettland aber, nach Einschätzung von Pabriks, offenbar zur "Avantgarde" zähle. Konkret führt er den Abschluß der Regionalreform mit häufig völlig neuem Zuschnitt von Gemeinden und Bezirken ebenso an wie ein Gesetzentwurf zur Verbesserung der Lage gleichgeschlechtlicher Paare, die Einführung eines Flaschenpfands, und auch "Kommunikationsfehler" bei der Bewältigung der Covid-19-Krise (seine Partei stellte auch den Gesundheitsminister). Als am Schluß der Stimmauszählung das Ergebnis der AP sogar unter 5% sinkt, verkündet Pabriks: "Meine Zeit in führenden Positionen der Politik ist vorbei." (LA)
"Saskaņa" (deutsch meist als "Harmonie" übersetzt) hat selbst in bisherigen Hochburgen wie Daugavpils, wo sie mit Andrejs Elksniņš den Bürgermeister stellen, einen Absturz von bisher 35,73% auf 16,89% der Stimmen erlebt. Elksniņš war zuletzt dadurch in die Schlagzeilen gekommen, dass er sowohl beim Hissen einer Ukraine-Flagge am Rathaus sehr zögerlich war, wie auch beim Benennen von Sowjetdenkmälern in seiner Stadt, die für einen Abriss vorgesehen wären. Außerdem hatte sich "Saskaņa" gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht ausgesprochen und den Bau eines LNG-Terminals in Skulte in Frage gestellt.
Den Platz der "Saskaņa" übernimmt nun teilweise die Partei "für Stabilität" ("Stabilitātei"), die zum Beispiel in Daugavpils 26,01% der Stimmen erreichte. (apollo.lv) Parteichef Aleksejs Rosļikovs wird von manchen als Vertreter einer neuen Generation eingeschätzt, die nun die Interessen der Russischsprachigen in Lettland versucht anders zu definieren. "Stabilität" heißt für diese Partei, Lettlands Mitgliedschaft in der EU auf den Prüfstand zu stellen, evtl. sogar Staatsschulden nicht zurückzahlen zu wollen, das Wahlrecht auch für Menschen ohne lettische Staatsbürgerschaft einzuführen, und gleichzeitig auch diejenigen strafrechtlich zu belangen, die "durch Covid-Maßnahmen Menschen ausgrenzen, ihnen Einkommen entziehen und Impfungen erzwingen". "Stabilitāte" bezeichnet außerdem die möglichen Konkurrenten der "Saskana" und "Latvijas Krievu savienība" als "fiktive Opposition" - und traf damit offenbar den Nerv der potentiellen Wählerschaft, denn beide Konkurrenten sind nun außen vor. "Die Wahlresultate zeugen von einer gewissen Desorientierung unter der russischsprachigen Wählerschaft in Lettland", meint der Politologe Juris Rozenvalds (LA)
Ein ganz besonderer Fall ist noch Mairis Briedis. Der Profiboxer und ehemalige Weltmeister, noch im Juli 2022 im Boxring aktiv (Boxen1), kandidierte überraschend für "Saskaņa" - die nun krachend durchfiel. Briedis neueste Aussage, vielleicht geübt darin wie man Schlagzeilen macht, klingt nun so: "Je nachdem wie die Wahlergebnisse ausfallen werden ich sehen, ob ich in Lettland bleibe. Ich bin kein Masochist". (Latvijas Avize)
Dann gibts noch zwei Neue im Parlament. Zum einen sind das die "Progressiven", bereits die dritte Partei in Lettland, die mit dem Etikett "sozialdemokratisch" in Verbindung gebracht wird - diesmal aber weder als Rainis-Nachfolger noch Moskau-freundlich. Gelegentlich werden sie auch die "wahren Grünen Lettlands" genannt, weil ihr Wahlprogramm demjenigen von Grünen Parteien in Westeuropa sehr viel mehr ähnelt als das bei den lettischen "Grünen" der Fall ist. Sie selbst zitieren häufig Beispiele aus Schweden oder Dänemark, orientieren sich also am "skandinavischen Modell". Immerhin haben sie es schon im Stadtrat von Riga zum Mitregieren geschafft, nun folgt der Einzug ins lettische Parlament. Spitzenkandidat Kaspars Briškens betont außerdem die Finanzierung der Partei aus eigenen Mitteln - man sei nicht abhängig von irgendwelchen fragwürdigen Geldgebern (IR).
Wirklich "neu" ist Ainārs Šlesers nicht. 2010 veranlasste der damalige Präsident Valdis Zatlers ein Referendum zur Entlassung des Parlaments, weil dieses sich weigerte die Immunität eines Abgeordneten aufzuheben, welcher der Korruption angeklagt war. Dieser Abgeordnete war Ainārs Šlesers. Noch heute gilt er als "Oligarch", ist allerdings im Gegensatz zu Lembergs noch von keinem Gericht verurteilt worden. Wie groß das heutige Privatvermögen des durch lettisch-norwegische Geschäftsverbindungen reich gewordene Šlesers ist, gilt als schwer abschätzbar. Seit 2010 war der auch mal als "Bulldozer" bezeichnete Geschäftsmann an verschiedenen anderen Parteien beteiligt, immer als "Führungsfigur" ("Šlesera Reformu partija", "Vienoti Latvijai", u.a.). Nun also "Lettland zuerst" - ("Latvija pirmajā vietā" - wörtlich übersetzt: "Lettland an erster Stelle"), mit deutlichen Bezug auf den Ex-US-Präsidenten und ganz ähnlicher Strategie, sich in der virtuellen Welt des Internet eine eigene Realität zu schaffen (Wahlinfos finden sich fast ausschließlich nur auf Facebook, Instagram und Tiktok). Noch dazu steht Šlesers religiösen Vereinigungen nahe, die in Deutschland wahrscheinlich als "Sekten" bezeichnet würden; immer mit deutlichem Bezug auf Werte einer "traditionellen Familie" (Šlesers hat fünf Kinder, auch sein Sohn Ričards ist inzwischen Parteiaktivist und Kandidat).Journalisten des "Baltijas pētnieciskās žurnālistikas centrs" (Zentrum für investigativen Journalismus "Re:baltica") bezeichneten die von Šlesers vertretenen Gruppierungen als "Quelle der Desinformation in Lettland". Impfgegner und Verschwörungstheoretiker finden hier also leicht Gleichgesinnte. Wer auch immer als Vertreter dieser Partei in der Berichterstattung der Wahlnacht vor ein Mikrofon kam, wurde nicht müde sich laut über die allgemeine Benachteiligng durch die "Herrschaftsmedien" zu beklagen - schließlich will man "das Volk vor dem Bankrott und dem Kariņš-Levits-Regime" retten, so der Wahlslogan.
Da kann man nur sagen: viel Spaß all denen, die sich in Koaltionsverhandlungen einigen müssen. Und: kein Spaß für deutschsprachige Journalisten. "Von den Parteien, die die russischstämmige Minderheit im Land vertreten, konnte keine einen Sitz im neuen Parlament erringen" (20Uhr-Tagesschau der ARD am 2.10. - da wird "Stabilitāte" aber sicher protestieren!). Aus ähnlichem Grund krass daneben liegt auch die "Welt" mit einer Schlagzeile wie dieser: "Kremlfreundliche Partei verpasst Einzug in lettisches Parlament". Andere deutsche Journalisten sprechen / schreiben nach wie vor von einer "Liste der Grünen und Bauern" - was ja nun auch nicht mehr so ganz stimmt.
Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 60% und war damit so hoch wie seit Jahren nicht mehr (2010 waren es 63,12%). Als besondere Vorkommnisse werden noch gemeldet, dass außer einem lettischen Pass und zwei ID-Karten, die in Wahlurnen aufgefunden wurden, sich zwischen den Wahlzetteln auch ein Brief an die Leiterin des lettischen Wahlamts Kristīne Bērziņa befunden habe; dieser wurde ihr auch übergeben, heißt es.
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