28. Dezember 2011

Lettlands verworrene Wirtschaft

Daß Lettland politisch nicht zur Ruhe kommt, wurde in den vergangenen Monaten mehrfach berichtet. Dabei ist der Bevölkerung im Alltag nicht unbedingt bewußt, welche Schwierigkeiten, mit denen der Einzelne konfrontiert wird, auf welche politischen Versäumnisse zurückzuführen sind. Jüngst machten jedoch konkretere Probleme Schlagzeilen.
Mitte Dezember 2011 waren plötzlich die Schlangen vor den Geldautomaten der schwedischen Swedbank lang. Es hatte sich per SMS das Gerücht verbreitet, die Bank habe Zahlungsschwierigkeiten, was den Run auf die Geräte auslöste und in kurzer Zeit zu Versorgungsengpässen mit Bargeld führte. Zahlreiche Automaten besonders an frequentierten Orten waren leer.
Daß eines der großen schwedischen Geldhäuser tatsächlich in Turbulenzen ist, mag der Verbraucher je nach Kenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge für mehr oder weniger wahrscheinlich halten. Im Baltikum und vor allem in Lettland kann die Reaktion auf das Gerücht nur vor dem Hintergrund der jüngeren Vergangenheit verstanden werden. 1995 brach die Banka Baltija zusammen, wo viele Menschen ihr Geld verloren. 2008 wurde die Parex Bank über ein Wochenende handstreichartig verstaatlicht, nachdem es in Folge der Turbulenzen der Finanzkrise zum Abzug vieler Einlagen gekommen war. Und erst kurz vor dem Gerücht über die Swedbank, hatte die Sparkasse Lettlands (Latvijas Krājbanka) ihre Auszahlungen rationiert und schließlich eingestellt.
Die Ursachen waren verschieden. Die Banka Baltija hatte in den 90ern das Geschäftsmodell der Pyramide umzusetzen versucht, welches auch als Schneeballsystem bekannt ist und viele aus der Jugend von Kettenbriefen her kennen. Bereits damals hätte eine effektive Bankenaufsicht den Krach verhindern können. Doch die Politik verfolgte den Versuch, Lettland zu einem Bankenplatz zu entwickeln. Der Chef der Bank, der russische Jude Alexander Lavents, verschleppte später in den Prozeß durch zahlreiche Krankmeldungen, während ein Untersuchungsausschuß des Parlamentes auch nur wenig Licht in die Angelegenheit der verschwundenen 3 Millionen Lat von Latvenergo bringen konnte. Dieser Skandal schloß sich an den Zusammenbruch der Bank durch deren Liquidation an. Bis heute ist unklar, was damals wirklich geschah.
Die Bedeutung der Parex Bank bestand lange Zeit darin, daß sie als einziges größeres Institut ein urlettisches Unternehmen und keine Tochter ausländischer Geldhäuser war. Gemeinsam mit der Sparkasse genoß sie daher das Privileg, die Konten zahlreicher Behörden und staatlicher Einrichtungen zu führen. Die beiden Chefs, die ebenfalls russischen Juden Walerie Kargin und Wladimir Krasovitsky, hatten nach der Unabhängigkeit 1991 mit einer Wechselstuben-Konzession begonnen. Der Untergang dieses Hauses ist sicher einerseits externen Faktoren im Rahmen der weltweiten Finanzkrise geschuldet. Daß aber die Regierungen in den Jahren nach dem Beitritt zur Europäischen Union der einheimischen Spekulationsblase im Immobiliensektor genauso wenig entgegenwirkte wie dem Boom der privaten Kredite, war eindeutig ein hausgemachtes Problem. Die Bank wurde unter dem Namen Citadele nach Auslagerung einer Bad Bank neu gegründet.
Es sei nebenbei erwähnt, daß die ethnische Identität der genannten Banker in der Bevölkerung bereits existierende entsprechende Ressentiments nicht geschmälert hat.
Daß im Herbst 2011 nun auch die Sparkasse in Schwierigkeiten geriet, war allerdings vorwiegend ein importiertes Problem, zurückzuführen auf einen der wichtigsten Anteilseigner, die litauische Snoras Bank, die wiederum dem Russen Wladimir Antonov mit mehr als zwei Dritteln und dem Litauer Raimondas Baranauskas als Hauptanteilseigner gehört. Ersterer war zwischenzeitlich auch als potentieller Retter des angeschlagenen schwedischen Automobilherstellers Saab in Erscheinung getreten. Beiden wurde in Litauen Bilanzfälschung vorgeworfen, die Bank handstreichartig verstaatlicht. Die Krise dieses Geldhauses, aus der die beiden Eigentümer viel Geld abgezogen hatten, so der Vorwurf, führte über die damit verbundenen Probleme der Sparkasse in Lettland zu internationalen Verwicklungen zwischen den Regierungen: Wer ist für was verantwortlich, reagiert wie und wer soll angesichts knapper Kassen für Garantiesummen aufkommen? Bei denen über die europäisch üblichen Summen von 100.000 Euro in Lettland 100.000 Lat im Gespräch waren.
Das alles führte zu einem Kuddelmuddel: Anfangs durfte jeder Kontoinhaber bei der Sparkasse nur noch 50 Lat pro Tag abheben mit der Folge langer Schlangen vor den Geldautomaten. Später beauftragte der Staat die aus der gestrauchelten Parex Bank entstandene Citadele mit der Auszahlung. Diese wiederum Anmeldungen verlangte von den Kunden der Sparkasse, sich im Internet oder wenigstens telefonisch anzumelden, damit es keine Schlangen vor ihren Filialen gäbe. Doch auch das führte zu Problemen, da die Citadele nicht in allen kleineren und größeren Orten über Filialen oder auch nur Geldautomaten verfügt, nicht einmal etwa in der Kreisstadt Kuldīga, deren Bürgermeisterin über die Bereitstellung von Bussen nach Saldus nachdachte. Da bei der Sparkasse viele öffentliche Institutionen Konten führten, gerieten Hochschulen wie auch der öffentliche Nahverkehr in Riga in Liquiditätsprobleme, anstehende Gehälter und Sozialabgaben zu überweisen.
In den Sog dieser Schwierigkeiten geriet außerdem auch die lettische Fluglinie air baltic. Im Herbst mußten verschiedene Flüge gestrichen werden, weil die Finanztransaktionen nicht mehr reibungslos abgewickelt werden konnten. Dies war zwar nicht direkt verbunden mit den diversen Schlagzeilen rund um die air baltic in den Monaten und Jahren zuvor, wurde aber selbstverständlich vor diesem Hintergrund gesehen. Chef der Fluggesellschaft war seit langer Zeit der deutsche Bertold Flick, ein Sproß aus jener Industriellenfamilie, die vielen Deutschen noch aus dem Parteienfinanzierungsskandal der 80er Jahre bekannt sein dürfte. Flick war Mitte der 90er Jahre als Berater bei der Gründung der Airline nach Lettland gekommen, um 2002 zu ihrem Vorstandschef zu avancieren. Dieser Zeitraum fällt zusammen mit der Amtszeit des umtriebigen langjährigen Verkehrsminister Ainārs Šlesers, der Riga zu einem großen Luftkreuz ausbauen wollte, was fraglos in Teilen wenigstens für den baltischen Raum gelungen ist.
Flick war im Laufe der Jahre gewiß ebenfalls sehr umtriebig, hatte neben der Fluggesellschaft mit Logo in der gleichen hellgrünen Farbe unter Verwendung des Begriffes baltic ein Taxiunternehmen gegründet, was zunächst auf heftigen Widerstand der Konkurrenz stieß, und jüngst auch überall in der Stadt Riga Fahrradständer mit ausleihbaren Fahrrädern installiert. In diesem Zusammenhang war es zu einem Konflikt mit der Regierung über das Logo gekommen. Die halbstaatliche Fluglinie air baltic hatte unter Flicks Führung das Logo zeitweilig an die Flick gehörende Firma Baltijas Aviācijas Sistēmas BAS verkauft, die neben dem staatlichen Anteil von über 50% fast die gesamte zweite Hälfte der Anteile an air baltic gehört. Die BAS ihrerseits war erst 2008 an ihre Anteile gelangt, als die skandinavische Fluggesellschaft SAS aus dem Unternehmen aussteigen und Verkehrsminister Šlesers den Anteil für den Staat nicht übernehmen wollte. Die BAS begründete, man habe so der Fluggesellschaft aus einem finanziellen Engpaß geholfen, ein Rückkauf sei jederzeit möglich. Später wurde dann ein Angebot unterbreitet, durch das der Staat seine Aktienmehrheit verloren hätte. Der Verkauf wurde auf politischen Druck schließlich rückabgewickelt.
Daß Berührungspunkte von Wirtschaft und Politik ebenso unumgänglich wie nicht immer einfach sind, ist auch aus anderen Ländern bekannt. Die politischen Turbulenzen in Lettland während der vergangenen zwei Jahrzehnte stehen gewiß in Wechselwirkung mit wirtschaftlichen Interessen, dabei ist nicht immer alles transparent, manches läßt sich nur vermuten. Über die Versäumnisse der lettischen Politik ist viel berichtet worden. Dennoch, im Dezember verabschiedete das Parlament beinahe 20 Jahre später als die Nachbarrepubliken das System einer Steuerklärung. Ein folgender Rechtsstreit mit dem Flughafen Riga unter anderem wegen der Konditionen für den Billigflieger Ryanair führten schließlich zu einem Kompromiß, der mit dem Rücktritt Flicks endete.

21. Dezember 2011

Lettlands Sportler des Jahres 2011

Per Internet wird in Lettland über die beliebtesten Sportlerinnen und Sportler des Jahres abgestimmt, und zuständig dafür ist das Lettische Olympische Komittee. Heute wurden die Preisträger des Jahres 2011 bekannt gegeben.
Das Besondere an der Abstimmung: erstens, dass es völlig den im Internet relativ anonymen Fan-Gruppen überlassen bleibt, wer gewinnt. Zweitens ist die Abstimmung nicht nach Frauen und Männern getrennt. So sind denn auch 9 von 10 besten Sportlern auch Männer - die Gewinnerin aber ist eine Frau.

Die Weitspringerin Ineta Radeviča - Europas Beste 2010, und bei der WM im südkoreanischen Daegu 2011 Bronzemedaillengewinnerin - genießt also in Lettland momentan die größte Beliebtheit. Mit ganzen 35 Stimmen Vorsprung vor dem Radrennsportler Gatis Smukulis entschied also Radeviča die Abstimmung für sich - vielleicht liegt es auch ein wenig daran, dass sie mit dem russischen Eishockeysportler Petr Schastlivy verheiratet ist und Radeviča vielleicht über diesen "Umweg" auch russischsprachige Fans eher begeistern kann? Zuletzt wurden ja in Lettland die Regeln für offiziell zulässige und verordnete Staatssprachen viel diskutiert - hier sind beide Sprachen ganz selbstverständlich, auch im professionellen Umgang (siehe auch früherer Blogbeitrag)
Dritter wurde Martins Dukurs, einer der weltbesten Skeletoni in den Eisbahnen der Welt, gegenwärtig Weltcup-Dauersieger (momentan schon 9 Siege in Folge).
Hier das Zwischenergebnis der
Sportlerwahl, veröffentlicht am 6.12.11
Offenbar wurde hier auch versucht, die Mobilisierungsmöglichkeiten des Internets zu beobachten. Während der Zeit der Abstimmung wurden auch Zwischenergebnisse veröffentlicht, und so zeigt sich dass Radeviča besonders im Endspurt stark war. Speerwerfer Zigismund Sirmais fiel noch auf den vierten Platz zurück, und Dukurs kam zu Gute dass die neue Wintersportsaison gerade begonnen hatte.
Ein Blick auf die Liste der Sportstars gibt auch Aufschluß zu beliebten Sportarten: Leichtathletik (zweimal), Radsport (-rennen und BMX), Eishockey, Motokross, Skeleton - und sogar Fußball.

Stichwort Fußball: Interessant einerseits, dass überhaupt Fußballspieler in Lettland unter den beliebtesten Sportlern genannt werden, andererseits der 23-jährige Nachwuchsspieler Artjoms Rudņevs (spielt gegenwärtig bei Lech Posen, ist im der lettischen Nationalteam erst wenige Male zum Einsatz gekommen, schoß dort auch erst ein einziges Tor).
Torwartlegende Oliver Reck testete in Duisburg
lettischen Torriecher
Ist die lettische Sportlerwahl also doch relativ zufallsbestimmt? Ist es Zufall, dass am Tag der Ergebnisbekanntgabe auch UEFA eine Liste der europaweit besten Torschützen im Fußball bekannt gibt, und sich darunter erstaunlicherweise ein Lette befindet? Ganze 46 Tore schoss Aleksandrs Čekulajevs im Laufe des Jahres! (nachzulesen bei Sport.de) So rangiert Čekulajevs in dieser Wertung auch vor deutschen Stars wie Gomez oder Podolski, obwohl seine Trefferzahl als geringerwertig eingestuft wird, da er "nur" in der estnischen Liga bei JK Trans Narwa spielt. "Tranfermarkt.de" schätzt den Marktwert des Letten-Kickers auf inzwischen immerhin 500.000 Euro. Beim deutschen Zweitligisten MSV Duisburg soll Čekulajevs - der sich kurzzeitig im Zusammenhang mit Barcelonas Ronaldo genannt sehen darf (UEFA) - kürzlich (die Saison in Estland ist bereits beendet) ein Probetraining absolviert haben. Fehlen eigentlich nur noch lettische Fans, die Aleksandrs dann auch mal bei der Sportlerwahl zu höheren Ehren daheim bringen (Bericht Sportacentrs).

Und noch zweimal Nachruf zum Schluß. Ebenfalls zum lettischen Sportjahr gehört das Gedenken an Verstorbene. Bereits am 13.Februar 2011 war Inese Jaunzeme verstorben, legendäre erste Lettin die eine olympische Goldmedaille gewann - in Melbourne 1965, im Speerwurf.

Zusatz: Am 22.Dezember wählte dann doch eine "Expertenjury" die Sportler des Jahres aus, und nicht die mühsam befragten 20.000 Internetuser. Ineta Radeviča wurde als Sportlerin, und Martins Dukurs zum Sportler des Jahres 2011 benannt (komplette Liste aller Auszeichnungen).

4. Dezember 2011

Winterpläne: demnächst weniger Sommer

Sollten ähnliche Bilder bald der Vergangenheit
angehören? Große Party zum Schulanfang,
immer zum 1.September
Vielleicht waren bisher manche Deutsche, die aus dem Urlaub die "langen Sommerferien" im Norden Europas kennen, neidisch. Auch in Lettland ist es in der Regel so: das Schuljahr endet früh im Juni und beginnt einheitlich am 1.September. Dann ist Platz für sonnige Kindersommerlager in leerstehenden Schulen, und für Lehrerinnen und Lehrer Zeit genug für die wichtigen Zusatzjobs im Tourismus.
Nun aber rührt der neue Minister für Bildung und Wissenschaft, Roberts Ķīlis, an diesen lieb gewordenen Gewohnheiten. Ķīlis, Philosoph und Anthropologe, Co-Autor einiger strategischer Studien zu lettischen Zukunftsthemen und bisher als Ökonomieprofessor an der "Stockholm School for Economics" in Riga tätig, kam als Parteiloser in sein neues Amt, gefördert von Ex-Präsident und Parlamentsauflöser Valdis Zatlers. Nun wird er zeigen müssen, ob er Strategien und Theorien auch in die Praxis umsetzen kann.

Zwischen 181 und 184 Schultagen absolvieren Schülerinnen und Schüler, im internationalen Vergleich gesehen, so doziert es Minister Ķīlis es seinen Landsleuten - in Lettland kommen die Eleven mit 169 Tagen davon. Daher müsse das lettische Schuljahr spätestens ab 2013/14 bereits im August beginnen und bis Mittsommer - also der letzten Juniwoche - verlängert werden, so der ministeriale Vorschlag. Und auch über das Einschulungsalter denkt der Minister nach: bisher kommen lettische Kinder mit 7 Jahren in die Grundschule, zukünftig könnte das schon ein Jahr früher der Fall sein. An einem entsprechenden Pilotprojekt nehmen schon heute 22 Schulen teil, und die Kinder lernen offenbar dort auch schon mit 6 Jahren zufriedenstellend.

Bei den Eltern stoßen die Reformpläne offenbar teilweise auf Zustimmung - anders bei den Lehrkräften. "Wenn das Schuljahr verlängert wird, nehme ich meinen Hut und gehe!" - mit dieser Aussage ließen sich einige in der Tageszeitugen DIENA zitieren. Weiterhin wenden die Pädagogen ein: "Wenn schon Verlängerung, dann nur in eine Richtung" (also entweder früher anfangen, oder später aufhören). Da wirken offenbar noch die teilweise kräftigen Lohnkürzungen nach, die 2009/2010 von der Regierung verordnet und kurzfristig durchgesetzt wurden. Wer als Lehrer/in weder von seinem Lohn leben kann, noch (als engagierter Pädagoge) mit der Arbeit fertig wird, wird sicher zu wenig Geduld gegenüber ministerialen Plänen neigen. "Lehrer werden wegen der langen Ferien" bedeutet hier oft, in die Praxis übersetzt, Zeit für andere Jobs zu haben. Und für Schüler/innen in Examensklassen sei es auch heute schon üblich, "līdz Jāņiem" (bis Mittsommer) in die Schule zu gehen.

Die Bildungsreform ist in Lettland eines der heiß diskutiertesten, immer wieder auf die lange Bank geschobenen, und gleichzeitig eher ohne große Schlagzeilen öffentlich vermitttelten Themen. In Zeiten, wo im internationalen Austausch oft einfach nur nach den PISA-Ergebnissen gefragt wird, ist es offenbar schwierig konkrete Details unter den ökonomisch immer noch schwierigen Rahmenbedingungen durchzusetzen.

Lehrerinnen und Lehrer arbeiten in Lettland oft in "Schichten": "Wer eine Schicht übernimmt, verdient gerade mal 255 Lat brutto, 181 Lat netto auf die Hand," erläutert Mittelschullehrerin Laila Štāle der DIENA (181 Lat = ca 270 Euro). "Davon kann keiner leben, und so gibt es Lehrer, die gleich an mehreren Schulen angestellt sind." Der Lehrerberuf sei gesellschaftlich nicht angemessen anerkannt, und wenn es etwas zu kürzen gäbe, dann eben hier. Aber unwidersprochen bleibt, dass auch am Curriculum gearbeitet werden muss. Und auch Zusammenlegungen einiger Schulen bilden ein Diskussionsthema. Immerhin hat Minister Ķīlis zugesagt die Änderungen nur in enger Abstimmung mit den Eltern- wie auch den Lehrervertretern vornehmen zu wollen. Aber eines hat er auch bereits angekündigt: sollte es ihm nicht möglich sein, Reformschritte umzusetzen, sei er auch zum Rücktritt bereit.

28. November 2011

Mein Bankomat und ich

In Lettland setzt sich das Nachdenken darüber fort, welche Folgen der Zusammenbruch der "Latvijas Krājbanka" auf andere Wirtschaftsbereiche haben könnte. Es zeigen sich unterschiedliche Folgen, besonders für viele Privatleute ganz unmittelbar. Wer in diesen vorweihnachtlichen Tagen in Ruhe Geld aus seinem Bankomaten ziehen kann, der kann sich schon glücklich schätzen.

Cash-Problem fürs Fluggeschäft
Da die "Krājbanka" (übersetzt = "Sparbank") auch enge Geschäftsbeziehungen unterhielt mit Anteilseignern bei der Fluggesellschaft "Air Baltic" (Baltijas Aviācijas Sistēmas BAS), könnte dies den Betrieb dieses erst kürzlich umstrukturierten halbstaatlichen Unternehmens (Nachfolger des ehemaligen CEO Berthold Flick wurde Martin Gauss) beeinträchtigen. Es heißt BAS benötige erhebliche Finanzmittel für eine notwendige Kapitalerhöhung. Eine Alternative wäre, wenn der lettische Staat als Hauptaktionär dieses zusätzlich für AirBaltic benötigte Geld selbst einbringt - dem steht die eh schon bestehende Kreditbelastung und der allen Bereichen vorordnete drastische Sparzwang entgegen. Auf eine entsprechende Nachfrage lettischer Journalisten soll Verkehrsminister Ronis geantwortet haben: "Und auch wenn der Gaiziņš zum Vulkan wird, werden wir höchst verantwortungsvoll reagieren." ("IR" 23.11.) Es wird nicht mehr ausgeschlossen, dass sich auch die Zusammensetzung der Anteilseigner demnächst ändern könnte.

Vielleicht sollte man einfach mal
alte Wahlplakate aufhängen, um die
Schnelllebigkeit der öffentlichen Stimmungs-
lagen
zu erinnern: hier ein Poster der
"Saskana" aus dem Herbst 2010:
"Alles wird gut!"
Laufbereitschaft bei Rentnern
Ungefähr 80.000 Menschen in Lettland beziehen Renten oder andere Unterstützungsleistungen über ein Konto bei der "Krājbanka". Diese stellten sich in der vergangenen Woche geduldig in die Warteschlangen an den Bankomaten und hoben ihre täglich erlaubte Höchstsumme von 50 Lat ab. Das dies so verhältnismäßig ruhig abgehen kann setzt voraus, dass die dafür notwendigen Gelder bereitgestellt werden können. Zudem müssen alle diese Betroffenen nun in kurzer Zeit Konten bei anderen Banken eröffnen: so wundert es nicht, dass allein die Swedbank innerhalb von nur zwei Tagen (22./23.11) Zehntausend Neukunden begrüßen durfte. "Es wurde beobachtet, dass die Menschen mit dem Bus aus den Dörfern in die regionalen Zentren fahren, um dort Konten zu eröffnen," so erzählte es Swedbank-Vorstandsmitglied Daniils Ruļovs bei "Delfi.lv".
Interessant auch eine Warnung der lettischen Polizei vor allzu unachtsamem Verhalten beim Bargeld-Abheben ("Gehen Sie lieber zu zweit zum Geldautomat, achten Sie auf ihre Handtaschen").

In den Medien und für die Medien
Es könnten verschiedene Medien in Litauen oder Lettland in Schwierigkeiten geraten, die bisher von Geldern (Geschäftsanteilen) der "Snoras" oder "Krājbanka" abhängig waren; in Litauen "Lietuvas Rytas", in Letttland "Telegraf" und "Radio 101".

Lehren, Studieren, Straßenbahnfahren: mit Hindernissen
Doppelte Probleme für den Rigaer Stadtverkehr:
allein im September wurden 6.000 Fahrgäste ("Hasen")
ohne gültigen Fahrschein erwischt - aber auch die
eingenommenen Gelder scheinen
bei der beauftragten Bank nicht sicher zu sein
Die "Tehnische Universität Riga" (RTU) und die "Universität Lettlands" (LU) haben sich an die lettische Regierung gewandt mit der Bitte eine Zwischenfinanzierung zur Verfügung zu stellen, da bereits eingenommene Studiengebühren sich auf momentan nicht verfübaren "Krājbanka"-Konten befinden würden (Delfi.lv vom 28.11.). 1,9 Millionen Lat müssen wohl der LU und weitere 1,36 Millionen Lat der RTU zur Verfügung gestellt werden (als kurzfristiger Kredit), da sonst dort Löhne und Sozialabgaben nicht gezahlt werden könnten. Hierüber beriet die Regierung heute auf einer Sondersitzung.
Ähnliche Sorgen haben auch verschiedene von einzelnen Gemeinden getragene Unternehmen, unter anderem in Skrunda, Dagda, Ugāle und Priekuli. Die größte Summe, 10 Millionen Lat, soll die Hauptstadt Riga auf "Krājbanka"-Konten liegen haben - nach den Worten von Bürgermeister Ušakovs ein kurzfristige Anlage für 2 Monate. Würde die "Krājbanka" geschlossen, kämen auch die städtischen Verkehrsbetriebe ("Rīgas satiksme") in Schwierigkeiten, denn durch verkaufte Tickets eingenommene 2,3 Millionen Lat sollen über die Pleite-Bank gelaufen sein.

Privates und Geschäftliches
Es ist vorerst unklar, was mit verschiedenen Immobilien geschieht, die sich im Eigentum von "Snoras"_Chef Antonovs befinden: 3 Wohnungen in der Altstadt von Vilnius (Wert zusammen ca. 3 Millionen Litas / 870.000 Euro), eine 600qm-Villa im italienischen Nizza (Wert 5 Mill. Euro), und eine Villa in Jūrmala. Es wurde vermutet, dass dies zusammen mit einer Reihe von Luxusautos (allein verschiedene Spyker, Maybach, Porsche, Mercedes und Cayenne sollen in Riga registriert sein) nicht dem Anspruch von Gläubigern unterliegt, sondern als "persönlicher Bedarf" der Bankeigentümer gerechnet werden wird. So hätte sich dann das Stadtbild gestaltet: die Oma steht am Bankomat für ihre 50 Lat täglich an, andere fahren weiterhin ihre verspiegelten Luxuskarossen durch die Stadt. Das war aber vorerst der lettischen Polizei genug der Schande und stellte am vergangenen Sonntag ganz 14 Luxusautos sicher die dem Ex-Bankeigentümer Antonovs gehören sollen (Bericht DIENA).

Nun schon drei Sägen sieht Ēriks Ošs,
Karikaturist der "Latvijas Avize", am Werk
Uneinigkeit zwischen die beiden baltischen
Nachbarn zu bringen: zu Fragen der Grenzen zur
See und der Energieversorgung kommen nun
noch die Auswirkungen des Bankenbankrotts
Verschwundenes
Wer immer die "Krājbanka" in Zukunft verantwortlich leiten muss, wird daran interessiert sein die angeblich aus der Bilanz verschwundenen Gelder wieder zu bekommen. "Delfi Business" berichtete über Berichte u.a. in der Fernsehsendung "Nekā personīga", wonach bereits im Sommer der Versuch unternommen worden sei, Gelder der "Krājbanka" auf Konten kleinerer, mit Vladimir Antonov in Verbindung stehenden Banken zu überweisen. Leidtragender des Bankenkrachs ist unter anderem der lettische Komponist und Ex-Politiker Raimonds Pauls. 700.000 Lat an Einlagen soll er nach Presseberichten auf "Krājbanka-Konten haben, und nur wenige Tage vor Bekanntwerden der Probleme mit Bankchef Priedītis telefoniert haben um ihn zu fragen, ob seine Geld sicher sei. "Alles vollkommen sicher", soll der Banker geantwortet haben.

Einmal über "Los" gehen ...
Wie beim großen Monopoly dürfen sich ab (morgen, Dienstag 29.11.) alle diejenigen fühlen, die als bisherige "Krājbanka"-Kunden Erstattungsansprüche gegen Bank gelten machen wollen. Die lettische Regierung möchte gern gewährleisten, das alle Einlagen bis zu einer Höhe von 100.000 Lat als abgesichert gelten (und damit ein Erstattungsanspruch besteht). Oder ist es eher eine Aktion, die Menschenschlangen vor den "Krājbanka"-Bankomaten weg zu bekommen? Ausgerechnet der PAREX-Nachfolger "Citadeles Banka" soll nun die Erstattungen auszahlen. Um sie zu erhalten, soll angeblich ein gültiges Paßdokument ausreichen; das Ausfüllen langer Anträge soll den Betroffenen möglichst erspart bleiben. - Heute rudert die "Citadele" schon wieder zurück und verlangt von allen, die Erstattungen erwarten, entweder eine Registrierung über die "Citadele"-Webseite, oder vorheriges Anrufen. Also wird es wieder in Lauferei und Schlangestehen enden. Wer selbst keinen Computer zur privaten Verfügung hat wird aufgerufen eine öffentliche Bibliothek zu besuchen, wo ein Internetzugang möglich sei. Der große Haken dabei: falls in dem Moment, wo der Kunde versucht eine Rückzahlung seiner Einlagen zu vereinbaren, kein Termin mehr frei ist, so kann auch diese Vorab-Reservierung offenbar nicht abgeschlossen werden - ohne konkreten Termin keine Auszahlung. Also gilt doch das Motto: bloß keine Schlangen vor unserer Bank.
Über andere Lösungen denkt gegenwärtig die Gemeindeverwaltung von Kuldiga nach. Da dort die "Citadele"-Bank weder über eine Filiale noch über einen Bankomat verfügt, denkt jetzt die Stadtverwaltung über Hilfen für ehemalige "Krājbanka"-Kunden nach. "Wir erwägen, für ältere Leute oder Menschen mit speziellen Bedürfnissen Busse nach Saldus bereitzustellen", sagte Bürgermeisterin Inga Bērziņa gegenüber der Zeitung DIENA. Auch anderen Gemeinden geht es ähnlich, wie zum Beispiel Jaunpiebalga, wo sich die nächste Citadele-Filiale erst im 25km entfernten Madona befindet.

Übrigens: seit heute morgen sind 35.000 Kundinnen und Kunden des staatlichen Stromversorgers LATVENRGO vorübergehend ohne Strom. Das ist allerdings mal ausnahmsweise nicht dem Bankenkrach zuzuschreiben, sondern sind die Folgen von starkem Sturm und Regen übers vergangene Wochenende. 329 Arbeitsbrigaden mit insgesamt 779 Arbeitern seien ständig im Einsatz um die Schäden zu reparieren, weitere 100 Mitarbeiter seien von Partnerfirmen angefordert worden. Langweilig wird also keinem in Lettland - aber stabil ist wohl doch vorerst nur das Gefühl der Unsicherheit. In diesen Tagen öffnet der Rigaer Weihnachtsmarkt: aber wo für Gäste der Stadt vielleicht romantische Gefühle wachgerufen werden sollen - (vielleicht möchten auch die Werbeagenturen wieder streiten ob nun der Weihnachtsbaum in Estland oder in Lettland erfunden wurde?) - haben viele in Lettland mal wieder ganz andere Sorgen.

25. November 2011

Zwei Banken, und die Herren A + B

Das Stichwort "Bankenkrise" ist in Lettland geeignet, Panik auszulösen. So war es 1995, als die Kunden der "Banka Baltija" zusammenbrechen sahen und viele Guthaben über Nacht "verschwanden". Und so war es 2008, als der lettische Staat mit 200 Mill Lat aufbringen musste, um die staatliche "Hipoteku Banka" bauftragen zu können 51'% der Anteile der "Parex Banka" für einen symbolischen Preis von 2 Lat zu kaufen und damit "Parex" vor dem Zusammenbruch zu retten.
Auch 2008 war es November, als private Sparer bereits über 200 Millionen Lat bei Parex abgehoben hatten, bevor die Regierung sich gezwungen sah einzugreifen. Damals wurden die Ursachen - neben den Auswirkungen der weltweiten Krise - bei ungezügeltem Konsum mit geborgtem Geld und einer Explosion der Immobilienpreise gesehen.
Parex-Werbung, gesehen im Februar 2009:
"Es gibt Dinge, da sind wir die besten"
Und in dieser Woche sind es nun die Auswirkungen der Zwangsverstaatlichung der litauischen Bank "Snoras", deren Auswirkungen auch Lettland erreichen. Den beiden Haupteigentümern der "Snoras", dem Russen Vladimir Antonov und dem Litauer Raimondas Baranauskas (A hält 68,1% und B 25,31% der Anteile) wird in Litauen Bilanzfälschung und Betrug vorgeworfen. "Snoras" hält aber auch 68% der Anteile an der lettischen "Krājbanka" - als Snoras diese Anteile 2005 übernahm, hatte die "Krājbanka" sich auf das am besten ausgebaute Filialnetzwerk in Lettland stützen. Der Umschwung kam nun plötzlich: noch am 14.November bot "Snoras" auch Kunden in Lettland Kredite mit 40 Jahren Laufzeit an. Nur drei Tage später die eilige Meldung, man sei keinesfalls insolvent und würde die Geschäfte innerhalb 24 Stunden wieder aufnehmen.  Ähnliches bemühte sich auch die "Krājbanka" zu erklären. Kurz darauf saßen die Herren A und B dann in Großbritannien in Untersuchungshaft (wurden inzwischen gegen Zahlung einer Kaution vorläufig wieder auf freien Fuß gesetzt).

Die zweite Welle

Doch keine Frage - wer in Lettland Geld auf der Bank hat, ist beunruhigt. Wird es weitere Banken treffen? Der amtierende Präsident der Bank von Lettland, Ilmārs Rimšēvičs, ließ sich in der lettischen Presse mit einer Aussage zitieren: "Die zweite Welle der Krise hat bereits begonnen." Europäische Analysten beruhigen ähnlich wie 2008 mit dem Argument, die meisten Banken würden sich in skandinavischem Besitz befinden (Parex war in Lettland die einzige größere Ausnahme). Derweil hatte Litauen für die beiden ehemaligen Eigentümer der frisch verstaatlichten "Snoras" einen internationalen Haftbefehl aus, und auch in Lettland fragt man sich: Wer ist eigentlich dieser Antonovs? Der russische Geschäftsmann lebt schon seit Jahren in London, und dort sind vor allem zwei seiner (teuren) Hobbys bekannt: Sport und schnelle Autos.
Und siehe da: Antonovs und Baranauskas wurden inzwischen in Großbritannien verhaftet (BBC News 24.11.). Antonov ist im südenglischen Portsmouth über seine Firma "Convers Sports Initiatives (CSI)" Eigentümer des Portsmouth Football Club, der bis 2010 in der ersten Liga spielte. Der Portsmouth Fußballklub beeilt sich zu versichern, dass sportlich alles wie gewohnt weitergeht (der Klub musste bereits 2010 einmal seine Zahlungsunfähigkeit eingestehen, stieg deshalb ab und auch der Europacupplatz ging verloren). Erst im Juni diesen Jahres hatte Antonov die Übernahme des Fußballklubs besiegelt (BBC 1.6.). Wie Baltic Times berichtet, droht Antonov in Litauen eine Haftstrafe von bis zu 10 Jahren. Antonov hatte zuvor nicht ausgeschlossen, eventuell Asyl in Großbritannien zu beantragen.

Spekulanten und verschwundene Gelder
Angaben der lettischen Staatspolizei zufolge sind bei der "Krājbanka" Einlagen im Wert von 100 Millionen Lat "verschwunden", während bei der Snoras-Bank die genannten Summen bis zu einer Milliarde Litas reichen (ca. 290 Millionen Euro). Wie die litauische Finanzministerin Ingrida Simonyte inzwischen bekanntgab, wird die litauische Regierung "Snoras" nicht mit zusätzlichen Finanzmitteln aus den Schwierigkeiten helfen. Man beabsichtige aber, die Rückzahlung von Einlagen bis 100.000 Euro staatlich zu garantieren und plane die Gründung einer "Bad Bank". Diese Absicht wiederum ruft die lettischen Nachbarn nun auf den Plan: Lettland hätte es wohl lieber gesehen, wenn Litauen im Fall "Snoras" ählich handeln würde wie beim lettischen Beispiel der Parex-Bank 2008. Ein für heute (Freitag) geplantes Zusammentreffen von Dombrovskis und Kubilius in Vilnius wurde kurzfristig abgesagt. Auch Lettland wird vor der Frage der möglichen Handlungsvarianten stehen: den Kunden der bankrotten Bank gar nichts zahlen (wie im Fall "Banka Baltija" 1995 - das wird sich niemand politisch leisten können), die Bank retten (mit welchem Geld?) oder die Bank zwar pleite gehen lassen aber Einlagen zurückzahlen (aber woher auch dieses Geld nehmen?). Oder die Bank in einen guten und einen schlechten Teil (Bad Bank) aufteilen. Verschiedentlich ist zu lesen, dass wohl weder "Snoras" noch "Krājbanka" eine Zukunft haben. Die beiden Regierungen sind aber bemüht, den gesetzlich vorgesehenen Sicherungsrahmen für die privaten Guthaben zu bedienen. Für kommenden Montag bereits wird in Riga die amtliche Erklärung der Zahlungsunfähigkeit der "Krājbanka" erwartet - gleichzeitig versuchen die Finanzexperten eine Strategie zur Sicherung der Einlagen zu erarbeiten.

Weitere Wellen
Lettische oder litauische Bankenpleiten scheinen momentan die großen deutschen Medien nicht zu interessieren - vielleicht sind die Summen im Zusammenhang mit den auf- und niederschwappenden Euro-Krisen einfach größer? Dafür tauchen entsprechende Nachrichten überall dort auf, wo Antonov-Geld im Spiel ist: zum Beispiel im Rallye-Sport (Motorsport-Total). Für das "Rallye-Magazin" galt Antonov zwischenzeitlich schon als "verschwunden", Antonov hatte als Miteigentümer der britischen "North One Sport" die Rechte zur Vermarktung der Rallye-WM erworben. Auch mit einem Versuch beim schwedischen Autobauer Saab einzusteigen war Antonow kürzlich aufgefallen - jetzt titelt das Manager-Magazin: "Der Saab-Retter taucht ab."
Weniger Schlagzeilen machen bisher die Nöte derjenigen, die in Lettland bei der "Krājbanka" ihr Geld angelegt haben - dazu zählen auch Gemeindeverwaltungen und Hochschulen. Um eine vollständige Panik zu vermeiden, erlaubte in den vergangenen Tagen die Bank an ihren Bankomaten jedem Kunden pro Tag eine Summe von 50 Lat abzuheben. Gegen den Gerichtsbeschluß, Ivars Priedītis, den Vorstandsvorsitzenden der "Krājbanka" in Haft zu nehmen, ist inzwischen Beschwerde von Priedītis' Anwalt eingelegt worden.

bis heute noch im Internet verfügbar:
Parex-Kontoeröffnung auch für Deutsche

Lehren aus vergangenen Pleiten?
Mitte 2010 ging aus der lettische "Parex" die "Citadele-Banka" hervor, beide formell getrennt voneinander. Auch im "Parex"-Fall waren es zwei Großaktionäre, die durch ihre Geschäfte die Bank in Schwierigkeiten brachten. Walerie Kargin und Wladimir Krasovitsky, die mit einer Wechselstubenlizenz anfingen und zu Bankaktionären aufstiegen, hatten damals bereits zwei Bankfilialen auch in Deutschland eröffnet, "Parex" gehörte auch dem Einlagensicherungsfond deutscher Banken an. Nach der Pleite stürzten sich die Medien auf die Luxusgüter die beide auch noch der Pleite behalten durften.
Manche Geschichten haben ein langes Leben. Noch immer ist im Internet eine deutschsprachige Heroengeschichte zur Geschichte der Parex-Bank zu lesen - sie endet 2008 mit einer Filialeröffnung in München.
Wie heißt noch das Sprichwort? "Ist der Ruf erst ruiniert so lebt es sich ganz ungeniert."
Und einem deutschen Politiker könnte man angesicht der vorliegenden Interessenlage in den Mund legen: "Aber der Euro ist doch weiter stabil!"
Die erst kürzlich im lettischen Fernsehen gelaufene Werbekampagne für "Latvijas Krājbanka" läßt sich übrigens hier betrachten, sogar mit englischen Untertiteln ...
Und auch die mögliche nervöse Nachfrage: "Papa, warum haben wir ausgerechnet ein Konto bei dieser Krajbanka?" wird HIER punktgenau von der betroffenen Bank beantwortet (ebenfalls mit engl. Untertiteln).

6. November 2011

Staatsprache und Verfassung

Daß es in Lettland einen hohen Anteil russischsprachiger Bevölkerung gibt ist bekannt. Bekannt ist auch, daß ein großer Teil dieser Menschen während der Sowjetzeit entweder selbst ins Land gekommen ist oder von solchen abstammt. Es ist zutreffend, daß 1991 die Bevölkerung des gerade wieder unabhängig gewordenen Lettland zwar kollektiv des Russischen mächtig war, aber nicht unbedingt der lettischen Sprache.

In 20 Jahren hat sich allerdings viel verändert. Junge Russen, welcher Abstammung auch immer, sprechen Lettisch besser als manch zugewanderter Ausländer, wohingegen mit Englisch als Pflichtfach in der Schule das Russische für junge Letten keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Das führt zu Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, wo es wenig überrascht, wenn Arbeitgeber im Kundegeschäft Mitarbeiter MIT Russischkenntnissen wünschen. Dies bezeichnete die nationalistische Partei „Alles für Lettland!“, in persona Imants Parādnieks, als eine in keinem anderem EU-Land übliche Diskriminierung der eigenen Jugend, die es gesetzlich zu verbieten gelte. In welchem EU-Land hingegen Unternehmer gesetzlich gezwungen werden, sich für Kandidaten mit weniger Kenntnissen und Fähigkeiten zu entscheiden, darauf blieb Parādnieks eine Antwort schuldig.

Nun hat die Bewegung „Muttersprache“ unter Führung von Vladimir Linderman (Владимир Линдерман) eine Initiative gestartet: Es soll eine Volksabstimmung durchgeführt werden über die Frage, ob Russisch die zweite Amtsprache in Lettland werden sollte. Mit dieser Forderung war die Bewegung „Gleichberechtigung“ zu den ersten Parlamentswahlen nach der Unabhängigkeit 1993 angetreten. Eine ihrer wichtigsten Vertreterinnen, Tatjana Schdanok (Татья́на Ждано́к), die als Aktivistin der Interfront ursprünglich gegen die Ausflösung der Sowjetunion gewesen war, sitzt bereits in der zweiten Periode im Europaparlament. Linderman ist eine nicht weniger schillernde Figur. Er gehört den Nationalbolschewisten (Национал-Большевистская Партия) von Eduard Limonow (Эдуард Лимонов) an – die übrigens später mit dem Schachspieler Garri Kasparows (Га́рри Ки́ Каспа́ров) „Anderem Rußland“ (Другая Россия) paktierten. Linderman war in Lettland 2002 illegaler Sprengstoffbesitz und die Vorbereitung eines Umsturzversuches vorgeworfen worden, woraufhin er von einer Reise nach Rußland nicht zurückkehrte und sich so der Verhaftung entzog. Linderman wurde in Rußland 2008 verhaftet, 2009 nach Lettland ausgeliefert und vom Gericht freigesprochen.

Linderman erklärte gegenüber dem lettischen Radio in einem Telefoninterview in fließendem Lettisch, die Russen seien schon immer in Lettland gewesen, und die eigene Muttersprache gelte es zu verteidigen, damit die Russen nicht Bürger zweiter Klasse im Land seien. Lindermans jetziger Vorstoß wird von der Verfassung Lettlands gedeckt, welcher die direkte Demokratie ebenso wenig fremd ist, wie in der Schweiz. Es genügen die Unterschriften von 10% der Wahlberechtigten, und die Wahlkommission muß in einer gesetzlich festgelegten Frist den Urnengang ausschreiben. Linderman konnte nun 12.000 Unterschriften bei einem Notar hinterlegen, was die Behörden dazu zwingt, für den gesetzlich vorgeschriebenen Zeitraum täglich wenigstens vier Stunden auf Kosten des Steuerzahlers die Infrastruktur für die weitere Unterschriftensammlung vorzuhalten. Dies geschieht an 600 Orten auch im Ausland.

Der Leiter der Wahlkommission, Anris Cimdars, sagte im lettischen Radio, daß diese Unterschriften-Sammelaktion sich von anderen unterscheide, da eigentlich nur derjenige daran teilnehmen müsse, der für die Motion optiert – im Unterschied etwa zu Referenden, in denen man mit ja oder nein abstimmen würde, was auch die Moderatoren des lettischen Radios in ihrem Beitrag mehrfach unterstreichen. Das ist eine interessante Argumentation: Selbstverständlich ist es für Gegner der Idee, Russisch als zweite offizielle Staatssprache zu akzeptieren, das günstigste Ergebnis, wenn das Referendum erst gar nicht stattfinden kann, weil nicht genügen Unterschriften zusammengetragen wurden. Das gälte aber für jedes Referendum mit der Alternative ja oder nein zu einer konkreten Frage.

Ein anderer Aspekt des Referendums ist kurios. Bei der Vorlage von Linderman und seinem Verein handelt es sich um mehrere Änderungen der Verfassung, unter anderem auch des Artikels 4. Dieser aber gehört, wie Cimdars zu bedenken gibt, zu jenen, die nicht einmal das Parlament ohne anschließende Volksbefragung verändern dürfte. Folglich, egal ob die Angeordneten nach erfolgreichem Referendum über Lindermans Vorlage dieser im Wortlaut zustimmten oder sie mit Änderungen verabschiedeten, müßte darüber erneut ein Referendum abgehalten werden. Neuerlich ein Beispiel für die Inkonsistenten der Verfassung Lettlands aus dem Jahre 1922.

1. November 2011

Storch bevorzugt Stromanschluß

Etwa Zehntausend Weißstorchpaare (Ciconia ciconia) gibt es in Lettland - die Zahl ist seit einigen Jahren stabil. Die führende Expertin für das Storchenmonitoring in Lettland ist schon seit Jahren Māra Janaus. Sie erstellt im Auftrag der lettischen ornithologischen Gesellschaft (Latvijas Ornitoloģijas biedrību LOB) genaue Informationen zum Vorkommen der Weißstörche in Lettland zusammen.
Ungewöhnlich ist in Lettland nicht nur das selbst für jeden durchreisenden Touristen auffällig hohe Vorkommen der weißen Störche - charakteristisch ist ebenfalls, dass 60% dieser Nester sich auf Telegrafen- bzw. Strommasten befinden. Es bedarf also einer Zusammenarbeit mit dem lettischen Stromversorger LATVENERGO, um hier für den Vogelschutz und gleichzeitig für die Sicherung der Stromversorgung etwas zu erreichen. Allein für das Jahr 2009 wurden 6149 Storchennester auf Strommasten identifiziert, in 1507 weiteren Fällen mussten Schäden registriert werden im Zusammenhang mit Nestern.

Vor hundert Jahren sei es gerade in Lettland typisch gewesen, so erzählt Storchenexpertin Janaus, dass die Menschen den Störchen beim Nisten in Bäumen geholfen hätten, während in Westeuropa auch Storchennester auf Hausdächern üblich gewesen seien. Noch um 1965 herum habe man nur etwa 1% aller Storchnnester auf den Elektromasten finden können. Heute aber scheint die Zusammenarbeit mit den Stromversorgern unumgänglich. So ein Storchennest, das mehrere Jahre genutzt und aufgebaut wurde, kann leicht 500kg und mehr wiegen (bis 2 Tonnen). Der lettische Stromversorger bemüht sich, nur außerhalb der Nistzeit Nester zu entfernen oder Reparaturen durchzuführen. Im vergangenen Jahr sei dann, in Abstimmung mit der Naturschutzverwaltung, einmal eine größere "Umbettungsaktion" an 527 Nestern durchgeführt worden.
Die Storchensaison 2011 sei mit durschnittlich 2,2 Jungen pro Nest durchschnittlich verlaufen, ergänzt Janaus. Damit ist bei stabiler Storchenpopulation die Stimmung auch bei den Vogelfreunden verhalten positiv. Hier noch einige lettische "Storchenrekorde": die früheste Ankunft von Weißstörchen in Lettland wurde bisher am 9.März 2007 zwischen Koknese und Aizkraukle beobachtet. Die größte Ansammlung Weißstörchen wurde bisher mit 360 Störchen am 18.Juli 2008 in der Nähe von Tukums notiert.

Mehr Infos:
für den Vogelschutz wichtige Flächen in Lettland (Karte der ornithologischen Gesellschaft)
Pressemitteilung zum Weißstorchmonitoring in Lettland (lettisch)
Lettische Ornithologische Gesellschaft 

28. Oktober 2011

Würmer, Panzer, und die Legende von Kangars

Der brave Valdis -
bei der nächsten
Krise bald
"allein zu Haus' "?
Am 25.Oktober 2011 begann die dritte Amtszeit von Regierungschef Valdis Dombroskis, indem das neue Regeriungskabinett von einer Parlamentsmehrheit bestätigt wurde. Alles scheint normal, unscheinbar und geordnet weiterzulaufen in Lettland - zumindest für diejenigen, die in erster Linie eine "griechische Krankheit" in Lettland befürchten würden. Dombrovskis steht für bescheidenes Auftreten, zur Einhaltung einer strikten Sparpolitik werden notfalls ganzen Berufsgruppen kurzfristig die Löhne gekürzt, und die Steuern werden besonders für Investoren aus dem Ausland niedrig bleiben. Lediglich die Finanzierungstrategien der EU über 2014 hinaus wurden öffentlich kritisiert und als für Lettland unzureichend bezeichnet. Damit kann Europa - angesichts der vielen anderen europäischen Themen, die zur Zeit viel beunruhigender klingen, ganz gut leben, so scheint es. Dombrovskis - kühler Kopf mit eisernem Willen (European Online). "Schöne Frauen, dämonische Fratzen" - ach nein, dieser Beitrag von letzter Woche in der "Süddeutschen Zeitung" bemühte sich um die Niederungen der lettischen Politik erst gar nicht, gemeint ist hier der Jugendstil in der Architektur.

Verheilen oder vernarben?
einen schönen Herbstspaziergang beispielsweise im
Gaujatal zu machen - viele Letten werden das erheblich
lieber machen als die alltäglichen Politstreitereien
im Detail zu verfolgen
In einigen wenigen deutschsprachigen Medien ist Besorgnis nachzulesen, dass die stärkste Parlamentsfraktion der "Saskaņa" nicht an der neuen Regierung beteiligt wurde - obwohl sie doch bereit war, mit ihren 31 Mandaten einen Regierungschef Dombrovskis inklusive seiner Finanzpolitik anzuerkennen (der mit seiner „Vienotība“ nur über 20 Mandate verfügt). Die "Saskaņa" mit all ihren verschiedenen Fraktionen allerdings als "Russenpartei" zu bezeichnen, wie es die Neue Züricher Zeitung tut, wird ihr nicht gerecht: es gibt keine doppelte Staatsbürgerschaft in Lettland. Spätestens wer die lettische Staatsbürgerschaft und damit auch das Wahlrecht erlangt hat, sollte auch das Recht haben als "Lette" bezeichnet zu werden (lettischer Staatsbürger, russischstämmig, selbstverständlich). Langfristig sind solche Letten nicht anders zu behandeln als zum Beispiel polnisch-stämmige Letten, die heute auf den ersten Blick oft nur noch anhand von Namen mit etwas anderem Ursprung von anderen Letten unterschieden werden können. Zwei lettische Parlamentsabgeordnete hielten ihre Ansprachen bei der Parlamentseröffnung übrigens in "Latgalisch" (wenn ich das hier mal so bezeichnen darf) - auch hier ist die Staatsbürgerschaft keine Frage (die beiden verlangen aber ein gleiches Recht überall Latgalisch öffentlich sprechen zu dürfen). In sofern sind ein Wahlerfolg von 28% der Wählerstimmen nicht gleichzusetzen mit "Russen, die in Lettland leben" oder "Nicht-Staatsbürgern" (die weder den einen noch den anderen Pass anzunehmen bisher bereit waren).

Bedauern von halblinks
Am stärksten wirkt das Bedauern über die Nicht-Regierungsbeteiligung der "Saskaņa" offenbar bei den sozialdemokratisch gesinnten Politikern nach. Die SPD-Bundestagsfraktion gab dazu sogar eine eigene Pressemitteilung heraus (SPD 26.10.2011), und die Ausgabe des "VORWÄRTS" vom 27.10.11 legt nach mit: "Neonazis in der Regierung". Damit ist die zweite Sorge benannt, die schnell eine möglicherweise wirtschafts- und finanzpolitisch solide Regierungsarbeit Dombrovskis überlagern könnte. Bereits vor Beginn der Koalitionsverhandlungen hat Nationalistenführer Raivis Dzintars verkündet: auch in der Regierung werden wir den 16.März feiern! Dieser Tag gilt all denen als heilig, die das Gedenken an lettische SS-Legionen noch höher stellen als den Stolz auf die militärische Geschichte und Verteidigungsbereitsschaft Lettlands (für letzteres wäre der Gedenktag der 11.November, der Lāčplēsis-Tag ausreichend). Seit Dombrovskis dann zur Bedingung für Minister seines Kabinetts das Gebot bekannt gab, nicht an Feiern zum 16.März teilzunehmen, verlangte Dzintars dann plötzlich nur noch 2 Ministerposten für seine Partei - und drängte eher auf die Positionen der Staatssekretäre in der zweiten Reihe (für die Dombrovskis Benimm-Regel wohl nicht gelten wird): tatsächlich erreicht haben hier die Nationalisten dann noch nur einen derartigen Posten, und zwar im Umweltministerium. Die Zuständigkeit für die Integrationsaufgaben dagegen wurden der (jetzt nationalistischen) Kulturministerin weggenommen und dem (von der Zatlers-Partei ZRP geführten) Ministerium für Bildung und Wissenschaft zugeschlagen.

Umweltpolitik im Kompetenzloch
Umweltminister
ohne Kompetenz-
nachweis:
Edmunds Sprūdžs
Die Zukunft der Umweltpolitik in Lettland dagegen muss als sehr unklar bezeichnet werden. Minister wurde hier Edmunds Sprūdžs von der ZRP, der von Ex-Präsident und Partei-Namensgeber Zatlers vor den Wahlen überraschend zum Kandidaten für das Amt des Minsterpräsidenten ernannt worden war. Mühsam musste auch die lettische Presse daraufhin Informationen einsammeln, wer dieser in der lettischen Politik bisher nicht in Erscheinung getretene Sprūdžs eigentlich ist. Wer heute auf der Seite des Ministeriums nachschaut, findet unter "Ausbildung" nur zwei Jahre am 1.Gymnasium der Stadt Riga (kann man ein lettisches Gymnasium innerhalb von zwei Jahren abschließen?), plus eine Ausbildung am "Robert-Kennedy-Collage" in Zürich (dort mit dem Vermerk versehen: "andauernd"). Ein College-Student als Minister also? Das Studium dort dauere in der Regel drei Jahre, ist auf der Webseite der Schweizer zu lesen, koste etwa 8000 Euro pro Jahr (zuzüglich Unterbringungskosten). Von einer Ausbildung als Umweltspezialist ist hier allerdings nichts zu finden. Sprūdžs habe dort "teils als Fernstudent, teils mit persönlicher Präsenz" studiert, ist bei DELFI.lv nachzulesen. Dort steht auch eine für College-Studenten in diesem Fall außergewöhnliche Aufnahmeprozedur nachzulesen: als Student akzeptiert nach einem Gespräch mit dem Rektor, unterstützt von "speziellen Empfehlungen". Bleibt die Frage, welcher Art diese "speziellen Interessen" sind, mit deren Hilfe Sprūdžs offenbar als Politiker aufgebaut wird. Als 2010 am Züricher Collage alle MBA-Module eingestellt wurden, stellte man die verbleibenden Studierenden vor die Wahl: entweder den akademischen Grad MBA zu erlangen, oder eine Dissertation zu schreiben um den Grad eines MSc (Master of Science) zu erlangen. Diese Dissertation wollte Sprūdžs zum Thema Unternehmensführung im Bereich der IT-Systeme in Lettland schreiben - Abgabetermin Januar 2012. Da wird dem Kandidaten seine Erfahrung als Verkaufsleiter bei Hansaworld, dem lettischen Ableger einer schwedischen Softwarefirma, sicher zu Gute kommen.

Was aber macht die Umweltpolitik und der Naturschutz in Lettland einstweilen? Werden sie Einars Cilinskis, der einzig seine langjährige Parteitreue bei den Nationalisten als Karriereleiter nutzen konnte, überlassen? Außer seinem Ausbildungsabschluß als Chemiker (Abschluß 1986) und einer Tätigkeit als Laborgehilfe weist Cilinskis viele Merkmale dessen auf, was politisch seit Jahren in Lettland als "grün" durchgeht: Mitglied des "Vides Aizsardzības Klubs" (Umweltschutzklub, VAK) und der lettischen "Volksfront" seit deren Gründungszeiten, schon 1990 Mitglied des Lettischen Obersten Sowjets ("ich stimmte am 4.Mai 1990 für die Unabhängkeit!"). Statt Wahlerfolgen war Cilinskis in den 90er Jahren lediglich kurzfristig eine untergeordnete Position in der Rigaer Stadtverwaltung beschieden (1993 als Kandidat einer "Grünen Liste" nicht ins Parlament gewählt, 1997 und 2001 nicht mehr in den Rigaer Stadtrat gewählt, 1998, 2002 und 2006 auch nicht ins Parlament gewählt, 2004 und 2009 erfolglos für das Europaparlament kandidiert). Nachdem er 2009 bei "„Tēvzemei un Brīvībai/LNNK”" nach 20 Jahren Mitgliedschaft austrat, um sich "Visu Latvijai" ("Alles für Lettland") anzuschließen, die mit ihren jungen, radikalen Nachwuchskräften bessere Wahl- und Karrierechancen boten, kommt er jetzt also nach der Vereinigung beider nationalistischer Kräfte wieder ins Kandidatenboot zurück und gilt offenbar als "erfahrener Politiker". - Eher ein grauer Dinosaurier aus dem Gruselkabinett braun-grüner Ideologen, als kompetenter Fachmann. Konsequenz: in der Regierungserklärung ist viel von Umwelt (lettisch "Vide") zu finden, aber in ganz anderem Sinne: "Uzņēmējdarbības vide" (Unternehmertätigkeit), "lauku vides saglabāšanai" ("Rettung des Landlebens"),  "Vide un dabas kapitāla saglabāšana" ("Bewahrung des Naturkapitals"), "Latvijas kultūrvides uzturēšanu" (Erhalt des kulturellen lettischen Umfelds). Einzige konkrete Aussage ist die Absicht, umweltfreundliche Verkehrsmittel fördern zu wollen. Gleichzeitig soll aber die "Mobilität der Bewohner auf dem Lande" gefördert werden, was ja wohl nur Straßenbau und Autopolitik bedeuten kann. Eine lettische Abfallverwertungssystematik soll eingeführt werden (waren die bisherigen Maßnahmen so wertlos?), und auch die Energieversorgung soll "effektiver" werden - mit welchen Maßnahmen, bleibt unklar. Als lettische Maßnahme gegen Klimaerwärmung werden Verbesserungen in der Waldwirtschaft angeboten. Das wars schon.

Einziger - aber zweifelhafter - Trost: auch die linke Variante der "Saskaņa" hätte, in all ihrem Einklang, keinen potentiellen fachlich kundigen Kandidaten auf dem Felder der Umweltpolitik aufzubieten gehabt.

Populismus auf allen Seiten
Solchen absehbaren Schwächen der politischen Strategie stehen aber die Schlagworte der öffentlich so gerne geführten lettischen Diskussion gegenüber. Da steht das "Lettisch sein" oder "Russisch sein" eben scheinbar sinnbildend über allem. Ex-Präsident Zatlers gab zeitweise vor, die starren Lager aufbrechen zu wollen, fügte statt dessen aber der politischen Diskussion lediglich ein paar weitere Anekdoten hinzu. "Würmer brauchen wir nicht!" - so lehnte er eine Erweiterung der Regierungsmannschaft auf die "Grünen und Bauern" (ZZS) ab, und meinte wohl die "Untergrabung" durch Kräfte der bisher so einflußreichen Oligarchen. Auch Zatlers vorschnell geäußerter Satz "nur Panzer werden uns von unserer Haltung abbringen, mit 'Saskaņa' eine Koalition einzugehen" wird sich ebenso in das Gedächtnis des Wahlvolkes eingebrannt haben - so, oder so. Die einen (fast Verschmähten) wie die anderen (dann doch allein Gelassenen) müssen in der angeblichen Leitfigur Zatlers einen unsicheren Kantonisten sehen. Und im Zweifel - nicht umsonst heißt es ja: zwei Letten, drei Meinungen - ist derjenige, dessen andere Meinung als absolut unannehmbar hingestellt werden soll, dann ein "Kangars", eine mythische Figur aus dem Epos von "Lāčplēsis" (Bärenreißer) von Andrejs Pumpurs. Während die einen sich selbst gern die Rolle des "Lāčplēsis" verleihen (kämpfend gegen alle Feinde von außen, seien es die Bolschewiken oder deutsche Gutsherren), paktiert Kangars mit den fremden Missionaren und verrät das Geheimnis von Lāčplēsis' übermenschlicher Stärke an die Feinde. Letten verlieren also nur, weil es in den eigenen Reihen "Kangari" gibt, so die Logik dieser vermeintlichen Volksweisheit.
Und diejenigen, die mit der ihrer Meinung viel zu lettisch-freundlichen Haltung der "Russen-Partei" "Saskaņa" nicht einverstanden waren (zumindest nicht mit den Kompromißvorschlägen der SC in den vergangenen Koalitionsverhandlungen), auch diese Kräfte beginnen sich jetzt wieder zu regen. Keine Zeit des gemütlichen Durchregierens, Herr Dombrovskis. Auch wegen den Merkwürdigkeiten in den eigenen Reihen.

Weitere Infos:
Text der Regierungserklärung von Valdis Dombrovskis (lettisch)
Text der Koalitionsvereinbarung (lettisch)

25. Oktober 2011

Regierung Dombrovskis zum Dritten

Mit 57 zu 38 Stimmen (2 Abgeordnete waren nicht anwesend) wurde heute im lettischen Parlament (Saeima) bereits zum dritten Mal eine Regierung unter Führung von Valdis Dombrovskis bestätigt. Damit ist Drombrovskis der erste Regierungschef Lettlands, der dreimal hintereinander im Parlament eine Mehrheit fand (erstmals am 12.3.2009).

Gleichzeitig unterstützte die Mehrheit der Parlamentarier damit folgende Liste der zu ernennenden  Ministerinnen und Minister:
Minister für Verteidiung: Artis Pabriks (V)
Finanzminister: Andris Vilks (V)
Gesundheitsministerin: Ingrīda Circene (V)
Wohlfahrtsministerin; Ilze Viņķele (V)
Außenminister: Edgars Rinkēvičs (ZRP)
Wirtschaftsminister: Daniels Pavļuts (ZRP)
Innenminister: Rihards Kozlovskis (ZRP)
Minister für Bildung und Wissenschaft: Roberts Ķīlis (ZRP)
Minister für Umwelt und Regionalentwicklung: Edmunds Sprūdžs (ZRP)
Ministerin für Kultur: Žaneta Jaunzeme-Grende (VL-TB/LNNK)
Justizminister: Gaidis Bērziņš (VL-TB/LNNK)
Landwirtschaftsministerin: Laimdota Straujuma (V)
Verkehrsminister: Aivis Ronis (parteilos)
(V = "Vienotība", ZRP = Zatlers Reform Partei, VL-TB/LNNK = "nationaler Block").
Dem Ministerkabinett gerhören damit 10 Männer und 4 Frauen an.

Der Abgeordnete Ingmārs Līdaka (Liste der Grünen und Bauern, ZZS) hatte bereits vor der Abstimmung angekündigt, ebenfalls mit der Regierung stimmen zu wollen.
Die Regierungsparteien nehmen damit gegenwärtig nur 50 der 100 Sitze im Parlament ein; über 20 Sitze verfügt die rechtskonservative "Vienotība" von Regierungschef Dombrovskis, 16 Sitze haben die Vertreter des Parteienneulings "Zatlers Reform Partei" ZRP, und 14 Sitze werden von der "nationalen Vereinigung" eingenommen, ein Zusammenschluß rechtsnationalistischer Parteien. Am Morgen hatten auch die sechs vor wenigen Tagen von der ZRP abgespaltenen Abgeordneten eine Koalitionsvereinbarung mit unterschrieben, so dass diese Vereinbarung nun von 56 Parlamentariern unterstützt werden kann.
Die Rolle der Opposition im Parlament bleibt nun für die vom "lettischen Oligarchen" Aivars Lembergs unterstützte "Vereinigung der Grünen und Bauern" ZZS und die "Saskaņa" (was übersetzt werden müsste mit "Einklang" oder "Ausgleich", oft aber in Deutsch "Harmonie" genannt wird), die sich vor allem für die Interessen der russischsprachigen / -stämmigen Bürger Lettlands einzusetzen vorgibt.

19. Oktober 2011

Rote Linien

Das Maximum des Parteiprogramms in konkrete Politik umsetzen - das mag vielleicht ein Leitgedanke vieler Politikerinnen und Politiker in Europa sein, die als Folge von mehr oder weniger erfolgreichem Werben um Wählerstimmen am Ende ihre Mandate zusammenzählen und sich überlegen, in eine Regierung einzutreten oder nicht. Anders in Lettland: hier scheinen die konkreten Zahlen von errungenen repräsentativen Mandaten und die sich daraus ergebenden Machtverhältnisse und Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Parteien immer aufs Neue alle völlig zu überraschen.
Nachdem wir das demokratische Experiment, ein ganzes Parlament einfach mal so per Volksabstimmung zu entlassen, nun hinter uns haben muss die Frage erlaubt sein, ob die politische Praxis oder die Arbeit des Parlaments sich nun verbessert hat. Aber die zurückliegenden Koalitionsverhandlungen mit dem Ergebnis, dass Präsident Bērziņš Valdis Dombrovskis heute mit der Regierungsbildung beauftragte, zeigen wohl vor allem eines: die individuelle Lust, vermeindlichen Gegnern und Andersdenkenden einen Erfolg gezielt zu verderben ist wesentlich ausgeprägter als die Genugtuung, gemeinsam mit anderen etwas zu erreichen was vielleicht (mit weniger öffentlicher Aufmerksamkeit) nur einen ersten Schritt auf dem richten Weg darstellen könnte.

Ein Volk von Tugendwächtern
Vieles von dem, was in Lettland an Meinungen und Stellungnahmen zur politischen Situation in diesen Tagen zu lesen und zu hören ist, klingt fast wie in alten "Gutsherren-Tagen" - nur mit umgekehrten Vorzeichen. Der allein bestimmende Gutsherr (das Volk) entließ alle seine hohen Angestellten auf einen Schlag, gab vermeintlich neuen Nachwuchskräften eine Chance, meint aber gleichzeitig das Recht zu haben schon mit der Peitsche in der Hand hinter der Scheune zu warten, falls diese auch nur eine Handlung unternehmen die nicht in seinem Sinne ist.Und diese neuen Angestellten selbst - im vollen Bewußtsein darüber, dass jemand mit der Peitsche drohen könnte - tun alles um sich selbst als die besten, ehrlichsten und tugendhaftesten Interessenvertreter darzustellen, im Gegensatz natürlich zu allen anderen Kolleginnen und Kollegen.
Welche Rahmenbedingungen sind es die verursacht haben, dass so wenig Vertrauen besteht in einen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessengruppen in Lettland? Warum meinen einzelne Politiker, durch kurzfristig Schlagzeilen machende Aktionen dem Interesse des eigenen Landes mehr dienen zu können als durch ein offenes Ohr für Interessen anderer, die dann schrittweise gemeinsam erreicht werden könnten?
Eines wurde aber vor allem weit verfehlt: diejenigen, die im Bewußtsein endlich auch mal mitbestimmen zu können das alte Parlament entlassen haben beobachten mit Grausen, wie dieser mögliche Gewinn an demokratischem Bewußtsein von vielen der neuen Amtsträger wieder diskreditiert wird.

Es geht jedenfalls um mehr als nur um das international so viel diskutierte Recht von russischstämmigen Letten (denn um Russen geht es hier ausdrücklich NICHT) auf Mitbestimmung der Geschicke des Landes. Im Vergleich zu den Verhandlungen nach den Wahlen im Oktober 2010 wurden jetzt erheblich mehr Zwischenergebnisse von Gesprächsthemen öffentlich, aus denen durchaus der Wille erkenntlich war Beweglichkeit zu zeigen, den Spielraum eigener Einstellungen zu erweitern und gemeinsame Positionen mit anderen zu suchen. Die Spiegelung dieser verschiedenen Handlungsoptionen in der lettischen Öffentlichkeit zeigt aber, dass viele den politischen Akteuren lieber keinen Handlungsspielraum zubilligen möchten. Ein Mißverständnis der Vorstellungen von "direkter Demokratie"? Möge meine persönliche politische Grundüberzeugung möglichst direkt von den Politikern umgesetzt werden, scheinen sich die meisten zu wünschen - und dabei viel mehr Lust zu empfinden an vermeintlichen Gegensätzen zu anderen, statt das Maß an möglichen Gemeinsamkeiten möglichst offen und ehrlich bei allen demokratisch denkenden Kräften wirklich auszuloten. Es wird diskutiert, als wäre die Frage "Was ist Demokratie?" in den vergangenen 20 Jahren noch unbeantwortet geblieben, und als sie eng verknüpft mit der anderen Frage: "Gibt es Demokratie überhaupt, und wenn ja, was nützt sie mir?"

Vergebene Chancen
Vorerst bleibt nur, ein wenig den Scherbenhaufen zusammenzukehren, der bereits angerichtet worden ist. Das gegenwärtige Hin und Her bei der Regierungsbildung hat genug Bemerkenswertes gebracht, um es zumindest in Erinnerung zu behalten, je nach dem wie die weitere Entwicklung in Lettland läuft. Einige Eindrücke, der Reihe nach.

Saskaņas Centrs und die Karte Ušakovs
Die Verhandlungen zur Beteiligung der Partei mit den meisten Wählerstimmen (28,4%) bezüglich einer Beteiligung an der lettischen Regierung waren diesmal so ernsthaft wie nie zuvor. Zwar endete alles im bloßen Konjunktiv, aber einiges deutete sich an, was besonders der auf seine Popularität als Riger Bürgermeister setztende Nils Ušakovs mit in die Waagschale zu geben bereit war:
- eine Koalitionsvereinbarung nur durch die Partei "Saskaņa", also ohne die lettischen Sozialistische Partei - die nur Teil der gemeinsamen Liste Saskaņas Centrs (SC) ist - wäre möglich gewesen (von den 31 neu gewählten Abgeordneten der SC sind nur drei Sozialisten). Damit wäre Alfred Rubiks, einer der erklärtesten Gegner eines unabhängigen Lettland - denn mit seinem Beharren auf dem sowjetischen als dem besseren System wird er als solcher in Lettland angesehen - außen vor geblieben und seine extremen Positionen könnten nicht mehr mit der Politik der "Saskaņa" identifiziert werden. Kaum begannen derartige Verhandlungspositionen in der lettischen Presse durchzusickern, beeilte sich Rubiks gegenüber der russischen Presse (sic!) von Ušakovs zu distanzieren.
- Ušakovs hatte kurz vor den Wahlen, anläßlich eines (englischsprachig durchgeführten) Diplomatenemfpangs, erstmals von einer "Okkupation Lettlands" gesprochen. Auch das wurde als Schritt in Richtung einer Kompromißbereitschaft in Richtung lettisch-orientierter Parteien gewertet, denn diese hatten eine Anerkennung des ihrer Meinung nach "historischen Faktums" der Okkupation Lettlands zwischen 1940 und 1990 als Vorbedingung für jegliche Zusammenarbeit genannt. Auch wären dann Ewig-Getrige wie Rubiks im Abseits verblieben, nach dessen Ansicht "die sowjetische Armee 1940 auf Bitten der lettischen Regierung" einmarschierte.
- bei den Gesprächen zwischen dem SC-Tandem Ušakovs/ Urbanovics und der Zatlers Partei bzw. Vienotība hatte es kaum inhaltliche / sachliche Differenzen gegeben. Die SC hatte lediglich auf ihrer Rentenkonzeption als eines ihrer Schwerpunktthemen bestanden, aber war bereit Dombrovskis als Ministerpräsident und eine Fortsetzung der strikten Finanzpolitik (für die Dombrovskis steht) mitzutragen.

Zatlers und die doppelte Zurückweisung
Kurz nach den Wahlen konnte sich Ex-Präsident Valdis Zatlers noch als Wahlsieger fühlen: alle "Oligarchen-Parteien" abgestraft, er selbst ging als Verhandlungsführer aller denkbaren Koalitionsvarianten in die Gespräche. Nun bleibt ihm gar nichts. Vielleicht ist ihm noch abzunehmen ernsthaft versucht zu haben einen konstruktiven Weg abseits eingeretener Pfade und Sackgassen finden zu wollen. Aber ein Zwischenergebnis der Gespräche mit dem Satz "davon bringen uns nur noch Panzer ab" zu charakterisieren und sich damit angreifbar zu machen, erinnert wieder an die Zeit als etwas unbeholfen und etwas hölzern agierender, mäßig populärer, durch undurchsichtige Parteiabsprachen ins Amt gekommener Präsident. Überrascht von den Protestaktionen des lettischen Elektorats schwenkte er dann doch auf die "nationale Seite" um und spaltete durch diese Vorgehensweise seine gerade erst frisch gegründete Partei.
Die Jung-Nationalisten dagegen, denen sowohl die auf offener Bühne erfolgende Diskreditierung des alten Parlaments, die Möglichkeit von dessen Entlassung im Rahmen einer "Volksbewegung", wie auch die Stimmung gegen die "Oligarchen-Parteien" viel Wasser auf die eigenen Mühlen gab und die ihre Kandidaten sämtlich in weißen Westen gekleidet präsentierten, sehen das öffentliche Hochjubeln und Niederschreiben sicherlich mit Befriedigung - ein demokratischer Held war Zatlers nicht. Zatlers dagegen saß am 17.Oktober fast an denselbem Platz im Parlament wie am 2.Juni - und erlebte zum vierten Male seine Nicht-Wahl (Bērziņš wurde im 2.Wahlgang mit 53 Stimmen gewählt, gegen 41 Stimmen für Zatlers). Die nun ins Auge gefasste Koalition war bei der ersten Sitzung des neuen Parlaments nicht in der Lage, mit ihren 56 Stimmen ihren Kandidaten Zatlers auch zum Parlamentspräsidenten zu wählen, und nach zweimaliger Nicht-Wahl bekam dann Kandidatin Solvīta Āboltiņa mit 51 Stimmen eine knappe Mehrheit. Was nun? Für Zatlers bleibt außer dem Fraktionsvorsitz (die ihm ja sowieso nicht folgt, wie der Austritt von 6 frisch gewählten Abgeordneten zeigt) nichts mehr übrig, und Finanzkungler Lembergs lachte sich schon am 2.Juni ins Fäustchen mit seiner Aussage: "Zatlers ist der Nachfolger von Nero, der Rom selbst niederbrannte".

Geübte Uneinigkeit: "Vienotība" als Platzhirsch
Auch "Vienotība" vereinigte sich erst vor wenigen Wochen, gebildet von drei Parteien. Nach den Wahlen zunächst als Verliererin dastehend, hat sie sich nun erfolgreich gegen die neue Konkurrenz der "Zalters Partei" behauptet und wird voraussichtlich - wenn auch mit viel Abstimmungsglück - den nächsten Regierungschef, den Finanzminister, und die Parlamentspräsidentin stellen. Zudem ist Klāvs Olšteins, der "Wortführer" der sechs Abtrünnigen der Zatlers Partei, ein ehemaliger Vienotība-Mann und nach Ansicht einiger Kommantatoren immer noch ein "U-Boot" derselben. Olšteins, dessen Frau lange als Mitarbeiterin im Büro von Solvīta Āboltiņa arbeitete, der mit Tränen in den Augen noch am 2.Juni sein Abgeordnetenmandat niederlegte - angeblich aus Protest gegen die Nicht-Wahl Zatlers - hat nun selbst den Erfolg von Zatlers an entscheidender Stelle torpediert. Allerdings wird der Erfolg der Vienotība nun ganz davon abhängen, wie erfolgreich die Regierung Dombrovskis nicht nur die Finanzen stabilisiert, sondern auch andere dringende Themen wie soziale Fragen, Verkehr, Familienpolitik, Gesundheitspolitik und Regionalpolitik in den Griff bekommt und sich gegen die geschlossenen Reihen der Saskaņas Centrs, die keine radikalen und möglicherweise populistischen Posititionen für eine Regierungsbeteiligung aufgeben musste, wird behaupten können.

7. Oktober 2011

Ein Schwede mit lettischen Vorlieben

Tomas Tranströmer ist der diesjährige Nobelpreisträger für Literatur. Ein Mann, der in Lettland nicht unbekannt ist und hier viele Freunde hat. Tranströmer ist auch ein Künstler, der die Bezeichnung "Ostseedichter" verdient hätte. Glücklicherweise sind Texte seiner "Östersjöar", geschrieben in den 70er Jahren, durch das Projekt "Baltic Sea Library" in mehreren ("Ostsee"-)Sprachen verfügbar.
Dass er auch ein Bewußtsein für die Nachbarn Schwedens an den übrigen Ostseeküsten hatte, zeigen vielleicht Zeilen wie diese:
Es handelt von Orten, wo die Bürger unter Kontrolle stehen,
wo die Gedanken mit Notausgängen gebaut werden,
wo ein Gespräch unter Freunden wirklich zum Test wird für das, was Freundschaft bedeutet.

 aus: "Östersjöar", übersetzt von Hanns Grössel
Auch die lettische Kulturszene reagiert sehr erfreut auf die Würdigung von Tranströmers Werk durch den Nobelpreis. Denn der Schwede war fast sein Leben lang befreundet mit einer der bekanntesten lettischen Schriftstellerinnen, Vizma Belševica, und er pflegte auch enge Kontakte zu einem anderen Veteranen der lettischen Literatur, Knuts Skujenieks. Schon in drei Wochen - so die bisherige Planung - plante Tranströmer einen Besuch in Lettland. Trotz des nach einem Schlaganfall gesundheitlich sehr angeschlagenen Gesundheitszustands ist der Besuch ein lang gehegter Wunsch des Schweden.

Im Mansards Verlag in Lettland ist Tranströmers Gedichtsammlung zu haben, übersetzt von Juris Kronbergs und Guntars Godiņš. Der Verlag schreibt in seiner Presseinfo zu diesem Buch: "Als 1998 die schwedische Gemeinde Västerås beschloss einen Literaturpreis zu schaffen, der herausragenden Dichterpersönlichkeiten im Ostseeraum zuerkannt werden sollte, da waren Vizma Belševica und Knuts Skujenieks die ersten Preisträger. Auf die Frage, was die Dichtersprache von anderen Sprachen unterscheide, antwortete Tranströmer damals: 'Die Dichte. Gedichte sind, unter anderem, die verdichtetste Art Informationen mitzuteilen. Trugbilder, Intuitionen, Erinnerungen, Standpunkte - dort ist das alles.' " (in Västerås lebte Tranströmer 35 Jahre lang, und die Stadt zeigt sich in einer Pressemitteilung ebenfalls sehr stolz auf den Preisträger).

In Lettland wird nun gebangt, dass weder Tranströmers angeschlagene Gesundheit, noch die mit der Preisverleihung zusammenhängenden Prozeduren seinen geplanten Lettland-Besuch verhindern. Bekannt ist die große Verbundenheit des Nobelpreisträgers zu einigen Plätzen in Lettland, wie zum Beispiel Jūrmala. Bereits im Jahre 1970 besuchte der Schwede erstmals Lettland - seine lettischen Gesprächspartner von damals (Belševica, Skujenieks) bezeichnen das in der Rückschau als "konspiratives Treffen". Tranströmer selbst schrieb damals in einem Brief an einen Freund in den USA: "Mein Übersetzer [Zigurds Elsbergs, mit Vizma Belševica verheiratet] war nicht darauf vorbereitet mit den Strukturen der Machthaber zusammenzuarbeiten, daher kündigte er seine Arbeit und spielt jetzt Geige in einem Orchester."

Tomas Tranströmer in der "Baltic Sea Library"

29. September 2011

Neues Face fürs "sejas grāmata"

Alle in Lettland warten auf die Bildung einer neuen Regierung. Alle? Nein, ein paar Freundinnen und Freunde der virtuellen Welt des Internets machen sich Sorgen, trotz frisch gewählter Regierung könnte Lettland jemand in der großen, weiten Welt da draußen niemand mögen. "Niemand mag Lettland! Warum? Weil Lettland keine Facebook-Seite hat!"

Diese Sorgen macht sich offenbar die Regierung höchst selbst. Wenn also eine regierungsamtlich betriebene Seite in Facebook existieren würde, könnte es vielleicht ganz leicht erreicht werden, dass Tausende von Menschen (Letten wohl möglich auch!) die lettische Regierung mögen. Wie man das erreicht? Das staatliche lettische Institut schreibt einen Wettbewerb aus zum Design und den Inhalten dieser Seite, ergänzt die Bedingungen was auf dieser Seite stehen darf, und verhandelt mit Facebook selbst damit ausnahmsweise mal ein Nutzer auch einen Ländernamen haben kann (was normalerweise so ohne weiteres nicht zulässig ist).  
Gesagt, getan: Rihards Kalniņš, seines Zeichens zuständig für die PR beim Lettischen Institut, schrieb zusammen mit einer Vertreterin der lettischen Staatskanzlei Anfang September einen Wettbewerb aus. Bis zum 4.Oktober können nun alle, die diese Entwürfe im Internet anschauen, ihre Favoriten wählen (mit dem Facebook-üblichen Kennzeichnen durch "Gefällt mir"). Fünf Entwürfe stehen zur Wahl, der Sieger bekommt einen Sachpreis. Der Aufwand ist nicht unerheblich: Ende August wurde extra zu diesem Zweck ein Treffen von wie es heißt - Medienexperten, Bloggern und "Experten der sozialen Medien" - einberufen, um über wünschenswerten Inhalten und Strukturen einer Facebook-Seite zu beraten. Die Entscheidung über die Entwürfe bewertet eine Jury von 16 Personen. Zanda Šadre, angestellt bei der lettischen Staatskanzlei, erzählte lettischen Journalisten wie die Idee entstand: "Ich habe die englischen BBC-Nachrichten geschaut. Da wurde der griechische Präsident gefragt, welche Länder er als positive Beispiele ansehe, wie man gut aus der Wirtschaftskrise wieder heraus kommen könne. Ich dachte natürlich jetzt würde Lettland genannt, aber er konnte kein Beispiel nennen. Da verstand ich, dass die Art wie die Regierung mit den Menschen kommuniziert geändert werden muss, und so jeder leichter an Informationen kommen könnte."

Nur die übliche Parteiendenkweise, wenn die Wählerzustimmung zurückgeht? (= Kommunikation mit unseren Wählern muss verbessert werden). Ich muss da auch unwillkürlich an die kürzlich erfolgte Schließung der "Baltikum"- Fremdenverkehrszentrale in Deutschland denken. Wäre die lettische Regierungsstrategie eine pure Erfolgsgeschichte, so müsste ja die Schließung auch ein Erfolg sein (die Gründe wurden übrigens immer noch nicht öffentlich bekannt gegeben, aber vermutlich spielen zwei Dinge eine große Rolle: die Finanzen, und Streit um das Konzept). Nun fangen lettische Regierungsmitglieder also an sich zu beklagen, dass niemand im Ausland etwas von Lettland kennt (trotz Zuwachs an Billigtouristen, offenbar). Unbezahlte lettische Nachwuchskräfte (der "Sieger" bekommt einen Sachpreis, wie gesagt) sollen es nun richten. Den Aussagen von Frau Šadre zufolge war es Ministerpräsident Dombrovskis höchst selbst, der den Brief an Facebook schrieb (hat Mr. D denn selbst eine Facebook-Seite? Ja, er hat! Die Infos, die draufstehen, sind kopiert von Wikipedia, und er hat momentan 51 "Freunde"!). Lettland wäre nach Aussagen der Staatskanzlei das weltweit erste Land mit eigener Facebook-Seite. 
Hoffentlich kommt keine Anfrage zurück. Von Facebook an Mr. D. "Sind Sie noch befugt, für die lettische Regierung und ihre Facebook-Seite zu entscheiden?" Und hoffentlich findet jemand eine Antwort - sonst muss mit dem Slogan gerechnet werden: "Dream the impossible - like Latvia, even if it has strange governments ..."