17. Januar 2021

Alles eine Familie ... ?

Im November hatte das lettische Verfassungsgericht über den Fall einer Mutter geurteilt, die für ihre lesbische Partnerin das Recht auf "Elternurlaub" einklagen wollte, so wie es auch allen Vätern in Lettland gewährt wird (lsm). Als Begründung wurde unter anderem genannt, das Kind habe ein Recht auf emotionale Zuwendung auch von ihrer Partnerin. Artikel 110 der lettischen Verfassung legt den Schutz der Familie fest - definiert diese allerdings gleichzeitig als Verbindung zwischen Mann und Frau (siehe: likumi.lv). Dennoch gab das Verfassungsgericht der Klagenden Recht - Vorrang habe auf jeden Fall das Kind, und hier sei eine Gleichbehandlung wichtig. Bis zum 1. Juni 2022 soll der Gesetzgeber nun die Rechtlage anpassen - ein Anlass zur Unruhe unter vielen lettischen Politiker/innen. 

"Es gibt heilige Werte, die seit Hunderten von Jahren für uns und unsere Kultur gelten," meint Raivis Dzintars, Chef der rechtskonservativen "Nationalen Allianz" (NA), "und einer dieser Werte ist, das eine Familie aus Vater, Mutter und deren Kindern besteht." (lsm) Kaum verwunderlich also, dass die NA bereits eine Formulierung ausgearbeitet hat, um die lettische Verfassung zu ändern - zur Durchsetzung bräuchte es allerdings im Parlament eine Zwei-Drittel-Mehrheit. 

Inzwischen hat auch das lettische Parlament bereits diese Frage diskutiert (lsm). Für eine Verfassungsänderung votierten 47 Abgeordnete, 25 dagegen. 7 waren nicht anwesend, und 21 stimmten nicht mit ab - was im lettischen Parlament möglich ist; von der Fraktion "Saskaņa" stimmten überhaupt nur drei der 19 Abgeordneten ab. Das sieht alles vorerst nach einer ordentlichen Portion Parteitaktik aus. Nun wird in den Parlamentsausschüssen weiter diskutiert. Ministerpräsident Krišjānis Kariņš hatte sich gegen Verfassungsänderungen ausgesprochen - vor allem mit dem Argument, es gäbe momentan viele wesentlich wichtigere Themen in Lettland. 

Das lettische Verfassungsgericht bei seiner
ersten Sitzung am 28.4.1997 (Foto: Blumbergs)
Aber denjenigen, denen Lettlands Entwicklung momentan nicht konservativ genug ist, haben sich längst auf ein weiteres Ziel eingeschossen: Braucht Lettland überhaupt ein Verfassungsgericht? Es wurde erst 1997 neu geschaffen. 

Seit dem 6. Mai 2020 wird das lettische Verfassungsgericht von zwei Frauen geleitet: von Ineta Ziemele als Vorsitzende und Sanita Osipova als Stellvertreterin. Ziemele wechselte im Oktober 2020 an den Europäischen Gerichtshof - also wurde Osipova inzwischen neue Vorsitzende. 

Noch nie sei die Unabhängigkeit der lettische Gerichtsbarkeit so gesichert gewesen wie momentan, meint aber Osipova in einem Interview mit der Zeitschrift "IR". Osipova, die ihre Dissertation zum Lübecker Stadtrecht schrieb und neben einer Professur an der Lettischen Universität auch schon eine Gastprofessiur in Münster wahrnahm (Lettische Presseschau / Diena), wurde kürzlich von der "Europäischen Bewegung Lettlands ("Eiropas kustība Latvijā") zur "Europäerin des Jahres 2020" gewählt (bnn). "Lettland braucht eine Kultur der Toleranz, wo die Menschenwürde für alle gleich gilt", so formulierte Osipova es in der Zeitschrift "Jurista Vārds".

Es gibt auch nicht nur die Fürsprecher der Ausschließlichkeit der traditionellen Ehen. Auf dem Portal "ManaBalss" (Meine Stimme) sammeln sich im Moment die Befürworter eines Vorschlags, der Gesetzgeber möge jede Form des Zusammenlebens als gleichwertig anerkennen. "Eine Heirat wird in der lettischen Gesellschaft nicht mehr als einzige Form einer Familie angesehen", so steht es dort zu lesen, und inzwischen gibt es über 20.000 Unterschriften dafür. Dahinter steckt der Verein "Dzīvesbiedri" (Lebenspartner), "Mozaika", und Aktivisten wie Kaspars Zālītis. Auch eine Eingabe an das Parlament gegen eine Verfassungsänderung wurde hier bereits erarbeitet (delfi). 

In Lettland kamen 2019 insgesamt 18786 Kinder zur Welt (csb). Davon wurden 61,6% von verheirateten Paaren geboren. "Die häufigste Form der Familie in Lettland ist die einer alleinerziehenden Person mit einem oder mehr minderjährigen Kindern", so stellt es das Lettische Statistikamt für 2020 fest. 23,6% aller als Familien erfasste Lebensgemeinschaften sind solche Haushalte von Alleinerziehenden, gefolgt von 22,3% Paare ohne Kinder. Nur 16,2% sind verheiratete Paare mit Kindern. Seit 2011 habe sich die Anzahl der Haushalte speziell mit allein lebenden Frauen mit Kindern erheblich gesteigert, und dazu gäbe es klare Gründe: zum einen weise Lettland eine der höchsten Scheidungsraten in der gesamten Europäischen Union auf (3,1 pro 1000 Einwohner). Zum anderen würden etwa 40% aller Kinder außerehelich geboren. Und dazu kommt noch, dass die Statistik diejenigen Familien, wo einer der Elternteile dauerhaft im Ausland wohnt, eben als Haushalt von Alleinerziehenden zählt.