29. Oktober 2006

Protzen wie die Wessis

Das hat uns noch gefehlt! Deutsche ante portas! Wie war das noch, als die Mauer fiel, und etliche Deutsche sich dann in ihre Luxuskarossen setzten, um ihre "Claims" im Osten abzustecken? - Ähnlich könnten sich jetzt die Einwohner von Vilnius und Riga gefühlt haben, als sie in dieser Woche von 33 blitzblanken Mercedes-Karossen überrascht wurden. 

Laut SPIEGEL handelt es sich dabei um eine Werbemaßnahme des Stuttgarter Autowerks, um die runderneutete E-Klasse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Im Autoland Deutschland lassen sich dabei aber nicht nur Firmenangestellte einspannen: Annonciert wurde eine Tour von Paris nach Peking, und ausgesuchte "Freiwillige" dürfen nun die Nobel-Karossen 13.600 km in 28 Tagen in die chinesische Hauptstadt kutschieren. Interessierte konnten sich auf einer eigens eingerichteten Webseite bewerben. Zusammen fahren diese 33 Blech-Botschafter 450.000 km im Laufe ihrer Tour. "Normal tanken" müssen die edlen Fahrzeuge dabei nicht: laut HAMBURGER ABENDBLATT bekam der Hamburger Unternehmer Stefan Königs von Mercedes den Auftrag, die 33 Teilnehmer plus Begleitfahrzeuge auf der gesamten Fahrt mit Kraftstoff zu versorgen. 

Macht Autofahren blind? Sollen Sie doch fahren, oder? Schließlich sind es laut SPIEGEL zum Beispiel Taxifahrer, die Mercedes-Stammkunden, die sich für einzelne Etappen als Fahrer der "Silberautos" beworben haben. Wären da nicht die unvermeidlichen Journalisten .... Dank der kostenlosen Berichterstattung in den Medien (das nennt sich "Gefälligkeitsjournalismus", oder?) geisterten in dieser Woche etliche Berichte über die erste Etappe Richtung St.Petersburg durch die Gazetten. Und endlich kommen wir auch zu ein paar Hochglanzfotos von dem gegenwärtig größten Übel in den Altstädten von Vilnius und Riga: immer noch ist gegen eine geringe Gebühr dort das Autofahren erlaubt, und flanierende Urlauber wie unvorsichtige "Locals" müssen aufpassen, nicht von diesen Vorrechtinhabern "übergebügelt" zu werden. Danke, Mercedes, dass ihr uns dies noch einmal vor Augen führt! Ausserhalb der Altstädte - besonders in Riga - gibt es das, was der Lette gewöhnlich "sastrēgums" nennt (auf Deutsch = Stau). Doch davon berichten die deutschen Oberklasse-Autofans nichts. Stattdessen fallen "triste Wohnsilos" auf, welche die Automobilisten lieber schnell hinter sich lassen, schreibt ein Reporter des STERN, und freut sich über "leere Autobahnen, wie die Wüste Gobi in der Rush-Hour". 

Der Satz darauf ist aufschlußreich: "Da ist es kein Wunder, dass hier schon mal Radfahrer unterwegs sind und es sogar Bushaltestellen gibt." An diesem Wesen kann das autoverrückte Lettland kaum genesen ... Ja, so ist das, wenn man ein Land nur durch das Fenster einer Luxuskarosse kennenlernt, und auf geraden Straßen Geschwindigkeitsbegrenzungen für das größte Übel auf Erden hält. Immerhin nimmt der STERN-Abgesandte die krassen Unterschiede zwischen Stadt und Land in Lettland wahr. Erstaunlich der Eindruck der E-Klasse-Reisenden, in Lettland werde weniger gerast als in Polen und Litauen. Auch die Gründe dafür werden geliefert: "Es gibt Schlaglöcher und Pfützen, so tief, das Katzen darin ertrinken könnten." Ein anderer Eindruck wird in der NETZEITUNG geschildert: "Die baltischen Hauptstädte haben Straßennamen, die klingen wie ein neues IKEA-Regal." Nun, jeder findet das, was er von zu Hause gewohnt ist, oder? Bei AUTO-BILD wird es dann ganz privat: "Im Parkhaus drücke ich die Taste der Fernbedienung und will den Mercedes öffnen. Er blinkt freudig, grüßt trotz der tiefen Ringe unter den Augen, Autos sind eben die besseren Menschen." - Ja, soweit kann es kommen, mit Benzin und Blech im Herzen ... 

100.000 Liter ARAL SuperDiesel werden die deutschen Edelkarossen auf ihrer Fahrt verbrauchen. Ob das Werk diese Kosten als Werbungskosten von der Steuer absetzt, ist leider nicht bekannt. Was aber Lettland blüht, wenn noch mehr dieser speziellen Autofans das Land bereisen, zeigen solche Stilblüten aus dem speziell eingerichteten Blog von Auto-Bild: "Die lieben Letten bauen zwar wunderbare Straßen, mehr als 110 km/h sind aber nicht gefragt. Man möge sich diese Tränendrücker-Situation vorstellen: Ein tatendurstiger E 320 CDI quält sich per Tempomat fast im Schritt-Tempo über eine etwa 250 Kilometer lange Gerade. Man könnte verzweifeln, doch die Aussicht auf Handschellen und Schwierigkeiten ist auch nicht viel besser." - Immherin waren in Lettland wohl die Tempokontrollen unübersehbar. Im Blog von "Auto-Motor-Sport" wird nicht soviel "gelitten" - dort schreibt der Autor, er habe immer "ein paar kleine Dollars dabei, um Bestechliche zu fetten". Sieh an - und wer beschwert sich immer über die angeblich unverbesserlichen Zustände in Osteuropa? Ansonsten erzählt dieser Schreiber lieber über seine speziellen Unterhosen, deren Nachlieferung er sehnlichst erwartet, und berichtet, dass vor den Kirchen die Bettler auf Deutsch betteln. Na, wie sonst soll man denn einen Mercedes erfolgreich erweichen? 

Ein wenig Ehrlichkeit kommt am Schluß dieses Berichts auch durch: "Die Gerüchteküche in der Karawane brodelt. Man hockt einfach zu lange im Auto und spinnt vor sich hin. Tun wir auch, aber solange wir nicht mit Singen anfangen, ist wohl alles noch normal. Diese elend langsame Fahrerei zwischen den immer ähnlichen Waldwänden." - Na, da haben schon ganz andere in Lettland mal richtig das Singen gelernt. Aber jedem das seine. Die Karwane zieht weiter, heisst es so schön. Und hinterlässt Ideen, dass man auch anders reisen kann - und nicht unbedingt auf Privilegien neidisch sein muss Autos fahren zu dürfen, die einem nicht gehören.

27. Oktober 2006

Police Piquet


Police Piquet
Originally uploaded by RK Catch.
von RK Catch, Fotos "von der Straße". Hier der Protest lettischer Polizisten gegen zu niedrige Löhne. Ansonsten schickt RK Catch jeden, der die Fotoseite besucht, auf die Reise in die nächtliche Musikszene Rigas (Foto inzwischen nicht mehr verfügar).

25. Oktober 2006

Lettland: Komplette Wahlergebnisse liegen vor

In Riga hat die zentrale Wahlkommission die Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 7.Oktober 2006 vorgelegt. Neben der prozentualen Stimmverteilung, die bereits in der Wahlnacht bekannt wurde, ist immer die Liste der tatsächlich gewählten Abgeordneten interessant. In Lettland haben die Wählerinnen und Wähler das Recht, einzelne Kandidaten neben dem ankreuzen (mit einem "Plus" versehen) auf der von Ihnen gewählten Liste zu streichen (gleich = Kandidat mit einem "Minus" versehen).
Die Reihenfolge der auf einer Pateiliste dann tatsächlich ins Parlament gewählten Personen hängt also von der Präferenz der Wähler/innen ab. Tatsächlich gab es auch diesmal eine Überraschung: die bisherige Präsidentin des lettischen Parlaments, Ingrida Udre, wurde aufgrund vieler "Streichungen" auf den Wahlzetteln nicht wieder ins Parlament gewählt. Nach verschiedenen Parteiwechseln, und nach einer ins Zwielicht gerückten Kandidatur zur EU-Kommissarin (unter der zwischenzeitlich im Amt befindlichen Regierung Emsis) nun wohl endgültig ein Knick in ihrer politischen Karriere.
Ein Nachfolger im Amt des Parlamentspräsidenten wird auch bereits gehandelt: Lettischen Pressemeldungen zufolge will die mit 18 Sitzen im Parlament vertretene "Grüne Bauernliste" nun den ehemalige Ministerpräsident Emsis für dieses Amt vorschlagen.

Die vollständige Liste aller ins Parlament gewählten Personen findet sich hier.

Sympatien und Antipatien
Auch erste Detailergebnisse zur Wählergunst wurden heute bekannt. Wie TVNET heute meldet, ist Ministerpräsident Kalvitis auch derjenige mit den meisten "Pluszeichen" hinter seinem Namen (bekam also die meisten positiven persönlichen Hervorhebungen von seinen Wählerinnen und Wählern). TVNET zufolge führt Kalvitis (Tautas Partija / Volkspartei) die Liste der am meisten positiv gewerteten Politiker/innen mit 73.678 "Pluszeichen" an, gefolgt von Sandra Kalniete (Jaunais Laiks / Neue Ära - JL) mit 67806 und Einars Repše mit 44.181 "Plusi".
Dass der ehemalige Bankchef und kurzzeitige Ministerpräsident Repše immer noch eine stark umstrittene Figur ist, zeigen auch die 26.371 Minuszeichen (Streichungen) auf den Wahlzetteln. Offensichtlich wählen viele inzwischen seine Partei, aber mögen die Person nicht besonders - genau wie die andere Seite der "JL"-Unterstützer, die gerade eben Repše meinen, wenn sie seine Partei wählen. Das Image der "Saubermann-Partei" hat die JL aber offensichtlich eindeutig verloren.

Dass es auch bei der "Grünen Bauernliste" viele umstrittene Figuren gibt, wurde schon vielfach berichtet. Mit 26.225 Streichungen war Ingrida Udre dermaßen unbeliebt, dass sie aus der Liste der gewählten Parlamentarier herausfiel. Dass aber auch ihr potentieller Nachfolger im Amt des Parlamentspräsidenten und Parteikollege Indulis Emsis viele Antipatien auf sich zieht, zeigen seine 11.184 Minuszeichen auf den Wahlzetteln (3.Stelle der Unbeliebtheit).

17. Oktober 2006

Lettland zwischen Praesidenten und Koeniginnen

Estlands frisch gewaehlter Praesident Toomas Hendrik Ilves zeigte ungewohnte pro-baltische Neigungen, als er seinen ersten Auslandsbesuch bei seiner lettischen Kollegin Vike-Freiberga in Riga machte. "Lettland liegt mir am Herzen", zitierte ihn die heimische Presse.
Dass Ilves in Lettland sogar noch vor dem traditionellem Besuch beim "grossen Bruder" Finnland Station machte, fand auch in der lettischen Presse ausfuehrlichen Wiederhall. "Estlands erster Praesident, der auch mit Laptop und Handy unterwegs ist", schrieb DIENA am 13.Oktober, nicht ohne zu erwaehnen, dass Ilves als eine seiner ersten "Amtshandlungen" auch das Grab des verstorbenen estnischen Praesidenten Meri besucht habe. "Er war mir ein grosses Vorbild und sehr guter Freund. Ich wollte ihm nur sagen, dass ich versuchen werde, ein so guter Praesident zu sein wie er es einer war." (Ilves ueber Meri, zitiert nach DIENA).
Eine weitere Anekdote wird von der Pressekonferenż Ilves in Riga berichtet. Journalisten hatten das schon die vergangenen Monate beliebte "Baerenthema" aufgegriffen: auf der estnischen Insel Ruhnu war im Fruehsommer ein Baer gesichtet worden, von dem es damals hiess, er habe sich mit auftauendem Eis aus Lettland auf die estnische Insel gerettet. Inzwischen ist das Pelztier aber vor den Reporteraugen erneut geflohen und ward nicht mehr gesichtet. Lettischen Lokalzeitungen zufolge seien jetzt ueberraschend Baerenspuren nahe dem kurlaendischen Dundaga aufgetaucht. - Hat man aber schon mal den estnischen Prasidenten vor sich, kann man ihn ja auch mal in dieser Sache befragen. "Keine Angst, in Estland haben wir aber doch gar kėinen Lacplesis" (lettische Sagengestalt = Baerenreisser) so Ilves zur lettischen Presse - und hatte die Sympathien auf seiner Seite (und gleichzeitig die Beweise fuer Kenntnisse in lettischer Befindlichkeit).

Land ohne Regierung - aber mit hoechsten Staatsgaesten
Auch morgen wird schon wieder ein Staatsgast erster Guete in Riga erwartet: die britische Koenigin Elisabeth II besucht, aus Litauen kommend, auch Riga. Auch dies hat einigen symbolischen Wert, beeilt sich die lettische Presse zu betonen (DIENA). Neu hervorgekehrt werden dabei Bezuege Rigas zum Vereinigten Koenigreich: so war der Schotte George Armisted 1901 bis 1912 Buergermeister von Riga und veranlasste u.a. den Bau von Schloss Jaunmoku bei Riga, damals zur Feier des 700-jaehrigen Staedtegeburtstages.
Britisch/englische Anteile an der Erlangung der lettischen Unabhaengigkeit 1918 sind natuerlich ebenso unvergessen.

Derweil spekulieren die politischen Auguren immer noch ueber die Zusammensetzung der neuen lettischen Regierung. Drei Parteien (Tautas Partija, Pirma Partija/Latvijas Cels und die Gruene Bauernliste) wollen so gut wie sicher weiterarbeiten in der Regierung und haben 51 von 100 Stimmen im lettischen Parlament sicher. Ob es eine erweiterte Koalition entweder mit den national gesinnten von "Tevzemei un Brivibai" oder mit "Jaunais Laiks" (JL) geben wird, scheint sehr weitgehenden politischen Verhandlungen ueberlassen. Sollte dabei die Repse-Partei der JL aussen vor bleiben, spekulieren einige Medien bereits mit Veraenderungen auch im Stadtrat von Riga - einem beliebten Objekt von Machtspielchen aller Parteien. Obwohl dort Jaunais Laiks mit 14 Sitzen den weitaus groessten Einfluss hat, vermuten nach dem erfolgreichen Wahlkampf der Tautas Partija unter Regierungschef Ainars Kalvitis einige einen erhoehten Machtanspruch aus dieser Richtung. Da bleiben auch Gedankenspiele der Kooperation mit den Sozialdemokraten oder sogar dem "Saskanas Centrs" im Rigaer Stadtrat nicht tabu. Wahrscheinlich ist das jedoch nicht sehr - zu gross ist die Auswahl moeglicher politisch nahestehenderer Partner fuer Kalvitis. Aber die lettische Presse hat immer schon gern mal zu beweisen versucht, dass sie mit Spekulationen und Geruechten gut Seiten fuellen kann ...

10. Oktober 2006

Stabile lettische Parteien, irritierte deutschsprachige Medien

Riga, 10.Oktober. Die Wahlen sind entschieden, die Parteienkoalitionen voraussehbar. Eventuell gibt es sogar genau dieselbe Parteienkoalition in der Regierung wie bisher. Das scheint aber immer noch eine zu schwere Aufgabe fuer die deutschsprachige Presse zu sein - denn wer kennt sich da schon so genau aus? In Lettland gehen die Menschen zum Alltag ueber - denn Begeisterung war es keinesfalls, die dieser scheinbare "Weg der Stabilitaet" gewaehlt wurde. Abbildung: Lettlands politische Landkarte (Quelle: DIENA)

Politische Richtungsangaben - auf die einfache Art 

"Wir werden Gespraeche mit allen Mitte-Rechts-Parteien aufnehmen", so zitiert DIE ZEIT Regierungschef Kalvitis. Ohne solch scheinbar eindeutige Orientierungshilfen wagt sich die deutschsprachige Tagespresse kaum an eine Analyse. Im gleichen Beitrag wird behauptet: "Linke schneiden ueberraschend gut ab". Und was ist in Lettland bitte "links"? Alle Parteien, die fuer irgendwie "Russen-freundlich" gehalten werden? DIE ZEIT hat ein "Harmonie-Zentrum" gefunden, (offensichtlich populaerdeutsche Uebersetzung von "Saskanas Centrs" - SC), deren Abschneiden die verantwortlichen Journalisten ueberrascht hat. Aber was ist mit der PCTVL, die "Bienen" (nach ihrem Parteisymbol benannt), deren Frontfrau Tatjana Zdanoka so medienwirksam vom Europaparlament aus agititieren kann? Jahrelang dominierte diese Partei die sogenannte "linke" Szene in Lettlands Politik, agitierte radikal gegen die Schulreform, nutzte jedes erreichbare internationale Ereignis in Riga, um die kurzfristig eingereiste Journaille ueber die "schrecklichen Menschenrechtsverletzungen" in Lettland zu infomieren. Zuletzt sprach man sich auch gegen den Bau eines neuen Gebaeudes fuer die lettische Nationalbibkliothek aus. Die Quittung bei dieser Wahl: Ein Absturz auf beinahe unter 5%. Waren die Sprueche vielleicht doch zu radikal? Vielleicht sind doch nicht alle Letten irgendwelche "Faschisten", wie es gerne offen von PCTVL-Funktionaeren behauptet wird? Wer also "ueberraschend gut" abschnitt, waren die gemaessigten Parteien, denen auch in Handeln im Sinne der Interessen russisch-sprachiger Menschen in Lettland zugetraut wird. 14,42% erreichte die SC, dreimal mehr als noch kurz vor der Wahl prognostiziert. Das ist eine der wirklichen Ueberraschungen. Nur wenig fehlt noch an einer moeglichen Regierungsbeteiligung: lossagen muesste man sich noch von sowjetromantischen Politrentnern wie Alfreds Rubiks, der als ehemaliger Rigaer Buergermeister den Putsch gegen Gorbatschow unterstuetzte. Was solche Politiker noch fuer die Zukunft beitragen koennen, verstehen wohl weder demokratisch gesinnte Letten noch Deutsche. Oder gilt der Putsch gegen Gorbatschow als Ausweis fuer linke Politik?

Auf der Suche nach dem Abnormen in der Normalitaet 

Auch die Redaktion des TAGESSPIEGEL haben offensichtlich ein paar moechtegern-kritische Journalisten erreicht. Ein "Helmut Steuer" schreibt hier, "Politiker und Geschaeftsleute" haetten versucht, Stimmen zu kaufen. Steuer sieht den lettischen Wahlkampf davon "ueberschattet". Nun, Herr Steuer, gemeint haben sie wohl das "Jurmala-Gate" aus dem Fruehjahr 2006, als es um Buergermeisterwahlen in Lettlands bekanntestem Kurort ging. Ein bischen mehr Differenzierung bitte! Dann kann lettische Politik auch richtig interessant sein! Auch die WIENER ZEITUNG versucht sich an einer Einordnung der lettischen Parteien. Die gemeinsame Liste der lettischen Gruenen und der Bauernpartei erscheint hier als "Rechts-Gruene", die "Erste Partei" als "populistisch-christlich". Na gut, kein schlechter Versuch - aber wann wird das naechste Mal ueber Lettland berichtet? Das HANDELSBLATT titelt kurz: "Lettische Regierung bleibt an der Macht". Genau! Da weiss doch wenigstens jeder, was gemeint ist, oder?

Und wer war noch dieser Lembergs?   

Was wird eigentlich aus Aivars Lembergs? "Er stand doch gar nicht zur Wahl", sind hier die schlichten Antworten auf solche Fragen. Die "Gruene Bauernliste" hatte ihn zwar zum Kandidaten fuers Ministerpraesidentenamt erkoren, aber da er nicht auf den Wahllisten stand, aendert sich gar nichts. Das lettische Wahlrecht sieht das Recht fuer jeden Waehler vor, einzelne Personen auch mit Plus- und Minuszeichen zu versehen. Diesem Urteil entging Lembergs damit ebenfalls. Stattdessen wird nachgekartet: Praesidentin Vike-Freiberga habe etwas gegen ihn gehabt und sei nicht neutral geblieben - so aeusserte es Lembergs jetzt gegenueber LETA. Abwarten kann die lettische Oeffentlichkeit jetzt in aller Ruhe die vielen Gerichtsprozesse, die mit dem Namen Lembergs verbunden sind.

 Wahlergebnisse in Prozentverteilung /Parlamentssitze - kurz gefasst: Tautas Partija = 19,58% / 23 Sitze Zaļo un Zemnieku Savienība = 16,71% / 18 Sitze Jaunais Laiks = 16,40% / 18 Sitze Saskaņas Centrs = 14,41% / 17 Sitze Latvijas Pirmās Partijas un Latvijas Ceļa vēlēšanu apvienība = 8,59% / 10 Sitze Tēvzemei un Brīvībai/LNNK = 6,96% / 8 Sitze PCTVL = 6,02% / 6 Sitze Erfolglos blieb dagegen die lettische sozialdemokratische Arbeiterpartei (Latvijas Sociāldemokrātiskā Strādnieku partija) mit nur 3,50% der Stimmen, die "Euroskeptiker" mit nur 0,37% und auch die nationalradikalen (der deutschen NPD verbundenen) Partei "Alles fuer Lettland" mit 1,49%. Zur Gesamtuebersicht des lettischen Wahlamts hier.

8. Oktober 2006

Neueste Ergebnisse: Kalvitis eindeutig der Gewinner

Nach Auszählung von 917 von 1006 Wahlbezirken melden lettischen Medien inzwischen den Einzug von sehr wahrscheinlich 7 Parteien in das zukuenftige Parlament. Unangefochten vorn liegt die Tautas Partija mit jetzt 19,69% der ausgezählten Stimmen. Es folgt die Gruene Bauernliste mit 16,93%, Jaunais Laiks mit 15,91%. Hinter diesem Trio nimmt das ueberraschend starke "Saskana Centrs" (Zentrum fuer Ausgleich) mit 13,84% den vierten Platz ein. Ebenfalls im Parlament vertreten wären nach dem gegenwärtigen Stand die gemeinsame Liste von "Pirma Partija" (Erste Partei) und "Latvija Cels" (Lettischer Weg) mit 8,59%, die rechtskonservative "Tevzemei un Brivibai" (fuer Vaterland und Freiheit), und die PVTCL (fuer Menschenrechte in einem einigen Lettland) 5,69%.
Das Ungewöhnliche dieser Gewichtsverteilung liegt nun auch darin, dass erstmals seit langem die wortradikale PVTCL nicht mehr die Meinungsfuehrerschaft bei den russischstämmigen Wahlberechtigten zu haben scheint. Wiederum nicht sehr erfolgreich war die lettische sozialdemokratische Arbeiterpartei mit nur 3,6%.

Sensation bei lettischen Wahlen: Keine Regierungsabwahl?

In Lettland werden gegenwärtig die Stimmen ausgezählt. Das erste absehbare Ergebnis könnte sein, dass zum ersten Mal nach 1991 bei lettischen Wahlen die gegenwärtige Regierung NICHT abgewählt werden wird. Allerdings geschieht das zu einem hohen Preis: Nur 62,28% der Wähler gingen zur Wahl (ca 900.000 Wahlberechtigte) - und die anderen wählten lediglich ein "möglichst kleines Uebel" (so zitiert es u.a. DELFI). Weniger Wahlbeteiligung gab es in Lettland nur bei den Kommunalwahlen 2005 (52,8%). Nur 41,3% nahmen allerdings an den Europawahlen des Jahres 2004 teil - nun geht es auch bei den Wahlen zum lettischen Parlament abwärts.

Nach der Auszählung eines Drittels der abgegebenen Stimmen liegt die Tautas Partija von Regierungschef Kalvitis knapp vorn mit 20,93%, gefolgt von der Liste der Gruenen Bauernliste mit 20,27%, und Jaunais Laiks mit 15,24%. Diese drei Parteien zusammen hätten genug Sitze im lettischen Parlament, um die Regierung zu bilden. Damit hätte Lettland dann eine sehr ähnliche Regierungszusammensetzung wie auch schon bisher. Einigen muessen sich die drei allerdings noch ueber das Recht, wer den Regierungschef stellt: nur dann, wenn die Gruene Bauernliste im Laufe der Auszählung doch noch die "Pole-Position" einnehmen kann, hat der "Koenig von Ventspils", Aigars Lembergs, noch eine Chance auf den Chefsessel in der neuen lettischen Regierung.

3. Oktober 2006

... und was gibts Neues in der lettischen Politik?

Riga. Wochenlang hatte die lettische Präsidentin Vaira Vīķe–Freiberga die Aufmerksamkeit der Weltpresse auf sich gezogen durch ihre Bewerbung als UN-Generalsekretärin und potentielle Nachfolgerin von Kofi Annan. Seit am 2.Oktober in New York bei einer erneuten Probeabstimmung nur noch ein einziger Kandidat übrigblieb - weil alle anderen eine Gegenstimme von einer der Vetomächte kassierten - kann wieder der Alltag einkehren in der lettischen Politik. Zwar werfen sich die Länder Südkorea (aus dem der Kandidat Ban Ki Moon kommt) und Vetomacht Japan gegenseitig immer noch so etwas wie "merkwürdige Geschichtsauffassung" gegenseitig vor, Japan scheint aber im Gegensatz zu Russland wenig Lust auf öffentlich zur Schau getragene Selbstgerechtigkeit zu haben. Die meisten Medien schätzen nun die Wahl Ban Ki Moons am 15.Oktober als gesichert ein.

Wahlkampf - welcher Wahlkampf?

Was hat sich inzwischen im lettischen Wahlkampf getan? Eigentlich sind die Schlagzeilen harmlos, im Vergleich zu früheren Jahren. Die Parteienlandschaft wird diesmal nicht durch eine völlig neu gegründete Partei durcheinandergewirbelt, ja nicht einmal die sonst regelmäßige Abwahl einer bisher amtierenden Regierung ist sicher. Allerdings mischte sich auch Vīķe–Freiberga gleich weider in die heimische Politik ein: wie die Tageszeitung DIENA in ihrer heutigen Ausgabe meldet, äusserte sich die Präsidentin kritisch gegenüber einem möglichen Regierungschef mit dem Namen Aigars Lembergs. Der langjährige Bürgermeister der lettischen Hafenstadt Ventspils steht inzwischen wegen verschiedener sehr zwielichtiger Geschäfte aus den 90er Jahren vor Gericht, und wohl nur er selbst bezeichnet diese Anklagen als "rein politisch motivierte Kampagnen zum Schaden seines Ansehens".Nur unter einer Bedingung könnte sie sich so einen Regierungschef vorstellen, erklärt indessen Vīķe–Freiberga: "Nur wenn die Partei, deren Kandidat er ist, 51% bei den Wahlen für sich gewinnt." Ob wirklich so viele sich für den mit allen öligen Wassern gewaschenen Kurländer entscheiden werden? Lembergs verklagte kürzlich auch die deutsche FAZ wegen angeblicher "Verbreitung von Falschinformationen" - eben zur Person Lembergs. Gemeint ist die FAZ-Ausgabe vom 23.Mai 2006 mit Schlagwörtern wie "der Oligarch von Ventspils".

Populismus aller Orten - wer liest eigentlich lettische Parteiprogramme?

Die parteipolitische Zerstrittenheit, die Tendenz zum "Kuhhandel", das hat bisher noch immer die Situation nach lettischen Wahlen geprägt. Mehr als 36 Sitze erzielte nie eine Partei im Parlament nach der wieder erlangten Unabhängigkeit (101 Sitze insgesamt). Die Wahlliste der Grünen und der Bauernpartei, die Lembergs vor einigen Wochen auf ihr Schild hob, hat noch andere "Pfeile" im Köcher, die populistische Wirkung erzielen sollen: da finden sich auf den Kandidatenlisten sowohl der politische unerfahrene olympische Vizechampion von Athen, Viktors Ščerbatihs (der als Gewichtheber auch schon für den Berliner TSC in Deutschland antrat und am Wahltag den 7.10. auch noch bei den Weltmeisterschaften antritt), wie auch bekannte Schauspieler wie Dainis Porgants. Aufsehen erzielte die Grüne Bauernliste aber auch wegen ihrer offensichtlichen Bereitwillligkeit, bisherige poltische "Einizelkämpfer" vom rechten Rand des poltischen Spektrums nicht nur in ihre Reihen aufzunehmen, sondern ihnen auch gute Posten zu verschaffen. Eines der bekanntesten Beispiele ist hier der 82-jährige Publizist Visvaldis Lācis, einer derjenigen, die keinen Hehl aus ihrem Stolz machen, in den letzten Tagen des 2.Weltkriegs gegen die Rote Armee in Reihen der deutschen Nazis gekämpft zu haben. Ein Kandidat, von denen die rechtsradikale Liste "Visu Latvijai" (Alles für Lettland) offen sagt, man hätte nichts gegen eine Kandidatur von Lācis auch auf der eigenen Liste einzuwenden gehabt. Von ähnlichem Kaliber ist Aleksandrs Kiršteins, in den vergangenen Jahren Mitglied verschiedener Parteien, zuletzt rochen der "Tautas Partija" (Volkspartei) Kiršteins Äusserungen zu sehr nach Antisemitismus, um ihn in ihren Reihen behalten zu wollen. Den Grünen Bauern alles keine Gründe, Bedenken zu haben - und die Umfragen steigen. Auch andere Parteien bemühen sich um neue "VIPs" auf den Kandidatenlisten. Wer kennt noch den Speerwerfer Janis Lusis, der 1972 bei den Olympischen Spielen in München mit 2cm nur knapp dem deutschen Olympiasieger Klaus Wolfermann unterlag? Eine lettische Sportlerlegende, die jetzt für die Sozialdemokratische lettische Arbeiterpartei LSDSP kandidiert (die bisherigen Umfragen zufolge allerdings an der 5% Hürde scheitern könnte). Die PCTVL, ein politisches Bündnis vor allem zur Durchsetzung von mehr Rechten für die russisch-stämmigen Menschen in Lettland (Parteilogo: die stechende Biene), nahm diesmal zwei bekannte Journalisten russischsprachiger Zeitungen in ihre Kandidatenreihen auf: Ksenija Zagorovska ("Čas") und Andrejs Kozlovs ("Fenster").

Dennoch wird es wohl auch diesmal kaum reichen, um mit anderen politisch gleich Gesinnten eine Mehrheit im kommenden Parlament bilden zu können. Abschreckend auf lettische Wähler wirken immer noch die radikalen Parolen der stark mit Regierungsstellen in Russland verknüpften PCTVL-Politfunktionäre, die dazu tendieren, alle Letten pauschal als "Faschisten" zu beschimpfen, weil sie sich notorisch abneigend gegen die im Zuge des 2.Weltkriegs erfolgte Okkupation Lettlands durch die Rote Armee aussprechen. Solchen Parolen steht dann die nationale Rechte (Visu Latvijai), die auf ihrer Internetseite offen mit Kontakten zur deutschen NPD wirbt, regelmäßig zum Schlagabtausch gegenüber - zum Schaden der politischen Aufklärung für die breite Wählerschaft. Die Liste "Saskaņas centrs" (SC - Zentrum für Einklang/Ausgleich) versucht sich in diesem Spektrum als zwischen den Linken und der politischen Mitte liegende Kraft mit Forderungen z.B. nach erheblichen Erhöhung der Altersrenten zu profilieren. In Reihen der SC haben sich einige aus Rigas Stadtrat erfahrene Lokalpolitiker wie Sergejs Dolgopolovs eingefunden. (Abbildung links: historisches lettisches Wahlplakat, siehe auch hier)

Wer Geld hat, regiert

Womit machen die anderen Parteien Schlagzeilen? Einars Repše, ehemaliger Banken- und Regierungschef, Frontfigur der neokonservativen "Jaunais Laiks" (Neue Ära), überfuhr mit dem Auto einen "kaum bekleideten Mann", der im lettischen Kleinstädtchen Koknese nachts "mitten auf der Straße" herumlief. Die Polizei stelllte nüchtern fest, der Fahrer des Wagens sei keineswegs angetrunken gewesen -.der Überfahrene war allerdings tot. Also ausnahmsweise mal kein weiteres "Delikt" in der zwielichtigen Politkarriere des "Möchtegern-Saubermanns" in Lettland, aber förderlich ist es dem Wahlkampf vielleicht auch nicht. Die "Neue Ära" war vor einigen Monaten mit viel künstlichem Getöse erst aus der Regierung Kalvitis ausgetreten (was war noch der Grund? jedenfalls verlor die Partei die Ministerposten, und damit Einfluß). Nun strebt man danach, mit der "Tautas Partija" TP (Volkspartei) von Kalvitis wieder "eine gemeinsame Sprache zu finden", wie manche politsche Beobachter es ausdrücken. Die TP - wegen ihrer Parteifarbe auch "die Orangenen" genannt, hatte jedenfalls keine neuen Skandale durch Politiker in ihren Reihen - sieht man einmal davon ab, dass auch die TP mit Andris Šķēle von einem "Oligarchen der 90er Jahre" finanziell kontrolliert wird. Šķēle hatte oft ähnliche "Investitionen" in machtpolitische Strukturen Lettlands unternommen wie Konkurrent Lembergs (siehe oben): dies spiegelt sich auch in der lettischen Presselandschaft wieder. Wer "Latvijas Avize", "Diena", "Rigas Balss" oder "Neatkarīga Rīta AvIze" liest, kann meist schnell herauslesen, welchem der beiden politischen Finanziers das Blatt aufs Wort folgt. Die meisten Schlagzeilen in den letzten Monaten machte "Jurmala-Gate", ein lokaler Bestechungsskandal im lettischen Seebad, als einem wankelmütigen Abgeordneten mal eben 10.000 Lat auf der Parlamentstoilette übergeben werden sollten, damit dieser für den "richtigen" Bürgermeisterkandidaten stimme, und "Rigas Praids", der turbulente Versuch von Schwulen und Lesben, auch dieses Jahr in Rigas Altstadt für ihre Gleichberechtigung demonstrieren zu wollen. In beiden Fällen spielte die sich die moralisch-christlich gebende "Pirma Partija" (Erste Partei) eine eher unrühmliche Rolle. Gemäß den Umfragen liegen die "Möchtegern-Ersten" teilweise auch unter 5%, aber schon mehrfach hat dann ein agressiver Wahlkampf die teilweise sich auch als tendenziell pro-russisch gebende Partei doch wieder in eine entscheidenende Rolle ins Parlament gespült. Die Frage "Würden Sie eine Schwulendemo in der Altstadt erlauben?" ist jedenfalls schon zur Standardfrage aller politischen Interviewsendungen gegenüber den Kandidat/innen geworden.

Wie wird es nach der Wahl aussehen?

Vielleicht bleibt ja einfach "alles beim Alten"? Alles bisher Gesagte wird doch wohl aus westeuropäischer Sicht eher als "lettischer Kleinkram" betrachtet, oder? Die "Grünen Bauern" und die "Tautas Partija" liegen in den Umfragen bisher vorn - und die regieren auch schon jetzt. Die "Neue Ära" möchte gern wieder mit ins Boot - und hat schon mal vorsorglich die jüngst der Partei beigetretene Sandra Kalniete ("mit Ballschuhen im sibirischen Schnee") als ihre Präsidentschaftskandidatin nominiert - denn auf eine Nachfolgerin der jetzigen Präsidentin wird sich dann 2007 das neu gewählte Parlament einigen müssen.  Infos des lettischen Wahlamts zu den Kandidatenlisten der Parlamentswahl vom 7.Oktober 2006 hier.