Riga. Wochenlang hatte die lettische Präsidentin Vaira Vīķe–Freiberga die Aufmerksamkeit der Weltpresse auf sich gezogen durch ihre Bewerbung als UN-Generalsekretärin und potentielle Nachfolgerin von Kofi Annan. Seit am 2.Oktober in New York bei einer erneuten Probeabstimmung nur noch ein einziger Kandidat übrigblieb - weil alle anderen eine Gegenstimme von einer der Vetomächte kassierten - kann wieder der Alltag einkehren in der lettischen Politik. Zwar werfen sich die Länder Südkorea (aus dem der Kandidat Ban Ki Moon kommt) und Vetomacht Japan gegenseitig immer noch so etwas wie "merkwürdige Geschichtsauffassung" gegenseitig vor, Japan scheint aber im Gegensatz zu Russland wenig Lust auf öffentlich zur Schau getragene Selbstgerechtigkeit zu haben. Die meisten Medien schätzen nun die Wahl Ban Ki Moons am 15.Oktober als gesichert ein.
Wahlkampf - welcher Wahlkampf?Was hat sich inzwischen im lettischen Wahlkampf getan? Eigentlich sind die Schlagzeilen harmlos, im Vergleich zu früheren Jahren. Die Parteienlandschaft wird diesmal nicht durch eine völlig neu gegründete Partei durcheinandergewirbelt, ja nicht einmal die sonst regelmäßige Abwahl einer bisher amtierenden Regierung ist sicher. Allerdings mischte sich auch Vīķe–Freiberga gleich weider in die heimische Politik ein: wie die Tageszeitung DIENA in ihrer heutigen Ausgabe meldet, äusserte sich die Präsidentin kritisch gegenüber einem möglichen Regierungschef mit dem Namen Aigars Lembergs. Der langjährige Bürgermeister der lettischen Hafenstadt Ventspils steht inzwischen wegen verschiedener sehr zwielichtiger Geschäfte aus den 90er Jahren vor Gericht, und wohl nur er selbst bezeichnet diese Anklagen als "rein politisch motivierte Kampagnen zum Schaden seines Ansehens".Nur unter einer Bedingung könnte sie sich so einen Regierungschef vorstellen, erklärt indessen Vīķe–Freiberga: "Nur wenn die Partei, deren Kandidat er ist, 51% bei den Wahlen für sich gewinnt." Ob wirklich so viele sich für den mit allen öligen Wassern gewaschenen Kurländer entscheiden werden? Lembergs verklagte kürzlich auch die deutsche FAZ wegen angeblicher "Verbreitung von Falschinformationen" - eben zur Person Lembergs. Gemeint ist die FAZ-Ausgabe vom 23.Mai 2006 mit Schlagwörtern wie "der Oligarch von Ventspils".
Populismus aller Orten - wer liest eigentlich lettische Parteiprogramme?
Die parteipolitische Zerstrittenheit, die Tendenz zum "Kuhhandel", das hat bisher noch immer die Situation nach lettischen Wahlen geprägt. Mehr als 36 Sitze erzielte nie eine Partei im Parlament nach der wieder erlangten Unabhängigkeit (101 Sitze insgesamt). Die Wahlliste der Grünen und der Bauernpartei, die Lembergs vor einigen Wochen auf ihr Schild hob, hat noch andere "Pfeile" im Köcher, die populistische Wirkung erzielen sollen: da finden sich auf den Kandidatenlisten sowohl der politische unerfahrene olympische Vizechampion von Athen, Viktors Ščerbatihs (der als Gewichtheber auch schon für den Berliner TSC in Deutschland antrat und am Wahltag den 7.10. auch noch bei den Weltmeisterschaften antritt), wie auch bekannte Schauspieler wie Dainis Porgants. Aufsehen erzielte die Grüne Bauernliste aber auch wegen ihrer offensichtlichen Bereitwillligkeit, bisherige poltische "Einizelkämpfer" vom rechten Rand des poltischen Spektrums nicht nur in ihre Reihen aufzunehmen, sondern ihnen auch gute Posten zu verschaffen. Eines der bekanntesten Beispiele ist hier der 82-jährige Publizist Visvaldis Lācis, einer derjenigen, die keinen Hehl aus ihrem Stolz machen, in den letzten Tagen des 2.Weltkriegs gegen die Rote Armee in Reihen der deutschen Nazis gekämpft zu haben. Ein Kandidat, von denen die rechtsradikale Liste "Visu Latvijai" (Alles für Lettland) offen sagt, man hätte nichts gegen eine Kandidatur von Lācis auch auf der eigenen Liste einzuwenden gehabt. Von ähnlichem Kaliber ist Aleksandrs Kiršteins, in den vergangenen Jahren Mitglied verschiedener Parteien, zuletzt rochen der "Tautas Partija" (Volkspartei) Kiršteins Äusserungen zu sehr nach Antisemitismus, um ihn in ihren Reihen behalten zu wollen. Den Grünen Bauern alles keine Gründe, Bedenken zu haben - und die Umfragen steigen. Auch andere Parteien bemühen sich um neue "VIPs" auf den Kandidatenlisten. Wer kennt noch den Speerwerfer Janis Lusis, der 1972 bei den Olympischen Spielen in München mit 2cm nur knapp dem deutschen Olympiasieger Klaus Wolfermann unterlag? Eine lettische Sportlerlegende, die jetzt für die Sozialdemokratische lettische Arbeiterpartei LSDSP kandidiert (die bisherigen Umfragen zufolge allerdings an der 5% Hürde scheitern könnte). Die PCTVL, ein politisches Bündnis vor allem zur Durchsetzung von mehr Rechten für die russisch-stämmigen Menschen in Lettland (Parteilogo: die stechende Biene), nahm diesmal zwei bekannte Journalisten russischsprachiger Zeitungen in ihre Kandidatenreihen auf: Ksenija Zagorovska ("Čas") und Andrejs Kozlovs ("Fenster").
Dennoch wird es wohl auch diesmal kaum reichen, um mit anderen politisch gleich Gesinnten eine Mehrheit im kommenden Parlament bilden zu können. Abschreckend auf lettische Wähler wirken immer noch die radikalen Parolen der stark mit Regierungsstellen in Russland verknüpften PCTVL-Politfunktionäre, die dazu tendieren, alle Letten pauschal als "Faschisten" zu beschimpfen, weil sie sich notorisch abneigend gegen die im Zuge des 2.Weltkriegs erfolgte Okkupation Lettlands durch die Rote Armee aussprechen. Solchen Parolen steht dann die nationale Rechte (Visu Latvijai), die auf ihrer Internetseite offen mit Kontakten zur deutschen NPD wirbt, regelmäßig zum Schlagabtausch gegenüber - zum Schaden der politischen Aufklärung für die breite Wählerschaft. Die Liste "Saskaņas centrs" (SC - Zentrum für Einklang/Ausgleich) versucht sich in diesem Spektrum als zwischen den Linken und der politischen Mitte liegende Kraft mit Forderungen z.B. nach erheblichen Erhöhung der Altersrenten zu profilieren. In Reihen der SC haben sich einige aus Rigas Stadtrat erfahrene Lokalpolitiker wie Sergejs Dolgopolovs eingefunden. (Abbildung links: historisches lettisches Wahlplakat, siehe auch hier)
Womit machen die anderen Parteien Schlagzeilen? Einars Repše, ehemaliger Banken- und Regierungschef, Frontfigur der neokonservativen "Jaunais Laiks" (Neue Ära), überfuhr mit dem Auto einen "kaum bekleideten Mann", der im lettischen Kleinstädtchen Koknese nachts "mitten auf der Straße" herumlief. Die Polizei stelllte nüchtern fest, der Fahrer des Wagens sei keineswegs angetrunken gewesen -.der Überfahrene war allerdings tot. Also ausnahmsweise mal kein weiteres "Delikt" in der zwielichtigen Politkarriere des "Möchtegern-Saubermanns" in Lettland, aber förderlich ist es dem Wahlkampf vielleicht auch nicht. Die "Neue Ära" war vor einigen Monaten mit viel künstlichem Getöse erst aus der Regierung Kalvitis ausgetreten (was war noch der Grund? jedenfalls verlor die Partei die Ministerposten, und damit Einfluß). Nun strebt man danach, mit der "Tautas Partija" TP (Volkspartei) von Kalvitis wieder "eine gemeinsame Sprache zu finden", wie manche politsche Beobachter es ausdrücken. Die TP - wegen ihrer Parteifarbe auch "die Orangenen" genannt, hatte jedenfalls keine neuen Skandale durch Politiker in ihren Reihen - sieht man einmal davon ab, dass auch die TP mit Andris Šķēle von einem "Oligarchen der 90er Jahre" finanziell kontrolliert wird. Šķēle hatte oft ähnliche "Investitionen" in machtpolitische Strukturen Lettlands unternommen wie Konkurrent Lembergs (siehe oben): dies spiegelt sich auch in der lettischen Presselandschaft wieder. Wer "Latvijas Avize", "Diena", "Rigas Balss" oder "Neatkarīga Rīta AvIze" liest, kann meist schnell herauslesen, welchem der beiden politischen Finanziers das Blatt aufs Wort folgt. Die meisten Schlagzeilen in den letzten Monaten machte "Jurmala-Gate", ein lokaler Bestechungsskandal im lettischen Seebad, als einem wankelmütigen Abgeordneten mal eben 10.000 Lat auf der Parlamentstoilette übergeben werden sollten, damit dieser für den "richtigen" Bürgermeisterkandidaten stimme, und "Rigas Praids", der turbulente Versuch von Schwulen und Lesben, auch dieses Jahr in Rigas Altstadt für ihre Gleichberechtigung demonstrieren zu wollen. In beiden Fällen spielte die sich die moralisch-christlich gebende "Pirma Partija" (Erste Partei) eine eher unrühmliche Rolle. Gemäß den Umfragen liegen die "Möchtegern-Ersten" teilweise auch unter 5%, aber schon mehrfach hat dann ein agressiver Wahlkampf die teilweise sich auch als tendenziell pro-russisch gebende Partei doch wieder in eine entscheidenende Rolle ins Parlament gespült. Die Frage "Würden Sie eine Schwulendemo in der Altstadt erlauben?" ist jedenfalls schon zur Standardfrage aller politischen Interviewsendungen gegenüber den Kandidat/innen geworden.
Wie wird es nach der Wahl aussehen?
Vielleicht bleibt ja einfach "alles beim Alten"? Alles bisher Gesagte wird doch wohl aus westeuropäischer Sicht eher als "lettischer Kleinkram" betrachtet, oder? Die "Grünen Bauern" und die "Tautas Partija" liegen in den Umfragen bisher vorn - und die regieren auch schon jetzt. Die "Neue Ära" möchte gern wieder mit ins Boot - und hat schon mal vorsorglich die jüngst der Partei beigetretene Sandra Kalniete ("mit Ballschuhen im sibirischen Schnee") als ihre Präsidentschaftskandidatin nominiert - denn auf eine Nachfolgerin der jetzigen Präsidentin wird sich dann 2007 das neu gewählte Parlament einigen müssen. Infos des lettischen Wahlamts zu den Kandidatenlisten der Parlamentswahl vom 7.Oktober 2006 hier.
1 Kommentar:
Janis Lusis ist weltbekannt, sogar sein Sohn. O.k., unter den Speerwerfern. Die haben selbst in den USA einen Heidenrespekt vor Lusis Speerwurfschule. Lettland ist mit seinen paar Einwohnern in dieser Sportart mehr als überrepräsentiert. Das haben auch schon die Finnen zu spüren bekommen.
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