21. Dezember 2009

Weihnachtsnachrichten

Was kann es erfreuliche Nachrichten geben zur lettischen Weihnacht? Im Unterschied zu Deutsch- land werden ja keine "Wachstumsbeschleunigungsanreize" oder "Abwrackdoping" eingeführt, kein Gedanke an Lohnerhöhungen verschwendet. Nein, vielmehr ist von Lettinnen und Letten zu hören, dass auch kurzfristige Auslandsaufenthalte nun von Freund/innen und Bekannten nun wie selbstverständlich ganz anders interpretiert werden: nun, Du auch schon? - Lettland befindet sich im Ausverkauf - so jedenfalls der an aktuellen Schlagzeilen orientierte Titel eines Theaterstückes, das in diesen Tagen von Studierenden der lettischen Kulturakademie im Schwarzhäupterhaus gespielt wird ("Latvia for sale")

Was gibt es Positives zu vermelden? Nun, die Strassenpreise für Weihnachtsbäume seien gegenüber vergangenem Jahr um ein Drittel gefallen, melden TvNet und NRA

Das lettische Verfassungsgericht hob heute einen Beschluss der Regierung auf, nachdem die Renten für diejenigen Rentnerinnen und Rentner, die noch einer Beschäftigung zur Verbesserung ihres Lebensunterhalts nachgehen, um 70% gekürzt wurden (für alle übrigen um 10%). Der oberste Gerichtshof Lettland urteilte, der Staat müsse soziale Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger garantieren. Das Verfassungsgericht hatte über 9.000 Klagen von Rentnerinnen und Rentnern gegen die neu eingeführten Kürzungen erhalten. Sozialminister Uldis Augulis schätzt die Höhe der den Rentnern nun rückzuerstattenden Gelder auf etwa 100 Millionen Lat (ca. 140 Millionen Euro).

Weniger vielversprechend dagegen klingen die Ankündigungen des lettischen Finanzministers Einars Repše, der auch 2010 Steuererhöhungen für unumgänglich hält.

Und genauso wenig positiv entwickelt sich die Kälte um die Weih- nachtszeit für diejenigen Truckerfahrer, die mit ihren Transporten die Grenze zwischen Lettland und Russland überwinden müssen: rund 900 LKWs stauen sich gegenwärtig am Grenzübergang Terehova (LETA). Alle erinnern sich mit fröstelndem Gruseln an den Weihnachtsabend 2007, als über 2000 LKWs an gleicher Stelle eine schier endlose Warteschlange bildeten.

Auf der Straße erfroren sind in Lettland in den vergangenen Tagen mehrere Menschen. Etwa 70 Menschen musste der Erste-Hilfe-Dienst bei Erfrierungen helfen, 50 davon in Riga. Das prominenteste Frostopfer ist der lettische Schriftsteller, Journalist, Dichter und Lebenspartner der Schriftstellerin Amanda Aizpuriete, Andris Bergmanis. Am vergangenen Samstag stürzte er auf der Straße, fiel auf den Kopf und wurde später erfroren aufgefunden (NRA). 

Untätigkeit gegen Arbeitslosigkeit und soziale Not wirft eine Gruppe Protestierender der lettischen Regierung vor, die seit über 2 Wochen trotz Kälte und Schneedirekt vor dem lettischen Ministerkabinett an der Brivibas iela in Zelten campieren. Drei von ihnen mussten bereits in Krankenhäuser eingeliefert werden, aber die Aktivisten haben bisher jeglichen Versuchen von Seiten der Politiker widerstanden, ihre Aktion abzubrechen. 

Warum erinnert mich das alles bloß an die 90er Jahre - als die Unterschiede zwischen Lettland und Deutschland so absurd erschienen, von der Währung über die durchschnittlichen Einkommen bis hin zu den ökonomischen Möglichkeiten? Eigentlich dachten wir doch, wir leben jetzt alle in der Europäischen Union, und da haben alle gleiche Rechte und Möglichkeiten? 

20. Dezember 2009

Andere Tage 2010

Viele Journalisten bloggen - aber nur vom Bloggen kann kaum jemand leben. Den 10.Oktober hatten eine Reihe bekannter lettischer Journalisten als "Todestag" für die bisher renommierteste lettische Tageszeitung DIENA (der Tag) bezeichnet - sie stiegen wegen der ihrer Ansicht nach undurchsichtigen Strategien von Eigentümern und Geschäftsführung der Zeitung unter Protest aus - und schrieben bisher unter dem Titel "Citadiena.lv" weiter. (siehe Beitrag) 

Aber schon kurz darauf kamen die Fragen auf, ob diese "Diena-Dissident/ innen" denn eine neue Zeitung gründen wollten. Während damals ziemlich schnell "vorerst nicht" geantwortet wurde, ist die Idee inzwischen offenbar gereift: ab Februar wird es eine wöchentlich erscheinende Zeitschrift sein, deren Namen noch später bekannt gegeben werden soll. Dies gab Anita Braun, eine der ehemaligen Chefredakteurinnen der DIENA, am 16.12. vor der lettischen Presse bekannt. Dieser Ankündigung zufolge sollen Themen der Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur die Hauptbestandteile dieses neuen Presseorgans bilden. Wie Braun weiterhin erklärte, stehe kein großer Geldgeber hinter diesem Projekt, wohl aber "mehrere kleine". Braun versprach gleichzeitig eine "völlig durchsichtige Struktur" zum Start des Projekts - es ist klar, dass sich die Citadienisten sich dies schon wegen der von ihnen bei DIENA kritisierten Vorgänge schuldig glauben. 

Auf der "Citadiena"-Webseite wurde die Möglichkeit der kostenlosen Bestellung der ersten Nummer der neuen Zeitschrift eingerichtet.

2. Dezember 2009

Von Lettland lernen - für Europa

Über Günther Öttinger, voraussichtlich ab Januar 2010 neuer EU-Kommissar für Energiefragen, könnte man sich aus deutscher Sicht ja Gedanken machen, ob er wirklich der richtige Mann am richtigen Platz (mit der richtigen Aufgabe) ist. Aber kaum jemand stellt die Arbeit des bisherigen EU-Kommissars für Energiefragen, des Letten Andris Piebalgs, in Frage (siehe auch Blogbeitrag).So schrieb das Portal EURAKTIV am 27.November: "der Lette Andris Piebalgs hat hohe Maßstäbe gesetzt." Heißt es jetzt also für Piebalgs-Nachfolger "von Lettland lernen heißt Europa verstehen?"  EURAKTIV listet detailliert auf, was die Leistungen von Piebalgs waren. Zitat: "Den zunächst un- wichtigen Posten, der ent- sprechend einem kleinen Mitgliedsstaat gegeben wurde, verwandelte Piebalgs in eines der einflussreichsten Ämter. Der medienscheue Piebalgs wirkte maßgeblich am sogenannten "20-20-20"-Ziel der EU mit. Bis zum Jahr 2020 soll der Ausstoß von Treibhausgasen der EU um mindestens 20 Prozent sinken. Der Anteil erneuerbarer Energien und die Energieeffizienz sollen sich um 20 Prozent erhöhen.
Außerdem legte sich Piebalgs im Zusammenspiel mit der EU-Wettbewerbskommission mit den großen Stromkonzernen in Deutschland und Frankreich an. Piebalgs Vision: Eine wettbewerbsfähiger und einheitlicher europäischer Strommarkt. Zudem bewies sich Piebalgs als geschickter Diplomat in der Gaskrise zwischen der EU, Russland und der Ukraine. Piebalgs spricht neben lettisch auch englisch, deutsch, französisch und russisch und machte klar: EU-Energiepolitik ist viel Außenpolitik." (Zitat Ende)

Kein Job für Lobbyisten 
Nun wird sich die Art der Weiterführung dieser Arbeit daran messen lassen. Piebalgs steht sicherlich auch dafür, dass Europapolitik nicht die Weiterführung egoistischer nationaler Innenpolitik - oder gar bloßer Parteipolitik - sein darf. Davon ausgehend, bleibt zu hoffen, dass die gegenwärtige Wortakrobatik der Regierungsparteien in Deutschland, die Nutzung der Atomkraft betreffend, auch in die Europapolitik Einzug hält. Wohl wissend, dass der Widerstand gegen die Atomenergie und deren unkalkulierbare Hinterlassenschaften noch um ein vielfaches größer wäre, wenn diese Nutzung weiter ausgebaut, oder gar wider besseres Wissen als "Zukunftstechnologie" zugunsten der Atomkonzerne verkauft werden würde, sprechen deutsche CDU- und FDP-Politiker/innen inzwischen lieber von einem "Übergangstadium". "Vorübergehend" müsse man die Atomkraft noch weiter nutzen, bis die alternativen und nachhaltig umweltschonend nutzbaren modernen Technologien im erforderlichen Umfang nutzbar seien. Dies gilt es so manchem konservativen oder freidemokratischen Parteifreund auch auf europäischer Ebene hinter die Ohren zu schreiben. Das wäre für einen Öttinger, so wie Deutsche außerhalb Baden-Württenbergs ihn bisher kannten, schon eine große Leistung.

Euro-Botschafter aus Lettland
Aus lettischer Sicht scheint im Moment wichtiger, was die Übernahme des neuen Amtes für Piebalgs bedeuten würde (die EU-Kommissare müssen im Januar erst noch durch das Europaparlament bestätigt werden).

Dazu muss man vielleicht wissen, dass noch im Juli 2009 Piebalgs sich ziemlich sicher war "nach Hause zurückzukehren". Wenn er weitere fünf Jahre außerhalb Lettlands arbeiten würde, dann sei es später schwieriger, wieder zurückzukehren, so Andris Piebalgs damals gegenüber der lettischen Nachrichtenagentur LETA. Damals hatte Regierungschef Dombrovskis, selbst erst einige Monate im Amt, sich für die Chefin seiner eigenen Partei (Jaunais Laiks / Neue Zeit), Solvita Aboltina, als Favoritin für den EU-Kommissarsposten ausgesprochen (LETA). Piebalgs Zeit schien abgelaufen, da die Parteienkoalition zum Zweitpunkt seiner damaligen Ernennung eine ganz andere war.

Was brachte die Änderung? War es die Einsicht, dass selbst EU-Kommissionspräsident Barroso darum kämpfen musste, erneut bestätigt zu werden? 
Im Juli bestand noch die Gefahr, jede lettische Regierungs- partei könne erstmal ihren eigenen Kandidat (oder Kandidatin) für den attraktiven Posten benennen, und damit einen neuen "Fall Ingrida Ūdre" schaffen (Lettland hatte 2004 eigentlich die frühere Außenministerin Sandra Kalniete benannt, ein Regierungswechsel verursachte dann einen Schwenk hin zur damaligen Parlamentspräsidentin Ingrida Ūdre, die dann unter anderem wegen starker Proteste auch in Lettland ebenfalls wieder zurückgezogen wurde).

Kein weißes Pferd
Als Kommissar Piebalgs am 9.Juli 2009 der lettischen Zeitung Neatkarīga ein ausführliches Interview gab, wirkte alles wie der Abschluß eines Lebensabschnitts. Piebalgs schrieb seinen Landleuten auch einiges ins Stammbuch: bisher habe man doch gedacht, Energiepolitik hänge allein von Russland ab. Während seiner Zeit als EU-Kommissar für Energie habe sich das geändert. Heute würden auch die Letten verstehen, dass auch Europa durchaus eine eigene Rolle spielen kann. Und auch das Bewußtsein für effektivere Nutzung der zur Verfügung stehenden Energieressourcen habe sich erhöht. 

Mancher hätte sich Piebalgs sicher gern als Rückkehrer in die heimische Diplomatie oder gar in die Politik gewünscht. "Wenn ich es tun würde, ich verspreche keinem, ich käme als eine Art Messias," sagt Piebalgs dazu. "ich komme nicht auf einem weißen Pferd geritten, hinter dem sich alle versammeln können." Solange er das Amt eines EU-Kommissars innehat, schließt er sogar eine Parteimitgliedschaft aus.

Die Meinungsänderung in der lettischen Regierung schien sich schon Ende Juli anzudeuten. "Barroso will Piebalgs in einer zweiten Amtszeit sehen", meldete am 21.Juli TVNet. Nur einen Tag später ließ Premier Dombrovskis der Presse mitteilen, er könne sich ein gemeinsames Votum aller Koalitionsparteien für Piebalgs vorstellen, sofern er selbst dies wolle (LETA). Wer sich vor Augen führt, dass Lettland ja eigentlich zwischen dem Mittsommertag und dem Ende der Schulferien oft geradezu um Sommerschlaf (Sommerloch?) zu versinken scheint (viele gehen ihren Zweit- oder Drittberuf nach, um den Lebensunterhalt abzusichern), war diese Diskussion mitten in der Ferienzeit schon interessant. Ende August äusserte sich dann Piebalgs ebenfalls positiv zu einer "Vertragsverlängerung" (NRA). Verkündet wurde dies nunmehr als "politisch einfachste Variante". Will sagen: die lettische Regierung hat gegenwärtig mit Budgetkürzungen hier und dort, Protesten gegen die Bildungsmisere und Krankenhausschließungen genug zu tun.

Der doppelte Kompromiss
Piebalgs erscheint also auch diesmal, zu Beginn seiner wahrscheinlich zweiten Amtszeit, trotz der Vielzahl der lettischen Parteien, deren Zerstrittenheit und auch der Unbeliebtheit der gesamten Politik in der lettischen Gesellschaft, als der "ideale Kompromiss-Kommmissar". Allerdings: schon am 15.September, als Barroso selbst noch ein "Kandidat zur Wiederwahl" war und dafür die Unterstützung aller Ministerpräsidenten der EU-Staaten brauchte, verabredete er angeblich mit Dombrovskis, Piebalgs erneut mit dem Bereich Energie zu beauftragen, oder ihm das Ressort Verkehr zuzusprechen (NRA 15.9.09).


Nun also das Ressort für Entwicklungszusammenarbeit. Die Diskussion darüber, was dies für Lettland bedeuten könnte, hat gerade erst begonnen. Einerseits passt es zur Haltung der baltischen Staaten, die auch durch die gegenwärtige Wirtschaftskrise gehen mit der Einstellung: seht, wir sind doch nicht mehr die "Hilfsempfänger des Westens", wie wir es kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre einmal waren. Nein, wir sind durchaus in der Lage, unsere Erfahrungen mit wirtschaftlichen Umbrüchen, marktwirtschaftlicher und demokratischer Orientierung auch weiterzugeben an Länder, die es nun nötiger haben als wir. Während manche Deutsche, die momentan mit steigendem Vergnügen für ein Taschengeld zur "Hauptstadt des Vergnügungswesens" - nach Riga - hin und zurückjetten, nur noch über das "Pleiteland Lettland" müde und durchaus abfällig lächeln. Aber wer denkt "Können die denn überhaupt irgendwas richtig?" der wird das Land (und auch seine Politiker/innen und andere Fachleute) sicher unterschätzen.

"Wieder haben uns die Esten etwas weggeschnappt", jammert Pauls Raudzeps bei CITADIENA dem entgangenen verkehrspolitischen Posten nach. Hier klingt noch die Auffassung durch, jedes Land müsse sich die Möglichkeit sichern, die Politik der EU möglichst im eigenen Sinne zu beeinflussen oder gar unter Kontrolle zu behalten (nach britischem Vorbild?). Raudzeps trauert auch der Zeit und den Mühen hinterher, mit denen man versucht habe, der ehemalige Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga einen EU-Posten zu verschaffen. Dennoch schließt auch Raudzeps nicht aus, was momentan allgemein der Tenor in der lettischen Presse zu sein scheint: die zukünftige Eu-Entwicklungszusammenarbeit wird ein wichtiger Teil der EU-Außenpolitik sein, die es mit sich bringen könnte, dass Lettland mit noch viel mehr Ländern der Welt als bisher zu tun bekommt.

27. November 2009

Flankendievs

Der Herbstmeister-Meister  
Fußball ist nicht gerade Volkssport in Lettland. Und in der deutschen Presse ist von Rüdiger Abramcik, einst im Zusammenspiel mit Klaus Fischer der "Flankengott", auch nicht mehr gerade oft die Rede. Erst seit einem Jahr ist er Trainer von Metalurgs Liepaja (siehe Blogbeitrag). Und da die Fußballsaison in Lettland immer im Spätherbst zu Ende geht, ist ein Herbstmeister im Gegensatz zur deutschen Bundesliga auch immer der wahre Meister. 2009 wurde Liepaja nach drei Jahren mal wieder lettischer Fußballmeister. 

"Das neue Gesicht des Fußballs in Liepeja" titelte LATVIJAS AVIZE vor einem Jahr über "Mister A". Ob es mit der Sprachbarriere gut gehen würde, wurde gezweifelt. Abramcik redete nur Deutsch. Er schaffte die Zonenverteidigung ab und ließ "Mann gegen Mann" spielen. 

"Nun werde ich mir aber doch mal einen trinken", soll Abramcik der lettischen Presse zufolge nach dem letzten Saisonspiel seiner Meisterschaft vor der Presse gestanden haben (1:1 gegen Ex-Meister Ventspils). "Ich stamme aus Westfalen, da trinkt man Bier." Da blieb den lettischen Fans beim Portal "Sporta Centrs" nur noch eine Frage offen: trinkt der Trainer denn auch lettisches Bier? Offenbar schmeckt es ihm vorerst noch. 

Unzufrieden äusserte sich Abramcik über die Praxis der Klubleitung, einige Spieler im Sommer, mitten in der lettischen Saison, zu verkaufen. In Liepaja ist Fußball nur eine kleine Unterabteilung des gleichnamigen Eishockeyklubs. Viele ausländische Spieler wolle man nicht, so der Trainer, aber andere seien noch viel zu jung und unerfahren, um in die 1.Mannschaft aufzurücken. 
Diese Meinungsverschiedenheiten konnten offenbar geklärt werden. In den vergangenen Tagen meldete die lettische Presse, dass Abramcik für ein weiteres Jahr - bei erhöhten Bezügen - in Liepaja verlängert hat.  

Wer träumt nicht davon, lettischer Meister zu werden!
Interessant zu lesen sind im Vergleich dazu die Aussagen des neuen "Meistetrainers" Abramcik in der deutschen Presse. "Kommt der Flankengott zurück?" fragt etwas ungläubig der WDR (Interview vom 17.11.09). Die Praxis bei Metalurgs, einige Spieler verkaufen zu müssen und diese durch junge Nachwuchskräfte erfolgreich zu ersetzen, wird hier kurzerhand mit der vergleichbaren Gegenwart von Felix Magath bei Schalke 04 verglichen. Abramcik selbst äussert dazu, er habe sich vor allem bemüht, die "Disziplinprobleme" bei seinen lettischen Kickern zu beseitigen. Abramcik, der Schleifer? Hier legt es schon selbst den Vergleich mit Magath nahe. 
Gibt es hier eigentlich Fanfreundschaften, oder Schalke/Liepaja-Schals? Vielleicht wäre das findigen Geschäftsleuten in der lettischen Hafenstadt zu empfehlen. 

Gegenüber dem WDR erzählt Abramcik auch von anderen interessanten Erfahrungen. Die durchschnittliche Zuschauerzahl habe sich in Lettland schon auf 3.000 erhöht - nur nicht bei Spitzenspielen. "Die werden im Fernsehen übertragen, da wollen sich die Leute das Geld offenbar sparen", meint der deutsche Gasttrainer. Was ist das besondere am Fußball in Lettland, wird er gefragt. "Hier gibt es noch Straßenfußballer, und alle pflegen einen angenehmen Umgang"; Abramcik hält dies durchaus für ungewöhnlich. "Und wenn ein Spieler mal 500 Euro Geldstrafe zahlen muss, dann fließen auch schon mal Tränen."

Zurück in die Bundesliga? 
Und im WDR-Interview erfahren wir außerdem, dass der frühere Schalker zwischendurch auch mal mit dem VFL Bochum verhandelt hatte. "Leider hat man sich nicht für mich entschieden", sagt einer, der auch schon mal türkischer Pokalsieger war.
Vorerst hat Abramcik also eine Verlängerung in Lettlands Hafenstadt zugesagt. Vielleicht könnte seine Mannschaft also auf ähnliche Weise sich auch mit deutschen Mannschaften messen, wie es in der Europa League gerade der FK Ventspils tut (in einer Gruppe mit Hertha BSC Berlin). Aber angesichts Spielergehältern von 3.000 bis 10.000 Euro ist klar, dass es nicht viele Argumente gäbe, wenn später doch die Bundesliga ruft.  


Eines jedoch scheinen die Spieler von Metalurgs Liepaja genau zu wissen - das zeigt auch ein Interview von Mannschaftskapitän Tomas Tamošausks (lettische Schreibweise, er ist Litauer). "Die Meisterschaft haben wir dem Trainer zu verdanken." (Interview bei "parsportu.lv") "Er fordert sehr viel von uns. Ich denke, seiner harten Hand haben wir die Meisterschaft zu verdanken."





WDR-Interview

16. November 2009

Hartes Leben, lockere Sprüche

Nichts besonderes?
Selbstironie ist vielleicht nicht gerade lettische Stärke - meist wird es dramatisch oder gar tragisch. Über sich selbst lachen, ohne fatalistisch zu werden? Geht das? 

Schon vor einigen Monaten wurde der Begriff "nothing special" in Lettland zum geflügelten Wort. Ein Video über den damaligen Verteidigungsminister Atis Slakteris und seinen relativ hilflosen Versuch, ein Interview auf Englisch zu geben, löste es aus (daher auch die "lettisierte" Fassung in Lautsprache: "Nasing spešal").

Schwer zu leben? Na, sicher doch!
Nein, über sich selbst gelacht wird in Lettland selten. Wer einen Fehler macht, dem wird selten geholfen - viel öfter aber öffentlich ausgelacht. Aber vor allem das Image Lettlands im Ausland macht Lettinnen und Letten in letzter Zeit des öfteren Sorgen. Schon im Frühjahr diesen Jahres wurde der bisherige Leiter des Lettischen Tourismusinformationszentrums Riga (TAVA) entlassen, als von ihm in Auftrag gegebene merkwürdige Videos auftauchten (siehe Beitrag in diesem Blog). Inzwischen wurde ein neuer Direktor eingestellt, und man versprach, die gesamte Tourismusinformation neu zu strukturieren. Noch am 25.September wurde durch eine Pressemeldung deutlich, dass verschiedene Behörden Lettlands inzwischen darüber uneins waren, ob Tourismusförderung und Tourismuswerbung in Zeiten der Wirtschaftskrise und Finanzknappheit überhaupt noch Schwerpunkt lettischer Politik bleiben sollte (siehe Pressemeldung). Nun also die nächste Geschichte aus dieser Abteilung.

Wie es zustande gekommen ist, darüber gibt es viele Berichte. Aber offen- sichtlich ist wohl, dass in Großbritannien Werbeplakate in Auftrag gegeben wurden, die zum Besuch Rigas auffordern sollten: "Eine Stadt die leicht zu erreichen ist, die aber schwerfällt zu verlassen" (Riga City easy to go, hard to leave). Wenn nicht, ja wenn nicht irgend jemand bei der Kontrolle der Plakatentwürfe irgendwie nachlässig gewesen wäre. In mehrfacher variantenreicher Ausführung stand statt dessen zu lesen: "Riga, leicht zu erreichen, schwer zu leben!" (easy to go, hard to live).

Nun sind Medien und das Internet in Aufregung. Ganz Lettland sorgt sich nun um Reklame- kampagnen der landeseigenen "Profis" - andere wiederum halten die (versehentliche) öffentliche Aussage, in Riga sei es "schwer zu leben", schlicht für einen "Freud'schen Fehler" . 

Selbstkritik, oder gnadenloses Selbstbewußtsein?
Bei DIENA sind offenbar schon Konsequenzen bzw. Richtigstellungen aus den begangenen Nachlässigkeiten zu lesen. Die eigentliche Werbekampagne habe vornehmlich das Ziel, für Riga als Destination für die Weihnachtszeit zu werben, und beginne eigentlich erst am 23.November (auch in Deutschland!). Und auch der Wahlspruch soll verändert werden: "You may leave, your heart stays" soll es dann (unmissverständlich) heißen. Hoffentlich werden die mehrsprachigen Wortspiele nicht wieder überstrapaziert ! (hard - heart) Denn die Visualisierung des Herzens, das sich bildlich an Straßenlaternen und andere Gegenstände in Riga klammert, um nicht wieder abreisen zu müssen, scheint ein wenig nach der Methode "Holzhammer" geboren.

Insgesamt soll die "Winterkampagne" für Riga ca. 900.000 Lat (1,27 Millionen Euro) kosten und teilweise von der Fluggesellschaft AIRBALTIC bezahlt worden sein - soviel wurde in der lettischen Presse bereits aus Äusserungen des lettischen AIRBALTIC-Chefs Berthold Flick deutlich, der sich zuvor auch bereits mehrfach mit kritischen Äusserungen selbst in die Debatte um "richtige" und "effektive" Tourismuswerbung eingeschaltet hatte. "Der Tourismus, unsere wirtschaftliche Rettung" - unter diesem Motto veranstalteten Flick und Rigas Vizebürgermeister Šlesers auch schon Pressekonferenzen zur Kampagne. Als im Frühsommer die Kommunalwahlen in Riga eine neue Parteienkonstellation ans Ruder brachte, gründete Flick zusammen mit den Stadtoberen das Tourismusbüro Riga (Rīgas tūrisma attīstības birojs RTAB) und soll auch jetzt die Kampagne durchführen. Mit dabei sind auch der Verband der lettischen Hotels und Restaurants und eine Vereinigung von Touristikagenturen.

Nervösitäten um die "Riga-Million" 
Eine interessante Informationsquelle ist dieser Tage immer - parallel zur Zeitung DIENA - die virtuell von den DIENA-Aussteigern (siehe Beitrag in diesem Blog) herausgebene CITADIENA. Dort wird ein Satz von Berthold Flick zitiert, als Antwort auf die Frage, welche Agentur denn verantwortlich zu machen sei für die auffälligen Druckfehler der bisher veröffentlichten Plakate: "Hören Sie auf, lassen Sie mich in Ruhe. Wenn das das Einzige ist, was Sie interessiert, dann suchen Sie sich einen anderen Beruf. Ich weiß es nicht, und selbst wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen nicht sagen!" Offensichtlich steigt also die Nervosität bei den Beteiligten.

Ģirts Ozols, Werbechef bei "MMS Communi-cations", zitiert bei CITADIENA Statistiken, denen zufolge jeder Tourist durschnittlich 200 Lat (282 Euro) in Riga ausgibt. Kritik gibt es daran, dass die Durchführung der Reklamekampagne offenbar nicht öffentlich ausgeschrieben wurde. Über die Gründe kann offenbar nur spekuliert werden (solange Flick Antworten wie oben zitiert gibt). Klar scheint aber zu sein, dass im Gegensatz zu der Schlagzeile "Meteorit über Lettland abgestürzt" die "Druckfehlerplakate" keine Erfindungen mit dem Ziel waren, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu steigern. Wäre ja sonst auch eine Möglichkeit gewesen, nach dem Motto: "Hauptsache, man redet drüber." Denn immerhin haben die offenbar unbeabsichtigten Schreibfehler schon vielfache Berichte auch im Ausland nach sich gezogen (siehe unten).

Na dann warten wir mal ab, was die Riga-Werbekampagne noch für weitere Überraschungen in sich birgt. Weitere witzige Vorschläge kursieren schon im Netz, so bei "Latviansonline": “Riga, easy to go, hard to leave. Just ask the Soviet Army!” 

Fotoserie DIENA zu den verschiedenen Werbeplakaten 

Beitrag CITADIENA  

Webseite zur Kampagne: LIVE RIGA  

Andere Berichte: 
Sunday Mercury (engl.)

5. November 2009

Je vote pour Vaira!

Wählen Sie eine Frau! 
Nun gibt es auch die Internetseite zur Kampagne - oder umgekehrt?
Mit der Absenderadresse >jevotepour[ät] unepresidentepourleurope.eu< werden gegenwärtig Emails verschickt, die auf eine Seite einer Internetdienstleistungsfirma in Frankreich verweist. Dort wiederum wird zur Unterzeichnung einer Petition aufgerufen, die sich für Vaira Vike-Freiberga als Präsidentin des Europäischen Rats einsetzt (une presidente pour leurope).

"Aber anlässlich Ihrer Kandidatur für den UN-Spitzenposten gab es das doch auch!" werden Sie jetzt vielleicht sagen. Richtig, damals gab es ähnliche Aufrufe, ebenfalls mit Koordination in Frankreich. 

Leider verrät die gegenwärtige Kampagnenseite in ihren drei verfügbaren Sprachen nichts über die Initiator/innen - das ist leider anders als damals. Unter "Kontakt" wird lediglich ein allgemeines virtuelles Kontaktformular angeboten, und wer sich für den Betreiber der Seiten interessiert, erfährt auch nicht mehr das es die Firma DIGIPLACE in Frankreich ist.

Schade, ich hatte eigentlich gedacht, dass sich niemand verstecken muss, der sich für eine international anerkannte Frau, Ex-Präsidentin, Vermittlerin in vielen Streitfragen einsetzt, die in mehreren sehr unterschiedlichen Ländern der Welt gelebt hat, und so oft das Verbindende und Menschliche gesucht und betont hat, dass die Menschheit weiterbringt in den wichtigen Kernfragen. Ich hätte mich gern für eine Kandidatin eingesetzt, die nicht erst betonen muss dass sie eine Frau ist, um sich als Kandidatin zu qualifizieren. So aber bleibt dieser Unterstützer/innenkreis vorerst unklar. Die entsprechenden Emails gingen heute von einem zur anderen. Leider nur mit anonymem Absender.

Aber halt! Da war doch noch was? Richtig, es gibt noch die Seite der "VVF Consulting GmbH", gegründet und betrieben von der Ex-Präsidentin selbst. Hier finden sich in englischer, französischer und lettischer Sprache Neuigkeiten zu ihren neuesten Aktivitäten - und auch tatsächlich ein Link zur erwähnten Kampagnenseite. 

Was sich hier auch findet (links unten auf der Seite): Ein offen zugängliches Statistiktool der Firma "Sitemeter" (Los Angeles), das aussagt, dass die Erfassung dieser Seite im Juni 2009 begonnen wurde und in letzter Zeit stark ansteigende Zugriffszahlen aufweist. Waren es im gesamten September noch 427 Leser/innen, im Oktober bereits 934, so sind es in den ersten fünf Novembertagen bereits 583 Interessierte (gestern 226, heute bis 17 Uhr bereits über 280). Was dort ebenfalls ersichtlich ist (denn das Stitistiktool ist nicht per Passwort geschützt): über 90% der Leser/innen kamen von der Kampagnenseite "www.awomantoheadeurope.eu", 35% kommen aus Lettland, der Rest aus allen Ländern der Welt (ca. 6% aus Deutschland). 
So gesehen - eine gelungene Kampagne. Schade wäre nur, wenn der Eindruck haften bliebe, sie sei lediglich selbst inszeniert, und rein virtuell. (die Fotos entstammen der Kampagnenseite einepraesidentineuropas.eu)

Lesen wir noch ein wenig weiter bei "VVF-Consult". Hier steht ein wenig mehr über das, was Vike-Freiberga selbst für wichtig hält bei ihrer Kandidatur. Dort ist Folgendes aufgeführt:

- die symbolische Wert, eine Frau als Kandidatin aufzuführen

- Vike-Freiberga als Mediatorin

- Vike-Freibergas Land, Lettland, als eine Nachricht der Hoffnung: Europa kann alles erreichen!

- Politische Ausgewogenheit, unabhängig von Parteien

Na, mal schaun, wie weit es trägt. Vielleicht gibt es ja noch mehr Argumente?

Ergänzung (5.11.09)
Inzwischen gibt es zwei unterstützende Presseartikel zur Kampagne
Dagens Nyheter (5.11.09, schwedisch): Låt henne leda EU

European Voice (5.11.09, englisch):  Thank you, Doña Quixote, for seeking the presidency

Ergänzung (7.11.09)
Auch die lettische Zeitung DIENA ist inzwischen mal drauf gekommen, Vike-Freiberga mal nach der "Webseite ihrer Unterstützer/innen" zu fragen (6.11.). Antwort: Gegenwärtig habe man nicht vor, die konkreten Namen dieser Unterstützer/innen zu veröffentlichen. Vike-Freibergas Sprecherin Daina Lasmane sagte, auf die Seite www.awomantoheadeurope.eu angesprochen, man wisse von der Seite und habe auch Fotos zur Verfügung gestellt. Vike-Freiberga sei aber nicht selbst die Betreiberin. "Das ist eine Seite, von der wir wissen", so Lasmane. Es seien "Menschen, die Frau Vike-Freiberga ehren und achten und als geeignete Kandidatin ansehen." Auf die Frage hin, wann denn die Namen dieser angeblichen "Bürgerinitiative" zu Gunsten von Vike-Freiberga öffentlich gemacht werden, bestätigte Lasmane lediglich, dass sie selbst die Initiator/innen auch schon danach gefragt, aber keine Antwort erhalten habe.

Ergänzung (19.11.09)
Folgende Nachricht ging heute an diejenigen, welche die den auf der Seite wiedergegebenen Aufruf zu Gunsten von Vike-Freiberga unterzeichnet haben: 
"Sie haben die Online-Petition unterzeichnet und so die Kandidatur von Vaira Vike-Freiberga für die Präsidentschaft des Europäischen Rates unterstützt. Vor der Versammlung des Europäischen Rates am Donnerstag, den 19. November, werden wir der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft die Petition übergeben, damit sie vor dem Treffen der Staats- und Regierungschefs davon Kenntnis nehmen kann. Ihre Stimme wird somit wahrgenommen werden."
Die Absender bezeichnen sich auch an dieser Stelle weiterhin lediglich als "wir" - ohne anzudeuten, wer Absender und Handelnde sind. 

30. Oktober 2009

Abstürzende Himmelskörper, verglühende Illusionen?

In Deutschland gilt es vielleicht als Spruch für unverbesserliche Optimisten: "Solange uns der Himmel nicht auf den Kopf fällt - machen wir weiter!"
In Lettland ließe sich - im Blick auf die Ereignisse dieser Woche - dieser Spruch noch etwas abwandeln. Was ist wahrscheinlicher: dass als geologische Weltsensation in Mazsalaza ein Meteorit niedergeht, oder dass eine Lettin Präsidentin des Europäischen Rats wird?

Als der litauische Außenminister Anfang dieser Woche mit ersten Äußerungen dahingehend zitiert wurde, die ehemalige lettische Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga sei als Kandidatin für die europäischen Spitzenposten beim Europäischen Rat durchaus geeignet, da war Lettland noch mit anderen Schlagzeilen beschäftigt.

Auszug aus der Meldung der lettischen Nachrichtenagentur LETA vom 26.Oktober: "Nahe des Bauernhofs 'Kundrati' in der Nähe des Ortes Mazsalaza im Norden Lettland ging am Sonntag nachmittag ein Meteorit nieder und erzeugte einen Auschlagskrater von 20m Durchmesser." Aber nur einen Tag später, am 27.Oktober, sahen die Meldungen dann ganz anders aus: Die Meldungen über einen angeblich bei Mazsalaza niedergegangenen Meteoriten, worüber die Medien weltweit berichtet hatten, seien von der Telekommunikationsgesellschaft TELE2 bewußt selbst inszeniert worden. Klarer Fall von HOAXX also (ein selbst medial inszenierter Marketing-Trick).

Einige lustige Details am Rande wies der ganze Fall auf. So verkaufte die Eigentümerin des Stück Lands, wo der angeblicher Aufschlagkrater war, vorgedruckte Eintrittskarten an alle Besucher, die die "Sensation" selbst sehen wollten. Im (wahrscheinlich selbst gegrabenen) Loch sei lediglich etwas Salpeter mit Schwefel gemischt verbrannt worden, so die Ekspertise eines herbeigerufenen Geologen. Und ganz den Reklametricks entsprechend eröffnete auch schon jemand eine Webseite unter "meteorits.lv" um dort die entsprechenden Souvenirs zum "Ereignis" anzubieten. Und offenbar die Initiatoren selbst hatten (als Begleitmaterial, eben für jede Altersgruppe etwas) einen angeblichen Live-Mitschnitt der "Entdeckung" als Video bei YouTube eingestellt.

Dennoch wird die ganze Inszenierung für die Firma TELE2 wohl auch unangenehme Folgen haben: das lettische Innenministerium kündigte an, den Vertrag mit TELE2 "wo immer es geht" lösen zu wollen. Innenministerin Linda Mūrniece ist offenbar sauer, dass infolge der Aktion Feuerwehr- und Rettungsdienste unnötig alarmiert wurden (DB 27.10.). Die schwedische Zentrale von TELE2 sah sich offenbar genötigt sich bei der lettischen Regierung zu entschuldigen (Meldung NRA). Die ganze Meteoriten-Aktion, die von der lettischen TELE2-Filiale erdacht, aber aus Stockholm unterstützt worden sei, habe 13.000 Lat gekostet, weiß Dienas Bizness. In der Baltic Times findet sich diese Summe näher aufgeschlüsselt: offenbar handelt es sich hier um die Forderungen des lettischen Innenministeriums nach Kostenerstattung.
Lettlands bekanntester Marketing-Experte Ēriks Stendenieks (!MOOZ) - der ja schon so manchen unbeliebten Politiker durch auffällige Plakatkampagnen wieder ins Parlament half - bejubelt dagegen die Meteoriten-Idee. "Da sieht man mal wieder, was Marketing bewirken kann!" Da kommt wohl das Prinzip rüber: es ist nicht wichtig, ob die Leute es gut finden, Hauptsache man redet drüber.

Hauptsache man redet drüber?
Ob dasselbe Prinzip auch für den "politischen Fixstern" Vīķe-Freiberga gilt?
Immerhin hat ihre mögliche Kandidatur inzwischen auch in Lettland eine Diskussion darüber ausgelöst, welche Interessen Lettland in Bezug auf den Europäischen Rat eigentlich hat. In einem Beitrag der Neatkarīgā (30.10.) wird deutlich, dass Regierungschef Dombrovskis eigentlich die Besetzung des Postens eines "europäischen Außenministers" für wichtiger hält. Durch die Benennung einer Kandidatin als potentielle Ratspräsidentin habe Lettland an Einfluß in dieser Diskussion verloren, so wird dort Dombrovskis zitiert. Außenminister Māris Riekstiņš wiederum habe geäussert, solange der Lissabon-Vertrag (die EU-Reform) noch nicht unterschrieben sei (gemeint ist der tschechische Präsident Klaus, der eine Unterschrift voraussichtlich erst nächste Woche geben wird), müsse Lettland ja offiziell noch keine Kandidatin benennen. Inzwischen lässt nun auch Dombrovskis eilig Zustimmung und Unterstützung verbreiten zur Kandidatur Vīķe-Freiberga, obwohl eigentlich alle politischen Kommentator/innen auch in Lettland ihre tatsächlichen Wahlchancen als ziemlich gering einschätzen. 
Ob das aber die Chancen von VVF gerade vermehrt, wenn sich auch die führenden lettischen Politiker nicht einig sind? Dieser Uneinigkeit sei sich auch Vīķe-Freiberga nicht bewußt gewesen, als sie den Vorschlag einer Kandidatur akzeptiert habe. Für Kommentator Aivars Ozoliņš (früher DIENA, heute CITADIENA) könnte der Vorgang dennoch einen ""Wendepunkt darstellen, der Lettlands Politik zurück ins Sonnenlicht bringt." Mal sehen, wie das nächste Woche dann aussieht.

28. Oktober 2009

Europäische Lettlandkennerinnen?

nun gut, ich habe das Thema unterschätzt. Nur weil irgendeine Zeitung in Österreich offenbar die drei baltischen Staaten nicht auseinander halten kann, muss der Vorschlag, Vaira Vīķe-Freiberga zur Präsidentin des EU-Parlaments (schrieb ich erst - korrekt muss es aber heißen: des Europäischen Rats) wählen zu wollen, noch nicht falsch sein.
Europäische Waschküche offenbar - stark gerüchtehaltig, neblig, undurchsichtig, wer hat da welche Karten im Spiel?
Das ZDF widmete sich heute nachmittag (Europa heute) ebenfalls dem Thema. Aber neben Claude Juncker und Tony Blair werden in der deutschen Presse bisher in diesem Spiel keine konkreten Namen genannt. Ist es nicht ähnlich wie beim Geschacher um den Posten des UN-Vorsitzenden, als viele die Kandidatur von Vike-Freiberga gut fanden, aber ihre tatsächlichen Wahlchancen als gering einschätzten?

Immerhin war die ehemalige lettische Präsidentin NIE Politikerin. Ethnologin, Psychologin, Europa-Freundin, reicht das?

Seit heute nachmittag gibt es auch eine Pressemitteilung der lettischen Nachrichtenagentur LETA dazu.  Vīķe-Freiberga habe eingewilligt, als Kandidatin für den Posten der Präsidentin des EU-Parlaments zur Verfügung zu stehen, heißt es da. Regierungschef Dombrivskis habe ihr die volle Unterstützung durch die lettische Regierung zugesagt. Vīķe-Freiberga sei mit ihrem "Wissen, ihrer Erfahrung und ihre linguistischen Fähigkeiten" (sie spricht Lettisch, Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch) eine gute Kompromisskandidatin, da die EU-Staaten sich über die Besetzung des Postens noch nicht einigen konnten.
Daina Lasmane, die persönliche Sekretärin Vīķe-Freibergas, stellt es so dar: VVK sei "auf Reisen" von sehr vielen Einzelpersonen und auch Nichtregierungsorganisationen angesprochen und zu einer Kandidatur ermutigt worden. Der gegenwärtige Außenminister Māris Riekstiņš wiederum hatte gegenüber LETA lediglich "nicht ausgeschlossen", dass Lettlland auch eine/n eigene/n Kandidat/in nominieren könnte.

Gibt es noch andere Äußerungen dazu? "The Local" zitiert die schwedische EU-Kommissarin Margot Wallström mit der Aussage "es sollte eine Frau machen". In diesem Beitrag wird übrigens bestätigt, dass der Vorschlag zu Gunsten Vīķe-Freiberga tatsächlich von Seiten Litauens kam. Die Leser/innen-Diskussion auf derselben Seite zeigt aber nur, dass viele einen EU-Präsident Blair verhindern wollen. Manche schlagen sogar Angela Merkel als Kandidatin vor (aber keiner erwähnt Vīķe-Freiberga näher). 

Baltic Times (ja, sie erscheint noch!), titelt heute "Vīķe-Freiberga sei bereit Präsidentin zu werden" (das muss sich für lettische Leser/innen doch fast als Witz verstehen, wer die EU-Postenschiebereien nicht so im Blick hat). Und hier wird nun auch Dalia Grybauskaite, die "echte" Präsidentin Litauens, nun auch als Unterstützerin dieser Kandidatur aufgeführt. Earth Times wiederum meint, auch der estnische Präsident Ilves sei schon mal als Kandidat genannt worden, und überhaupt spreche vielleicht ihr Alter inzwischen gegen Vīķe-Freiberga (sie wird am 1.Dezember 72 Jahre alt). Angeblich hätten sich die Polen besonders zu Gunsten von Ilves ausgesprochen. 

Angela Merkel wurde heute als deutsche Kanzlerin erneut gewählt. Aber eine Frau an der Spitze von Europa? Eine Osteuropäerin, wenn auch eine "international angewärmte, auf einem Chefsessel in Brüssel? Schön um die Verwirrung allerseits, aber ich glaube es nicht. Jemand anderer Meinung?

27. Oktober 2009

Österreichs Lettlandkennerinnen

Auch zwei Jahre nach Ende ihrer Amtszeit ist die ehemalige lettische Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga immer noch international bestens bekannt. Sollte man meinen. Oder vielleicht sollten speziell die Mitmenschen aus Österreich doch mal wieder ein paar Leserbriefe schreiben an ihre Zeitungen. Zum Beispiel an den KURIER, der in der heutigen Ausgabe folgendes zur Frage der Vergabe der Spitzenpositionen bei der Europäischen Union Folgendes meldet:  

"Für den Ratspräsidenten hat einer offen Interesse geäußert: Der dienstälteste Regierungschef in der EU, Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker, würde die Rolle übernehmen. Juncker: "Wenn alles passt und wenn der Wunsch an mich herangetragen würde, würde ich nicht von vornherein Nein sagen. Aber das Profil muss passen."   Neben Juncker hat der frühere britische Premier Tony Blair intern erkennen lassen, den Job gerne zu machen. Öffentlich hat er sich selbst dazu aber noch nicht geäußert. Genannt werden zudem der niederländische Premier Jan Peter Balkenende oder der frühere finnische Premier Paavo Lipponen. Litauen hat seine ehemalige Präsidentin Vaira Vike-Freiberga vorgeschlagen."  Zitat Ende. 

Na ja, wer blickt schon bei der EU so richtig durch? Ich bin mal gespannt, ob es jemand korrigiert. Wo doch erst vor wenigen Tagen Österreichs Außenminister Spindelegger seinen Kollegen Vygaudas Ušackas traf (Pressemeldung), und diesem versicherte, die gegenseitigen Beziehungen seien "ausgezeichnet und von vielen Gemeinsamkeiten gekennzeichnet". Da darf spekuliert werden, mit welchem Land aus baltischer Sicht Österreich dann zu verwechseln wäre? Sind die eigentlich unabhängig? 

Oder vielleicht wurde die berichterstattende Journalistin einfach an den falschen Ort geschickt? Gerade heute hält Vaira Vīķe-Freiberga nämlich einen Vortrag. Thema: "Die Herausforderung eines wirklich geeinten Europas". Vortragsort: Lugano. Auch ein europäisches Nachbarland Österreichs. 

Ergänzung, 28.10.: offensichtlich hat diese Meldung zwei weitere österreichische Varianten, aus denen der Grund für den "Flüchtigkeitsfehler" auch erahnt werden kann.  
Die "Kleine Zeitung" brachte zum gleichen Thema: "Außenminister Spindelegger bestätigte indes das Interesse Österreichs an einem der beiden verbleibenden EU-Spitzenposten, nannte aber weder Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (V) noch Außenministerin Ursula Plassnik (V) namentlich, die im Gespräch sind. "Sie werden bald eine längere Menü-Liste sehen", sagte der litauische Außenminister Vygaudas Usackas. Und mit der lettischen Ex-Präsidentin Vaira Vike-Freiberga bereicherte er das EU-Postenkarussell um einen weiteren Namen."

Die Neue Züricher Zeitung NZZ schrieb dazu: "Der britische Aussenminister Miliband forderte einen «starken» Ratspräsidenten, ein Kriterium, das der frühere Premierminister Blair zweifellos erfüllt. Milibands Amtskollege aus Litauen, Usackas, sprach sich für die ehemalige lettische Präsidentin Vike-Freiberga aus."


Was lernen wir daraus? Österreichs Journalisten entdecken ein Thema. Vielleicht sollte ein Außenminister damit rechnen, dass ausländische Journalisten sein kleines Land nicht so genau kennen, und lieber nur von seiner eigenen Präsidentin sprechen?

19. Oktober 2009

Mach mir den Schröder!

Es könnte sein, dass nur wenige in Lettland das Lipperland kennen. Aus diesem schönen Lipperland kamen in jüngster Zeit gleich zwei führende Politiker der SPD: Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier. Beiden wurde im Bundestagswahlkampf das Etikett aufgeklebt, verantwortlich für die sogenannten "Hartz-IV-Reformen" zu sein, die für viele als Symbol für soziale Ungerechtigkeit herhalten müssen. Weitaus symbolischer aus lettischer Sicht war aber das, was Schröder gleich nach Abwahl als Bundeskanzler zu tun müssen glaubte: Aufsichtsratsvorsitzender beim russischen Staatsunternehmen GAZPROM zu werden. Da nützen all die Mühen vom Sommer des Jahres 2000 nichts mehr, als Schröder als erster deutscher Kanzler Lettland und den baltischen Staaten einen Besuch abstattete - eine Schwarz-Gelbe Regierung hatte dies sieben Jahre lang nicht zustande gebracht.

Dieser Tage zeigte sich in den lettischen Medien die Tendenz, dass der Deutsche Schröder (Šrēders) mindestens genauso nachhaltig im Gedächtnis der Lettinnen und Letten verbleiben wird wie der Deutsche Kohl. Aigars Kalvītis, vom 2. Dezember 2004 bis zum 5. Dezember 2007 Ministerpräsident Lettlands, abgesetzt von einer damals "Regenschirmrevolution" oder "Cappuccino-Revolution" genannten Volksbewegung der Unzufriedenen, hatte noch im Schwunge des Wahlsiegs 2006 seinem Land "sieben fette Jahre" versprochen - und nicht nur damit, sondern auch mit seiner bäuerlich geprägten Berufserfahrung öffentliche Vergleiche mit einem rosafarbenen landwirtschaftlichen Nutztier ausgelöst. Nun kam erst sein Rücktritt, dann die Krise. Ein Schelm, wer dabei denkt: hätten wir unseren Cūkmens doch bloß nicht zur Rücktritt gezwungen!

Manche wollten
Kalvītis ja schon als lettischen Botschafter in Moskau empfehlen. Nun ist mit dem neuen russischstämmigen Bürgermeister von Riga, Nils Ušakovs, ein neuer "Lieblings-Gesprächspartner Moskaus" auf den Plan getreten. Aber Ende September zog Kalvītis seinen Trumpf aus dem Ärmel: ein Business-Lunch persönlich mit Vladimir Putin, gegeben während eines Investitionsforums in Moskau, zog die Aufmerksamkeit auf sich. Die lettische Europaabgeordnete Inese Vaidere, Mitglied der im Rigaer Stadtrat oppositionellen "Pilsoniska Savieniba" (bürgerschaftliche Vereinigung), sah gemäß lettischen Presseberichten "Parallelen zwischen Schröder und dem Verhalten von Kalvītis" (TVNet). Mit den Worten "Wenn es Gespräche gäbe, so müsse es ja auch Gründe dafür geben", spielte Vaidere darauf an, dass Kalvītis kürzlich seinen Sitz im lettischen Parlament aufgegeben hatte (und nun wohl frei für Sonderaufgaben im Sinne der russischen Wirtschaft sei?). Kalvītis selbst hatte die Notwendigkeit engerer wirtschaftlicher Vereinbarungen zwischen Russland und Lettland als Grund für seine Initiative angegeben, und die Möglichkeit eines Besuchs des russischen Außenministers Lavrov in Lettland angedeutet.

"Alles nur Neider", reagierte
Kalvītis auch auf kritische Reaktionen des gegenwärtigen lettischen Wirtschaftsministers Kampars. "So ist er eben", kommentiert der lettische Journalist Karlis Streips, "so war er als Regierungschef, so ist er jetzt immer noch."

15. Oktober 2009

Lettland im Herbst

Daß Lettland am Rande des Staatsbankrottes steht, dürfte sich mittlerweile weltweit herumgesprochen haben. Wie aber sieht der Alltag nun aus? Was geschieht auf der politischen Ebene? Befindet sich das Land in einer Schockstarre?

Die Umstände haben zu Beginn des Jahres den erst 38jährigen Finanzexperten und bisherigen Europaabgeordneten Valdis Dombrovskis ins Amt des Ministerpräsidenten gebracht und damit jene Partei zurück in die Koalition, welche eine ganze Weile von den oligarchischen bisherigen Regierungspartnern gemieden worden war.

Zwar sind Dombrovskis rhetorische Fähigkeiten, der Bevölkerung die Krise, ihre Folgen und das Regierungshandeln zu erläutern besser als die seines Vorgängers Ivars Godmanis. Aber regiert Dombrovskis das Land tatsächlich? Wird es ihm gelingen, sich bis zu den Wahlen im Herbst 2010 im Amt zu halten? Dann hätte er eine der seit 1991 am längsten regierenden Exekutiven geleitet.

Innenpolitische Hauptkriegsschauplätze
Wie weit der Einfluß Dombrovskis’ reicht, ist zweifelhaft, da die bislang federführende Volkspartei in ihrer Positionierung sprunghaft geworden ist, mal die Verhandlungen mit dem IWF befürwortet, dann wieder bereits unterzeichnete Vereinbarungen verurteilt und beständig latent mit dem Austritt aus der Regierung liebäugelt.

Eine Möglichkeit wäre, ähnlich wie 2004 die Verabschiedung des Haushalts abzulehnen und damit die Regierung zu stürzen. In diesem Fall könnte der Übervater der Partei, Andris Šķēle, wie Phönix aus der Asche in die Politik zurückkehren. Damit könnte sich die Partei der Ersten Partei / Lettlands Weg anschließen, die bei der letzten Regierungsbildung in die Opposition ging; andererseits ließe sich demonstrieren, daß in einer schwierigen Lage eine ernsthafte politische Kraft die Regierung nicht stürzt. Gleichzeitig könnte auch die Neue Zeit den Querulanten Volkspartei aus der Koalition schmeißen und versuchen, sich auf die zehn Stimmen der Ersten Partei / Lettlands Weg zu verlassen.

Hinter diesen Planspielen verbirgt sich letztlich die Frage, wer von einem neuerlichen Regierungssturz nach kaum mehr als einem halben Jahr im Amt und ein Jahr vor den Wahlen profitieren könnte und wem dies eher schadete. Ainārs Šlesers von der Ersten Partei etwa deutete an, daß seine Partei wohl eher nicht an einer neuen Regierung teilnehmen würde.

Für eben diesen ist die jüngste Ankündigung des früheren Ministerpräsidenten am ehesten ein Problem, da beide ähnliche Ambitionen haben. Während der über sieben Jahre als „einfaches Parteimitglied“ figurierende Šķēle zur Erklärung vorgab, er habe schon früher darauf hingewiesen, in die Politik zurückzukehren, sobald man an seiner Tür klopfe, trat das Parteimitglied mit der Mitgliedsnummer zwei Vaira Paegle, umgehend aus der Partei aus. Šķēle habe nie seine geschäftlichen Interessen beiseite geschoben und werde dies gewiß auch in Zukunft nicht tun. Sie war vor zwei Jahren eine von drei Parteitagsdelegierten gewesen, welche die Hand gehoben hatten, als gefragt wurde, wer einen Rückzug Šķēles aus der Partei wünscht.

Alltag und kleine Leute
Vor diesem Hintergrund sind die strammen Verordnungen der Regierung bei der einfachen Bevölkerung angekommen. So hat die Regierung einige als besonders schmerzhaft empfundene Einschnitte vollzogen wie die Schließung von Schulen auf dem Land. Dies mag angesichts der demographischen Entwicklung angemessen sein, es wurden aber auch Krankenhäuser geschlossen, darunter in der Hauptstadt selbst zwei traditionsreiche Häuser. Das Erste Krankenhaus war Ende des 19. Jahrhunderts damals noch am Stadtrand errichtet worden und befindet sich inzwischen zentrumsnah. Über lange Zeit hatte sich diese Einrichtung auf die Betreuung von Unfallopfern und Notfällen spezialisiert. Auch diese Reduzierung war allerdings seit längerem angedacht und nun unrealisiert geblieben.

Die inzwischen dramatisch steigende Arbeitslosigkeit führt zu großen sozialen Problemen. Nicht nur ist die Arbeitslosenunterstützung gering, nach Ablauf des Zeitraums für diese Zahlungen fehlt es an einer Art “Sozialhilfe”. Doch auch wer die Arbeit nicht verloren hat, sieht sich mit Einkommenskürzungen etwa bei Lehrern und einer 70% Rentenkürzung für Rentner, die ihr Einkünfte mit zusätzlicher Arbeit aufgebessert haben, konfrontiert. Selbst für bislang besser Verdienende sieht die Welt inzwischen anders aus. Wunderten sich in den vergangenen Jahren Rigabesucher noch über die große Zahl an teuren Limousinen – man zeigte eben in der lettischen Gesellschaft, was man hatte – so werden inzwischen vielen, die ihre Kredite oder Leasingraten nicht mehr bedienen können, die Autos wieder abgenommen. Das macht sich in weniger Staus während der Hauptverkehrszeiten ebenfalls bemerkbar.

Da einige Menschen tatsächlich in echte Not gekommen sind, es wird von Familien berichtet, die noch vor kurzem Leasingraten bezahlen könnten, bei denen es aber nun nicht einmal mehr für die Mahlzeiten ihrer Kinder reicht, hat die Regierung ein sogenanntes soziales “Kissen” beschlossen. Dies kann in Anspruch nehmen, wer gleichzeitig von der Krise und den Reformen betroffen ist. So erhalten Mittellose kostenlose Gesundheitsversorgung und Medikamente. Dagegen jedoch protestiert der Verband der Geringverdiener[1]. Dort wirft man der Regierung vor, daß NGOs nicht unterstützt werden, sie selbst etwa ihre Räumlichkeiten gratis für den Handel mit Second hand Kleidung zur Verfügung stellten. Überdies sei es ungerecht, daß Untätige oder Faulenzer kostenlose medizinische Versorgung erhielten, die sich eine zum gesetzlichen Mindestlohn arbeitende Mutter eines Kleinkindes nicht leisten kann. Personen, die Probleme mit den Ratenzahlungen haben, werden ebenfalls stattlich mit Stundungen unterstützt. Den Kommunen will die Regierung mit Schulbussen helfen.

Der lange Arm korrupter Praktiken
Auf der anderen Seite haben viele Staatliche Einrichtungen den befohlenen Rotstift aber nicht mit 20% umgesetzt und sind statt dessen erfinderisch geworden. Anstelle der Auszahlung sogenannter Prämien wurden plötzlich fiktive Überstunden honoriert. oder statt Bargeld Einkaufsgutscheine ausgegeben. Besonders pikant ist, daß sich gerade das Justizministerium mit internen Anordnungen über Kabinettsbeschlüsse hinweggesetzt hat, was inzwischen öffentlich von der Chefin des Rechnungshofes, Inguna Sudraba, kritisiert wurde. Andererseits wies selbst die stellvertretende Leiterin der Staatskanzlei, Baiba Pētersone, früher Mitglied der rechtskonservativen Für Vaterland und Freiheit, darauf hin, daß gegen den Kabinettsbeschluß nicht verstoßen worden sei.

Diese Ignoranz bezeichnete der Regierungschef als “kreative Buchhaltung”. Sie macht den Nihilismus und die Eigensucht eines Teils der Bevölkerung plakativ deutlich, denn nicht alle Einwohner Lettlands haben auch nur den Ansatz einer Chance, auf ähnliche Art und Weise ihren Lebensstandard zu halten.

Das Justizministerium wird geführt vom Parteivorsitzenden der Volkspartei, dem eloquenten Māreks Segliņš, der bereits früher als Innenminister mit interessanten Äußerungen über Polizei und innere Sicherheit aufgefallen ist. Freilich, die einstweilen zweifelhaft erscheinen, ungeachtet der Frage, ob die Wahlen turnusmäßig im Herbst des nächsten Jahres oder – was ebenfalls zweifelhaft ist – früher stattfinden.

Diese Auseinandersetzung finden statt vor dem Hintergrund, daß in Lettland bislang noch kein einheitliches Besoldungssystem im öffentlichen Dienst eingeführt worden ist – über das jetzt neuerlich diskutiert wird. Einstweilen ohne Folgen.

Innenpolitische Nebenkriegsschauplätze
Als wenn es derzeit nicht Wichtigeres gäbe, beschäftigt sich die Regierung jedoch auch mit anderen umstrittenen und kritischen Fragen in den Niederungen des Alltags. So sollen bei der Polizei Patrouillen- und Verkehrsabteilung zusammengelegt werden. Dann könnten sich die einen auch um Überschreitungen der Straßenverkehrsordnung und die anderen um Verstöße gegen die öffentliche Ordnung kümmern. Bislang fahren die Streifenwagen kreuz und quer durch die Stadt, auch jene der Munizipalpolizei – de facto eine Art aufgerüstetes Ordnungsamt – und oft läßt sich beobachten, daß immer gerade die falsche Streife am falschen Ort zur falschen Zeit ist.

Gleichzeitig flammte kürzlich ein neuerlicher “Taxikrieg” auf. Innenministerin Linda Mūrniece wehrt sich gegen Vorwürfe des Chefs von Air Baltic, Bertold Flick, die Polizei müsse sich schneller als bislang um den erneut ausgebrochenen Taxi-Krieg kümmern. Bereits in den 90er Jahren hatte es einen solchen gegeben. Jetzt ist er erneut entfacht, weil Flick auf diesem Markt als neuer Konkurrent aufgetreten ist. Konkurrierende Fahrer beschädigen die Autos anderer Firmen und mitunter entpuppt sich auch ein Kunde als “Verführer”, der den Fahrer an einen Zielort lotst, wo bereits Komplizen warten.

Dieselbe Ministerin reagierte im September überaus heftig auf eine nicht angemeldete Demonstration im südlettischen Bauska. Hier hatten sich spontan Menschen im online Sozialnetzwerk draugiem.lv zu einer Protestaktion gegen die Schließung des örtlichen Krankenhauses verabredet und blockierten mit der Brücke über die Mēmele (das ist nicht die Memel!) die Hauptverkehrsader des Baltikums Via Baltica. Anschließend wurde auch der die Brücke über die Mūsa besetzt. Als die Sondereinheiten Alfa aus Riga eintrafen, wurden zahlreiche Personen verhaftet, die sich Anfang Oktober vor Gericht verantworten mußten. Eine junge Frau, die aus Sorge um die medizinische Versorgung ihrer Mutter und ihrer Kinder auf einer der Brücken gestellt worden war, wurde freigesprochen. Ein weiterer Angeklagter erhielt die wohl eher symbolische Strafe von 5 Lat, ca. 7,50 Euro. Der Mann hatte zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 2 Promille Alkohol im Blut. Er gab auch vor den Medien zu, Alkoholiker zu sein. Am fraglichen Tag sei er zufällig vorbeigekommen auf dem Weg zu einer Kneipe für die nächste 100g Dosis gegen den Kater vom Vortag. Als er die Menschen und die Polizei sah, habe er nur helfen wollen.

Ökonomischer Status Quo
Dann ist da noch die Diskussion über die Abwertung der Landeswährung, des Lats. Dies versuchten bislang alle Kabinette zu vermeiden, wie der Teufel das Weihwasser, denn viele Menschen haben sich in Fremdwährungen verschuldet. Die Abwertung würde Lettlands Konkurrenzfähigkeit vielleicht verbessern, doch exportiert Lettland ohnehin kaum Industrieprodukte. Statt dessen würde sich die Privatverschuldung deutlich erhöhen. Die Kreditgeber Lettlands haben die Politik akzeptiert. Doch aus Brüssel heißt es auch, daß die EU jeden eingeschlagenen Weg unterstützt hätte.

Freilich gibt es neben allen Horrormeldungen auch positive Folgen der Krise. Die Letten hatten während der fetten Jahre, auf Pump, über ihre Verhältnisse gelebt und damit ein Außenhandelsbilanzdefizit von 25% des BIP erreicht. Dieses ist hinweggeschmolzen ebenso wie die Inflation, welche sich zwischenzeitlich der 20% Marke genähert hatte. Inzwischen gibt es sogar eher deflationäre Tendenzen, die einzig durch die Steuerpolitik nicht immer sichtbar sind.

Aber auch diese positiven Aspekte ändern nichts daran, daß die Haushaltslage klamm ist. Ministerpräsident Dombrovskis ist darum der Ansicht, daß nur Steuererhöhungen oder Ausgabensenkung helfen. Die Neue Zeit hat darum den Vorschlag einer veränderten Immobilienbesteuerung in die Diskussion gebracht.

Hilflose Politik
In diese Gemengelage platzte die Ankündigung des Präsidenten, am 15. September zum zweiten Mal von seinem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch zu machen und eine außerordentliche Kabinettssitzung einzuberufen, bei der wie bereits im April um Gesundheit, Haushalt, Bildung sowie die Verwaltung und eine Bewertung des während der letzten fünf Monate erreichten berichtet werden soll. Zatlers erklärte, die Verabschiedung des Haushaltes sei nun ebenso besonders wichtig wie klare Angaben, wie die Situation aussieht, was Lettland 2010 zu erwarten hat und aus der Krise heraus kommt. Der Präsident äußerte sich ebenfalls zuversichtlich, daß diese Sitzung auch die Stabilität der Regierung deutlich machen könne, wenn die Minister sie geschlossen verlassen.

Da die Sitzung im Gegenteil zu jener im April, die hinter verschlossenen Türen stattgefunden hatte, dieses Mal vom Fernsehen Live übertragen wurde, stellte sie sich wie eine vom Präsidenten geleitete Pressekonferenz des Kabinetts dar. Die zuständigen Minister der erwähnten Bereiche hatten Bericht zu erstatten und mußten anschließend auf zusätzliche Fragen des Staatsoberhauptes antworten.

Dies änderte nichts an den Reibereien zwischen den die Regierung tragenden politischen Kräften inklusive der Opposition. So wurden erneut Zweifel deutlich, ob das Parlament den Haushalt verabschieden wird. Die Erste Partei / Lettlands Weg erklärte sich, obwohl in der Opposition befindlich, dazu zwar grundsätzlich bereit, Diskussionen, wird das Budget angenommen, während die Volkspartei Zweifel zu zerstreuen versuchte, doch die Woche war ebenso reich an Spekulationen über die Ambitionen verschiedener Personen wie auch über hinter den Kulissen bereits organisierte Manöver.

Die Fraktionsvorsitzende der Neuen Zeit, Solvita Āboltiņa, etwa zeigte sich überzeugt, die Volkspartei versuche, um nicht als Königsmörder dazustehen, ihre Partei zu provozieren, die Regierung gegenüber der EU als instabil erscheinen zu lassen, um einen den Sturz der Regierung herbeizuführen und damit auf das eigentlichen Ziel einer Abwertung des Lats hinzuarbeiten. Dies hatte jüngst bei einer “Konferenz” der Partei deren graue Eminenz, Andris Šķēle, neuerlich ins Spiel gebracht.

Andere Beobachter sind der Ansicht, daß sich die Parteien gegenseitig provozierten. So habe Dombrovskis die Debatte über die Immobiliensteuern anläßlich einer Sondersitzung des Parlament zur Anhörung des Finanzministers auf die Tagäsordnung gesetzt wohl wissend, daß die Volkspartei diesen Vorschlag ablehnt und mit ihr auch das Harmoniezentrum und die Erste Partei / Lettlands Weg. Gleichzeitig hat die Sitzung parteiinterne Meinungsverschiedenheiten der Volkspartei zu Tage treten lassen, als bei der von ihr selbst beantragten Sondersitzung nur weniger ihrer Abgeordneten erschienen. Einige Mandatsträger sind der Ansicht, daß ein Verlassen der Regierung für die Partei tödlich wäre. Gleichzeitig kritisiert ihr Vorsitzender Segliņš, daß der Premier keine Mehrheit für die Wahl der Volkspartei-Abgeordneten Anta Rugāte ins garantiere, obwohl auch die anderen Parteien diese Kandidatur ablehnen.

Dies alles nährt Spekulationen über eine Annäherung zwischen Volkspartei und Erster Partei / Lettlands Weg und Pläne zur Bildung einer neuen Regierung. Dem seit Jahresbeginn nicht mehr im Kabinett sitzende Ainārs Šleser werden seit Jahren Ambitionen auf das Amt des Ministerpräsident nachgesagt. Da aber laut Verfassung der Präsident das alleinige Recht einer Nominierung hat, hätte wohl ein parteiloser Kandidat bei einem gegenwärtigen Regierungssturz bessere Aussichten. Und so gibt es Gerüchte, der kürzlich abgetretene Vorstandsvorsitzende der Sparkasse, Mārtiņš Bondars, sei Zatlers als Kandidat von Šlesers selbst vorgeschlagen worden.

Šķēles Rückkehr in die Politik gibt Kommentatoren ebenfalls Anlaß zu Spekulationen. Einige meinen, der Dinosaurier der lettische Politik benötige eine Plattform. Das spräche für einen Rehgierungssturz, der dann eventuell aber erst nach der Verabschiedung des Haushaltes geschehen könnte.

Aber es gibt eine weitere Option. Seit den Kommunalwahlen im Juni ist Šlesers stellvertretender Bürgermeister von Riga in einer Koalition mit dem Harmoniezentrum, das damit erstmals an wichtiger Stelle politische Verantwortung übernimmt, die es gerne auf der nationalen Ebene auch täte. Jānis Urbanovičs verkündete bereits, das Zentrum habe sich vor der Macht nie gedrückt.

Auch in der Krise hat sich am politischen Kindergarten in Lettland ebenso wenig geändert wie am nihilistischen Machtumgang. Die Zeitung Latvijas Avīze überschrieb einen Kommentar diese Woche mit “Bankrots līdzšinējai ‘politikai’” – Bankrott der bisherigen “Politik” – erstaunlicherweise dauerte dies bis September 2009.
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[1] Der lettische Begriff maznodrošinātie bedeutet eher „gering abgesicherte“, ein Wörterbuch bietet „Benachteiligte“ als Übersetzung an.