22. Juli 2024

Nur Händchen halten

Es ist vielleicht schwer sich vorzustellen: ich gehe mit meiner Freundin Hand in Hand durch den Park, es sind romantische Stunden, wir genießen die Zweisamkeit. Plötzlich raunzt uns jemand grob von der Seite an und versetzt uns einen Fußtritt - mit der bloßen Begründung, seine Gefühle seien verletzt, wenn wir so offen unsere Liebe zeigen. Schließlich droht er uns auch noch einen Faustschlag zu versetzen. Was ist zu tun? Vielleicht die Polizei zu Hilfe rufen? 

Gnade für Agression

Ähnliches passierte tatsächlich am 8. November 2020 in Riga. Allerdings: es waren in diesem Fall zwei Männer, die sich "Händchen haltend" und in inniger Umarmung in der Öffentlichkeit zeigten. Die herbeigerufene Polizei befragte den Angreifer auch nach den Gründen für sein Tun; dieser erklärte offen, er habe durch das Verhalten der beiden Männer auf deren sexuelle Orientierung geschlossen und sich durch deren offene Zurschaustellung beleidigt gefühlt.
Er gab sogar zu, die beiden Männer böse beschimpft und körperlich angegangen zu haben, so dass sich der Bedrängte in einen Blumenladen flüchten und die Eingangtür von innen zuhalten musste. - Sechs Monate später stellte die lettische Polizei die Untersuchungen ein und stufte das Vergehen lediglich als Ordnungswidrigkeit ein, verbunden mit einer Geldstrafe von 70 Euro (lsm). Der Beschuldigte akzeptierte das Strafmaß. (siehe: Urteil Europäischer Gerichtshof)

Kein Versteckspiel

Der Angegriffene legte gegen diese Entscheidung Beschwerde bei der zuständigen Staatsanwaltschaft ein und verlangte eine Verurteilung gemäß Abschnitt 150 des lettischen Strafgesetzbuchs. Dort ist festgelegt, dass schüren von Hass oder Feindschaft aufgrund des Geschlechts, des Alters, einer Behinderung oder anderer Merkmale einer Person strafbar ist. Interessant ist nun die Begründung der lettischen Staatsanwaltschaft: diese Paragraphen könnten nicht zur Anwendung kommen, da sich ja die Taten des Angeklagten nur gegen eine bestimmte Person gerichtet habe - auch der Partner war anwesend, wurde aber nicht attaktiert. Weitere Personen seien ja nicht dabei gewesen, daher sei der Vorgang auch nicht als allgemeiner Hass gegen sexuelle Minderheiten zu bewerten gewesen.

Nun ja - sei es, wie es sei. In diesem Fall war der Leidtragende kein Unbekannter: es ist Deniss Hanovs, seines Zeichens Kulturwissenschaftler und Professor an der Kunstakademie Lettlands in Riga (RSU).  Wissenschaftlich erfahren, und kundig im Bereich der Menschenrechte. Logisch, dass er sich keineswegs mit plumpen Entschuldigungen zufrieden geben wollte.

Am 18.Juli 2024 fand der Streitfall seine Entscheidung vor dem Europäischen Gerichtshof, denn Hanovs bestand darauf, dass der lettische Staat angemessenen Schutz vor homophoben Angriffen gewähren muss - auch, indem eine wirksame Strafverfolgung von Tätern sichergestellt wird. Der Gerichtshof verurteilte den Staat Lettland zu einer Zahlung von 10.000 Euro an Hanovs - den Betrag will er einem Kinderkrankenhaus in Kiew (Ukraine) spenden (lsm)

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