19. Juli 2020

Wo ist der Weg nach Terbata?

Ja, es ist eine Neuigkeit, über die in den estnischen Medien (ERR) genauso interessiert berichtet wird wie in den lettischen: die Tartu-Straße ist nun einige Wochen autofrei. In Riga? Die Tartu-Straße? So werden vielleicht einige fragen. Nun ja, etwas Sprachkenntnis gehört dazu: "Tartu", lettisch "Tērbata". Die Stadt hieß zwischen 1893 und 1918, als sie Teil des russischen Reiches war, auch mal "Jurjew" (Юрьев). Die deutsche Oberschicht nannte den Ort "Dorpat". Der lettische Name richtet sich aber nach der ältesten Bezeichnung im Estnischen: "Tarbatu" - eigentlich richtete sich auch der Name "Dorpat" genau danach. Die  deutschsprachigen Geschichtsschreibung beginnt erst 1224, als "die Estenburg Tharbatum 1224 vom Schwertbrüderorden erobert wurde". Die lettische (lettgalische) und estnische Geschichtsschreibung erzählt dagegen auch von der Zeit zuvor.

Also: "Tartu-Straße" heißt in Riga "Tērbatas iela". Auch die "Tallinas iela", im Lettischen etwas nachlässig mit nur einem n geschrieben, liegt gleich in der Nähe. Historisch gilt sie als die Verlängerung der innerstädtischen "Kaļķu iela" (Kalkstraße), großflächig gesehen also tatsächlich "der Weg nach Tartu". In der Sowjetzeit wurde die Straße einige Zeit zur "Pētera-Stučkas-iela" (= Anführer der Bolschewiken 1919).

Im Abschnitt zwischen Elisabetes und Stabu iela wurden Blumentöpfe und Pflanzen aufgestellt. Schon im Januar wurde die Terbatas iela probeweise gesperrt (Beitrag)

Nun soll die Straße also bis zum 15. August zum Paradies allein für Fußgänger*innen, Radler*innen und Händler*innen werden. Oder, anders genannt: der Bereich wird zur "vasaras iela" (Sommerstraße) erklärt (riga.lv). Auch der Betrieb der Trolleybuslinie Nr.1, die hier durchführt, wurde bis zum 15.8. komplett eingestellt. "Schon seit 12 Jahren wurde von so einem Projekt geredet, es freut mich es endlich realisiert zu sehen!" sagte Artis Lapiņš, Vertreter der Stadtverwaltung, bei der Eröffnungsfeier am 17. Juli.

Noch offen ist allerdings, ob das an den Wochenenden geplante Kulturprogramm im geplanten Rahmen stattfinden kann. Nach der sehr gut besuchten Eröffnung gibt es inzwischen erst mal wieder - Polizeikontrollen. Zu viele hatten die "Corona-Regeln" nicht beachtet. Am 18. Juli wurden bereits alle Konzerte kurzfristig wieder abgesagt.
Ob auch die hier vorgesehenen sportlichen Aktivitäten - von "Sommermarathon" bis Freiluftjoga - stattfinden können, ist also ebenfalls noch nicht ganz sicher.

Ein wenig wird das Thema, gegenwärtig in allen Zeitungen vertreten, auch für "Klimaverbesserung" sorgen wollen - Ende August stehen in Riga Kommunalwahlen an. Jedenfalls aber scheint es sowohl in Riga wie in Tartu ähnliche Ideen für den Sommer zu geben: auch in der estnischen Universitätsstadt gilt momentan: jetzt haben wir unsere "Autovabaduse Avenue" ...

14. Juli 2020

Kampf den Latwanen

Latvija - das lettische Wort für Lettland. Nein, "Latvane" ist kein Schimpfwort für Lettinnen oder Letten - aber ein wichtiges Thema alljährlich, besonders wenn in der Natur alles gut und fruchtbar wächst. Der lateinische Name "Heracleum sosnowsky" weist darauf hin: es muss sich wohl um ein pflanzliches Gewächs handeln. Was auf Lettisch "latvāņi" heißt, ist im deutschen Sprachraum als "Bärenklau" bekannt.

Lettische Biologen betonen: die spezielle Art des "Sosnowsky Bärenklau" kommt eigentlich in Lettland nicht natürlich vor. Sie ist eher im Kaukasus heimisch. "Eingewandert" - sagen die einen, "eingeschleppt" - sagen die anderen. Allein dieser einen Pflanzenart wegen wurde 2008 ein spezielles lettisches Gesetz geschaffen: eine Liste "invasiver Arten". Bisher einzige auf dieser Liste vertretene Art: der Sosnowsky-Bärenklau.

Erst seit den 1950iger Jahren wurde diese Art, die sonst eher in Dagestan, Aserbaidschan oder Georgien wächst, in Lettland festgestellt. Anfangs hatte man wohl auch auf eine Anwendung als Nutzpflanze gehofft. Irgendwann in den 1980iger geriet die Verbreitung außer Kontrolle. Das Anpflanzen von Sosnowsky-Bärenklau ist seit 2006 in Lettland verboten.
Die Art verbreitet sich vor allem auf nicht mehr bewirtschafteten landwirtschaftlichen Flächen - eine wahre Krisenpflanze also. Die Pflanze kann eine Wuchshöhe von über 3 Metern erreichen und verfügt über ein ausgeprägtes Wurzelsystem. Noch dazu ist sie vermehrungsfreudig: eine einzige Pflanze kann mehrere Tausend Samen bilden. Sie breitet sich aus, und kann andere Arten verdrängen. Sosnowsky-Bärenklau kann auch Menschen gefährlich werden: alle Pflanzenteile enthalten Furanocumarine, die für Menschen giftig sind und phototoxisch wirken, also nach Bestrahlung mit Sonnenlicht eine allergische Reaktion auf der Haut verursachen.

"In Daugavpils beginnt der Kampf gegen die Latvanen" - eine Schlagzeile der lettischen Presse (lsm). Die Stadtverwaltung Daugavpils rief im vergangenen Jahr die Einwohner*innen zu Hilfe, um Flächen, die mit dieser Bärenklau-Art bewachsen sind, zu melden. Argument: die ökologische Vielfalt sei gefährdet (Latgaleslaiks)."Ein Elend für die Flora Lettlands", so die lettische Naturschutzbehörde. Genauere Daten über die Ausbreitung der Art wurden erhoben 2001 für die Bezirke Valmiera (43 ha), Valka (11 ha), und Limbaži (3 ha). Aber 2007 waren es, geschätzt für ganz Lettland, bereits etwa 18.000 Hektar - eine erstaunliche Zahl. 

Hat die Pflanze sich erst einmal an einem Standort etabliert, kann es bis zu sechs Jahren dauern bis sie abstirbt - unabhängig von den produzierten Samen. Beobachten zufolge, die von der Naturschutzbehörde zitiert werden, vertragen die Samen in schneearmen Winter bis zu -25 Grad Frost, unter Schnee sogar minus 45 Grad. Also wenig Hoffnung für diejenigen, die vielleicht glauben, die Pflanze würde vielleicht schnell wieder verschwinden. Daher müssen auch die Bekämpfungsmaßnahmen umfangreich ausfallen: die lettischen Behörden mähen und roden die befallenen Böden dreimal während des Sommers (ritakafija). Es verwundert wohl nicht, dass sogar die Stadt Riga bereits einen "Latvāņi"-Bekämpfungsplan erarbeitet hat und in neun Stadtteilen und auf insgesamt 13 ha die unerwünschte Pflanze festgestellt hat.

Es gibt aber auch Schwierigkeiten bei den bereits angelaufenen Bekämpfungsmaßnahmen. Nicht alle betroffenen Flächen sind in staatlichem Besitz, und so sind die Behörden auf die Kooperation der Eigentümer angewiesen. "Ich höre immer dieselben Ausreden", meint
Evija Atvara, die für die Stadt Cēsis das Thema bearbeitet. "Die einen sagen: ich habe kein Geld dafür. Und andere meinen, dass sei eine Hinterlassenschaft der Sowjetzeit - und dafür seien sie nicht verantwortlich." (Edruva). Cēsis bietet den Grundeigentümern bereits einen Nachlass auf die Eigentumssteuer an, wenn sie den Sosnowsky-Bärenklau aktiv bekämpfen. (LA) Im Jahr 2017 seien bereits 11 entsprechende Anträge einen positiven Bescheid bekommen, 2018 waren es bereits 19. In Cēsis unternimmt eine spezielle Kommission zweimal pro Jahr gezielte Inaugenscheinnahme: einmal vor dem 15.Juni, um rechtzeitige Bekämpfung anzumahnen, bevor die Pflanzen Samen bilden, und einmal im Laufe des August, um den nachhaltigen Erfolg der Bekämpfungsmaßnahmen zu kontrollieren.

12. Juli 2020

Wanderer, kommst Du nach Lettland ...

Der letzte möge am Flughafen Riga das Licht ausmachen - so klangen die dunklen Scherze der Pessimist*innen, die am Horizont den völligen Ausverkauf des Landes dämmern sahen und sehen. Zwar bemüht sich die lettische Regierung bereits seit einigen Jahren, Rückwanderern ins heimische Lettland Hilfen und Unterstützung bereitzustellen, aber so richtig glaubt noch niemand an eine Umkehrung des Trends - allzu offensichtlich ist zum Beispiel das im Vergleich zu anderen Ländern in Europa niedrige Lohnniveau, das eben kaum zum Überleben reicht.

Etwa 300.000 Lettinnen und Letten, die im Ausland wohnen, hat die Statistik eines wissenschaftlichen Untersuchungsprojekts der Universität Lettlands erfasst (LU Diasporas un migrācijas pētījumu centrs DMPC). Davon leben etwa die Hälfte in einem der Mitgliedsländer der Europäischen Union. 64.000 der im Ausland lebenden Lett*innen haben noch einen registrierten Wohnsitz in Lettland (2018 = 95.500, 2019 = 69.200, DMPC).

Wer dabei im Heimatland als "Rückkehrer" (Remigrant) gilt, ist auch eine Definitionsfrage - wie auch diejenigen Emigrant*innen, die Lettland nach 1990 verlassen haben, jetzt "neue Diaspora" genannt werden. Den Daten der DMPC zufolge sind Anfang 2020 insgesamt 203.960 Lettinnen und Letten als im Ausland lebend offiziell registriert - die tatsächliche Gesamtzahl wird aber auf 370.000 geschätzt (anderen Quellen zufolge haben seit 1991 600.000 Lett*innen ihr Heimatland verlassen).

Altersgruppen von im Ausland lebenden Lett*innen im Vergleich
2019 konnten 12.700 Menschen im Alter über 15 Jahren in Lettland identifiziert werden, die im Zeitraum 2015-2018 mindestens 12 Monate im Ausland verbracht haben. Das lettische Statistikamt CSP rechnet mit durchschnittlich fünf- bis sechstausend Rückkehrer*innen pro Jahr. Insgesamt wurden im Rahmen der Untersuchtung 145.000 Menschen im Alter zwischen 18 und 74 Jahren in Lettland festgestellt, die zwischen 2008 und 2018 auf mindestens 6 Monate Arbeit im Ausland zurückblicken können.

Wie aktiv sind Lettinnen und Letten im Ausland? Wie gut sind sie untereinander vernetzt? Auch dazu bemüht sich die unter Leitung von DMPC-Direktorin Inta Mieriņa durchgeführte Untersuchung Aussagen zu machen. Unter den Internetportalen werden sowohl Facebook wie auch rein lettischsprachige Portale genannt. Die Autor*innen der Studie stellen aber auch fest, dass unter den jugendlichen Lett*innen die Teilnahme an Veranstaltungen und Aktivitäten weniger bliebt ist; fast 40% äußern wenig Interesse daran, "nur unter Lettischsprachigen" zu bleiben. Außerdem wünschen sich junge Lett*innen nicht nur Kultur, sondern mehr praktische Tipps für den Aufenthalt im Ausland.

Was Lett*innen in Deutschland angeht, so fehlt es hier allerdings vielfach noch an aktuellen Daten. Während die Wissenschaftler*innen aus anderen Ländern Daten von Volkszählungen abrufen konnten, fehlt entsprechende Details in deutschen Landen. Was aber offenbar gezählt werden konnte, sind die über 5.000 Kinder von Lettinnen oder Letten, die in Deutschland leben (DMPC). Festgestellt wurde auch, dass zwischen 1994 und 2018 insgesamt 3445 Menschen, aus Lettland kommend, die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen bekamen.

5. Juli 2020

Schrumpfen auf 42

Es habe zwar Fehler gegeben, aber dennoch wolle er sich nicht dem Reformprojekt widersetzen, entschied Staatspräsident Egils Levits am 19. Juni im Rahmen einer Pressekonferenz. Gemäß §69 der lettischen Verfassung müssen Gesetze, sobald sie vom Parlament, der lettischen Saeima, beschlossen sind, nach 10 Tagen, aber nicht später als 20 Tage, vom Präsident bestätigt werden. Levits hätte das Gesetz dem Parlament auch "auf Wiedervorlage" legen können, also zum nochmaligen Überdenken. Er tat es nicht.

So soll die lettische Bezirks- und Gemeindekarte ab 2021 aussehen
Bald werden es also in Lettland nicht mehr 119 Gemeinden sein, sondern nur noch 42 (siehe Karte). Geschehen soll dies bis Juli 2021. Dazu kommen dann noch 10 eigenständige Städte (auch "Staats-Städte" genannt) (lsm): Daugavpils, Jelgava, Jūrmala, Liepāja, Ventspils, Rēzekne, Rīga, Jēkabpils, Ogre und Valmiera - die drei letztgenannten sind auch Regionalzentren.

Die Befürworter der Reform wollen so gleichwertige Lebensbedingungen und gute Zugänglichkeit zu Serviceleistunge, unabhängig vom Wohnort, erreichen. "In jahrelanger Diskussion haben wir über 800 Vorschläge bearbeitet," resumiert Artūrs Toms Plešs, Vorsitzender der Kommission zur Verwaltungsreform, "aber nun werden auch die Krankenhäuser und Schulen wieder normal arbeiten können. Und gerade in der momentanen Krisensituation brauchen wir starke Gemeinden." (lsm) (Liste der zukünftigen Verwaltungsbezirke / "Novadi")

Mehr als 40 Gemeinden hatten Eingaben an den Präsidenten geschrieben und ihn gebeten, die Reform zu stoppen. Heiß diskutiert wurde vor allem um kulturhistorische Zugehörigkeit einzelner Gemeinden. Beibehalten wird aber die Aufteilung in fünf "historische Regionen": Kurzeme, Vidzeme, Zemgalei, Latgale un Sēlija.

Die Regierung Krišjānis Kariņš hatte die Umsetzung der Regionalreform zu einem Schwerpunkte ihrer Arbeit erklärt. Mit der Abstimmung im Parlament und der formalen Zustimmiung des Präsidenten ist die politische Auseinandersetzung aber noch nicht beendet: bis zum Inkrafttreten der Reform müssen noch 65 weitere Gesetze und Regelungen geändert werden, gab das von Juris Pūce geleitete zuständige Regionalministerium bekannt. Und mindestens 10 der betroffenen Gemeinden wollen nun vor dem lettischen Verfassungsgericht klagen, darunter Limbaži, Kandava, Engure, Carnikava, Jaunpils, Salacgrīva und Ikšķile. Während einige Gemeinden fehlende Berücksichtigung ihrer Argumente oder falsch gezogene Bezirksgrenzen beklagen, meinen andere, nach der Reform keine volle Verfügungsgewalt mehr zu bekommen über die auf ihrem Gebiet eingenommenen Steuern. Besonders in kleinen Landgemeinden werden auch Jobverluste in der Verwaltung befürchtet.

Nach dem 1. Juli 2021 werden sich dann auch die neu gewählten Gemeinderäte zusammenfinden - der Wahltermin ist bisher auf den 5. Juni 2021 festgelegt (mit Ausnahme Rigas, wo am 29.August 2020 außerordentliche Wahlen stattfinden). Das Amt für Staatsbürgerschaft und Migration (Pilsonības un migrācijas lietu pārvalde) gab inzwischen bekannt, dass zu Jahresanfang 2020 mit 693.000 Menschen genau ein Drittel aller Einwohner Lettlands auf dem Gebiet der Gemeinde Riga wohnten (lsm).