29. Dezember 2012

Ist das Kultur, oder kann das weg?

Eines der Kulturthemen des abgelaufenen Jahres:
der Chor der Oper drohte mit Streik, singt aber
vorerst weiter
Zum Jahresausklang sind auch in Lettland allerlei Rückblicke und Ausblicke zu lesen. Die folgende Themenübersicht ist - mit Ergänzungen - derjenigen des Portals "Delfi.lv" nachempfunden.

Lettisches Kino: Enttäuschungen, Nörgeleien, Hoffnung und Neuanfang

Aufsehen erregten 2012 verschiedene neue lettische Filme - was zunächst mal ein gutes Zeichen ist, denn bei einem Land mit nur 2 Millionen Einwohnern ist es ja nicht ganz selbstverständlich dass es überhaupt eine eigene Kinoproduktion gibt. Fest etabliert hat sich "Cinevilla" als "Kinoproduktionsstadt"; um es ökonomisch lohnenswert zu machen wird dort allerlei "Sonstiges" angeboten - vom Hotel über ein Wettlauf-Event bis zur Möglichkeit dort zu heiraten. Doch die politische Unterstützung fällt unterschiedlich aus: während bei der Premiere von "Sapnu komanda", dem lettischen Basketballmärchen, auch fast alle politischen Größen Beifall klatschten, gefiel das in "Kolka Cool" gezeigte ländliche lettische Alltagsleben der nationalistischen Rechten gar nicht: "zu viel Schimpfworte und Alkoholgebrauch im Film".
Lettische Freizeitangebote:
einmal selbst "Freiheitskrieg"
spielen im Kinodorf

Bedenklich dabei vor allem, dass Kritik mit finanziellen Drohungen verknüpft wird: ein mit staatlichen Fördergeldern finanziertes Werk soll bitte schön auch ein positives (Vor-)Bild des eigenen Lands zeigen - wenn es nach den Wünschen solcher Möchtegern-Kulturexperten geht.

In zwei Fällen wirkte sich politisches Geschacher und Finanzierungstaktik auch direkt aus. Zum einen war es das Filmfestival  "Arsenāls", dessen Tradition bis zum Jahr 1986 zurückreicht. 2011 konnte das 25-jährige Jubiläum gefeiert werden - im März 2012 gaben die bisherigen Verantwortlichen das Ende des Festivals bekannt: nach 2184 gezeigten Filmen und insgesamt 330.000 Zuschauern (DIENA 12.2.12). Auch die beiden bisherigen Sponsoren, Ex-Ministerpräsident Māris Gailis und Festivaldirektor und Filmemacher August Sukuts, zogen sich zurück. Außerdem sei es nicht gelungen, mit dem Stadtrat Riga und dem lettischen Kulturministerium eine Vereinbarung zum Erhalt des Festivals zu treffen. Ebenso legendär wie das Festival selbst war die Preisverleihungszeremonie: Sukuts servierte allen teilnehmenden Filmemachern Wein - eines der Gefäße enthielt einen Knopf von Sukuts Weste, und wer diesen beim Austrinken fand erhielt auch das Preisgeld. Aber vielleicht sind auch einfach die Zeiten solcher generöser "Kulturpaten" vorbei? Während Sukuts sich lange vor dem Ende des Festivals ein Haus im sonnigen Spanien kaufte und dort leben will, und Gailis es auch schon mal zu einer Weltumseglung drängte, bleibt die Kinoförderung in Lettland mühsames Tagwerk. Im Herbst wurde das Konzept für ein neues lettisches Kinofestival vorgestellt, das künftig "FF RIGA" heißen soll (siehe "Baltic Times") und vor allem die Konkurrenz des inzwischen gut etablierten "Black Nights Festival" im estnischen Tallinn annehmen muss, wo schon in den vergangenen Jahren Filme präsentiert wurden, die eigentlich auch Teilnehmer beim "Arsenāls" hätten sein können.

Oper Riga: Leitung in Frage gestellt

Wenn es schon "alles ist Dunkelheit" heißt - so
soll es auch dunkel bleiben! - so reagierte die
Stadt Riga auf einen polnischen Gastkünstler
Einen Teil der Kritik zog auch das Förderprogramm des staatlichen "Kulturkapitalfond" auf sich ("Valsts kultūrkapitāla fonds" VKKF). Die Kriterien zur Aufnahme in eine Liste von "landesweit wichtigen Kulturprojekten" wurden vor allem von denen in Frage gestellt, die sich unberücksichtigt fanden: außer den beiden Kinofestivals "Arsenāls" und "Baltijas Pērle" auch nicht das Opernmusikfestival in Sigulda und das lettische Ballettfestival. Irritationen erzeugte Kulturministerin Jaunzeme-Grende schon Anfang des Jahres mit ihrer Entscheidung, den Vertrag von Andrejs Žagars, dem Chef des Opernhauses in Riga, nicht zu verlängern sondern die Stelle auszuschreiben. Begründet wurde das mit angeblichen Finanzschwierigkeiten bei der Oper. Mit der Ankündigung eines Audits folgte dann aber doch die Vertragsunterzeichnung mit Žagars, allerdings nur auf ein Jahr. Ob es da 2013 neue Unruhe geben wird? Žagars hatte angekündigt, dass zwar die Oper gegenwärtig alle aufgenommenen Kredite bedienen könne, aber für die Arbeit der kommenden Jahre eine halbe Million Lat mehr erforderlich seien. Dazu kamen im Mai und Juni 2012 Diskussionen um den Opernchor, der aufgrund Arbeitsüberlastung und niedriger Entlohnung kurz vor einem Streik war. Und nun hat auch Chefdirigent Karel Mark Chichon in Riga gekündigt - aus Protest gegen niedrige Musikerlöhne (siehe "Der Standard").

Zeit für Kultur - und für Pöstchen und Finanzen

Im Juni 2012 gründete sich die Initiative “Laiks kultūrai” (Zeit für Kultur) als Verein, mit Theater- Opern und Museumsdirektor/innen als der Mitgliedern. Ausgangspunkt waren zunächst nach Ansicht der Initiative fruchtlose Versuche, mit Kulturministerin Jaunzeme-Grende ins Gespräch zu kommen, und die Verfassung eines Memorandums, das vor allem von einer Arbeitsgruppe unter Leitung der Schriftstellerin Nora Ikstena initiiert worden war. Seit 2008 sind nach Analysen der Initiative im Mittel 13% der Staatsausgaben zurückgefahren und gekürzt worden - aber 42% der Ausgaben für Kultur. Ein Absinken des Kulturhaushalts unter 2,5% des Staatshaushalts sei nicht hinnehmbar.
Im Juni erklärte dann Juris Dambis, Architekt, Leiter der staatlichen Denkmalpflege Lettlands und neuer Vorsitzender von  “Laiks kultūrai”, der Dialog mit der Ministerin verbessere sich langsam. War es am Anfang noch die Forderung nach Rücktritt der Ministerin, entließ diese schließlich ihre  beiden Berater (beides selbst Ex-Kulturminister) Ints Dālderis un Sarmīte Ēlerte. Letztere wurde inzwischen von der Fraktion "Vienotība" als Kandidatin für den Posten der Bürgermeisterin von Riga ausgerufen - also Gegenkandidatin von Bürgermeister Nils Ušakovs. Seitens der Kulturministerin wurden drei neue "Berater" ernannt: Dambis, sowie Solvita Krese (Lettisches Zentrum für Zeitgenössische Kunst) und Haralds Matulis (Latvijas Radošo savienību - Rat der Kreativen Vereinigungen Lettlands). Eines der Ziele der Initiative ist es - neben ausreichenden Finanzen für alle Kulturinstitutionen - dass Kultur als eine der Prioritäten des Staates festgeschrieben werden möge. Die Mitglieder von “Laiks kultūrai” vereinigen insgesamt etwa 5000 im Kulturbereich arbeitende Mitglieder.

Kunst in Riga - nicht überall willkommen

Lettischer Grammy-Kandidat:
Komponist Uģis Prauliņš
Im Oktober/November lud Riga Bildhauer unter dem Thema "Integrācijas anatomija" (Anatomie der Integration) ein. Eine Veranstaltung mit Tradition, die in ähnlicher Form schon seit 1972 durchgeführt wird. Seit 2004 ist das "Mākslas Menedžmenta un Informācijas centrs (MMIC)" verantwortlich, 2012 mit Aigars Bikše, Ivars Drulle und Inese Baranovska als Kuratoren. Aber schon vor der Eröffnung gab es Schwierigkeiten: für drei Arbeiten gab die städtische Bauverwaltung keine Erlaubnis zur Anbringung an den dafür vorgesehenen Gebäuden. Stefanos Tsivopoulos (Niederlande / Griechenland) nannte sein Werk ”Putin's Vorwahlkampf-Bühne” und wollte die Wiederwahl Putins in Russland künstlerisch kommentieren. Hubert Zcerepok aus Polen, der auch viel in Deutschland ausstellt, wollte mit "Alles ist Dunkelheit" einen feurigen Davidsstern mit einem Comet kombinieren und in der Nähe des lettischen Freiheitsdenkmals anbringen lassen. Und auch die plastischen schwarzen Soldaten des Letten Ginters Krumholcs ("Im Namen der Rose") sollten am Freiheitsdenkmal aufgestellt werden - immerhin einem Ort, der 1990 durch Kunstausstellungen mitten in den hitzigsten politischen Diskussionen für interessante künstlerische Aspekte sorgte. Im Jahr 2012 war Ähnliches unerwünscht, und die Ausstellung zog ins Eisenbahnmuseum auf die andere Seite der Daugava um. Sozial engagierte Künsterinnen und Künstler einzuladen, die auch die Lage in Europa und in der Welt im Blick haben - so der Anspruch der Organisatoren. In Rigas "guter Stube" waren allzu viel künsterische Nadelstiche zum Thema "Integration" dieses Jahr offenbar unerwünscht (siehe "Artleaks und LETA)".

2013 - wieder ein Chor-Jubeljahr?

2012 erregte zunächst Dirigent Māris Sirmais Aufsehen mit der öffentlichen Ankündigung, sich nach 22 Jahren Zusammenarbeit vom vielfach preisgekrönten Chor "Kamēr" zu trennen. Komponist Uģis Prauliņš wurde für seine Komposition "Die Nachtigall" gleich für zwei Grammys nominiert. Lange im Unsicheren blieb aber die Finanzierung des Großen Sänger- und Tanzfestes, das regulär im Juli 2013 stattfindet. Ein offener Brief von Amateurchorleitern machte die ziemlich kümmerliche Unterstützung der ehrenamtlichen Chorleiter und -organisatoren deutlich, und auch der konkrete Umfang des Budgets für das Sängerfest blieb lange unklar. Vom 30.Juni bis 7.Juli 2013 werden in Riga 390 Chöre, 540 Volkstanzensembles und 55 Blasorchester erwartet (Programminfo).
Also: auf ein neues, gutes Kulturjahr!

14. Dezember 2012

Die Sache mit dem Geld

Euro ohne Krise - geht das? 
Innenpolitisch hat Lettland so manche aktuelle Fragen zu bewältigen: von der Bildungsreform über die nötigen Reformen im Gesundheitswesen bis hin zur Regionalpolitik. Nichts davon bringt die Regierung von Ministerpräsident Dombrovskis derzeit ernsthaft ins Wanken. Aber eine Frage spaltet doch die verschiedenen politischen Lager gleichermaßen und sorgt für Nervosität: Die Zustimmung zur Euroeinführung wie geplant am 1.Januar 2014 sinkt. Neueren Umfragen zufolge erwarten nur noch 20-25% der Bevölkerung dass es genau so umgesetzt werden wird.

Dombrovskis und seine Minister bemühen sich derzeit, den Übergang zum Euro als ganz normalen Teil der laufenden Wirtschafts- und Finanzpolitik darzustellen. Manches folgt dabei gewohnten Schablonen und Mechanismen: in vielen Fällen schaut Lettland eben doch neidisch auf den nördlichen Nachbarn Estland, und möchte am liebsten das, was die Esten heute tun, morgen im eigenen Lande auch zur Verfügung haben.
Andererseits folgt die Diskussion momentan auch den vielfältigen Medienschlagzeilen zum Thema Europa: gefühlt hat es seit dem Ausbruch der weltweiten Wirtschaftskrise 2008 kein Aufatmen mehr gegeben - Europa rutscht von einem Krisentreffen ins nächste. Von Lettinnen und Letten wurde abverlangt, kurzfiristig erhebliche Lohnkürzungen bis zu 25% hinzunehmen - und dies auch alles ganz "ordnungsgemäß" abzulaufen schien, während die Menschen in anderen Ländern wie Griechenland oder Spanien zu Zehntausenden protestierend auf die Straße gehen. Ob es nun lettischen Stolz hervorruft, dass Lettland inzwischen besonders von konservativen Wirtschaftsvertretern teilweise als "Vorbild für Europa" angesehen wird? Wohl nur unter denen, die finanziell selbst keine Sorgen haben.

Brüssel oder Moskau?
"Es ist eine Wahl zwischen Euro oder Rubel!" - behauptet die konservative Europaparlamentarierin Sandra Kalniete. Sie möchte gerne "mit an dem Tisch sitzen, wo die wichtigen Entscheidungen getroffen werden." Einige lettische Politiker fürchten also um ihren Einfluß in der Europapolitik (und drohen mal wieder mit wachsendem russischen Einfluß als angebliche Alternative). Kalniete weist darauf hin, als lettische Botschafterin in Frankreich die Zeit erlebt zu haben, als die Franzosen sich von ihrem Franc trennen mussten und nennt die Deutschen als Vorbild: "die hatten es am schwersten, denn wie für uns war die DM ein Symbol der wirtschaftlichen Erholung." Und für Aivars Endziņš, Chef des lettischen Verfassungsgerichts, ist die Sache sowieso klar: "Darüber haben wir ja schon abgestimmt, als wir uns für den EU-Beitritt entschieden haben," sagte er lettischen Journalisten. Wer behaupte, bei einer Euro-Einführung eine gute Begründung für eine Klage vor dem Verfassungsgericht zu haben, der gehe fehl.

Die Oppositionspartei "Saskaņas centrs" (SC) nutzt derweil das Euro-Thema auch für die Kommunalwahl: die steht im Frühsommer 2013 an, und SC-Spitzenkandidat ist Bürgermeister Ušakovs - mit guten Chancen auf Wiederwahl. Ob da der Vorschlag, gleichzeitig mit den Kommunalwahlen am 1.Juni ein Referendum zur Euro-Einführung durchführen zu wollen eigentlich ernst gemeint ist, oder nur die Wiederwahl zementieren soll, wird nur die als Russland-freundlich geltende Partei selbst wissen. Das Argument, Dombrovskis solle sich für die Euro-Einführung "das Mandat vom Volk" holen, klingt jedenfalls auch nicht ganz ehrlich: eine Einführung zum 1.1.14 würde wohl kompliziert werden wenn sie bis zum 1.Juni 2013 unsicher bleiben müsste. Und wie genau würde eine Frage beim Referendum lauten? Euro ja oder nein, oder mehrere "Wunschdaten" zur Auswahl stellen? Details dazu sind vorläufig der politischen Taktiererei überlassen. SC-Vertreter jedenfalls benutzen gegenwärtig gern den Begriff vom "Euro als Trojanischem Pferd".

Politisch für den Lats, privat lieber Devisen?
Eines scheint sicher: der Weg zur Euro-Einführung bedeutet momentan gleichzeitig eine weitere Zustimmung zur Regierungspolitik - denn Währungs- bzw. Wechselkursschwankungen gab es ja auch in den vergangenen Jahren nie, allzu fest war der Lat an den Euro gebunden. Gerüchte einer Abwertung des Lat, um heimische Finanzschwierigkeiten zu beheben, blieben nur Gerüchte: dem steht allein schon die Statistik entgegen, dass über 80% aller Kreditaufnahmen in Lettland sowieso in Euro laufen (siehe "IR" 12.12.).
Mehr Argumentationsschwierigkeiten haben da schon die lettischen Nationalisten auf der einen und die oppositionelle Bauernpartei auf der anderen Seite. Ganze fünf Stunden lang diskutierten Vertreter der nationalen Liste ("Visu Latvijai" / "Tēvzemei un Brīvībai/LNNK") in dieser Woche über dieses Thema. Den Lat nur aus nationaler Symbolik beizubehalten, dazu konnte sich aber zumindest die Parteiführung der Nationalisten doch nicht durchringen. Man wisse zwar, dass der Euro kein Wundermittel sei, aber die Angst vor einem auch international erkennbaren Kurswechsel ist auch hier größer als das eigentliche Vertrauen in den Euro.

Umfragen zum Thema Euro gibt es in Lettland gegenwärtig häufig, aber je nach Auftraggeber fallen auch die Ergebnisse aus. "Latvijas Fakti" weist im Auftrag der lettischen Nationalbank 59% Gegner einer Euro-Umstellung auf, während dem "DNB Barometer" zufolge 50% eine Euro-Einführung zumindest in den allernächsten Jahren befürworten. Das "DNB Barometer" fragte auch nach den größten Bedenken der Letten: an der Spitze steht hier die Angst vor steigender Inflation. In einem sind sich die Umfrageinstitute aber einig: gegenwärtig wirken sich auch scheinbare Kleinigkeiten stark auf die Stimmungstendenz aus. Die Agentur SKDS übersetzt die sinkende Zustimmungstendenz in Lettland in Zahlen: 2004 waren bei den SKDS-Umfragen noch 41,1% für den Euro, 2009 waren es noch 36,7%, Ende 2012 nur noch 23,1% die eine Euro-Umstellung bedingungslos befürworten. - Gleichzeitig meinen aber auch 44% (Umfrage Eurobarometer) der Letten, die Einführung des Euro habe das eigene Privatleben eher positiv beeinflußt.

Ein Beitrag der Zeitschrift "IR" schaut auch bei den Politikern genau hin: da in Lettland alle Politiker ihre privaten Rücklagen öffentlich angeben müssen, fällt es Pauls Raudzeps in der "IR" nicht schwer ein gespaltenes Verhältnis der meisten Oppositionspolitiker nachzuweisen. Seiner Untersuchung zufolge gipfelt es beim SC-Abgeordneten Igors Meļņikovs, der in seiner Steuererklärung 2011 nur ein Vermögen von 4.000 Lat, aber Rücklagen in Höhe von 100.000 US-Dollar angegeben habe.
Kārlis Seržants, Abgeordneter der oppositionellen Lister der Bauernpartei und der Grünen, bemühte in der Zeitung "Diena" das dänische Beispiel. Dänemark habe durch seinen Nicht-Beitritt zur Eurozone 40 Milliarden gespart - pro Bürger 9.000 Euro. Einzige Einschränkung: "Ich bin Historiker, kein Wirtschaftsfachmann", so Seržants. Seine Fraktionskollegin
Dana Reizniece-Ozola gab vor auch bereits das Datum des Zusammenbruchs des Euroraums zu wissen: "Am meisten genannt wird der 28.Juli 2014", teilte sie den erstaunten Parlamentskollegen mit. 
Trotz solcher Sprüche - die erste Lesung der Gesetzesvorlage zur Euro-Einführung, die in dieser Woche im lettischen Parlament beraten wurde, bezeichnete die Wirtschaftszeitung "Dienas Bizness" als bloßen "Rhetorik-Wettbewerb". Dennoch: der erste Schritt Richtung Euro ist bereits getan.

Vielleicht demnächst in neuer Fassung im
Handel? ("Letties entdecken die Geldfabrik"?)
Die Fähigkeiten der Ba-Wü-Münzprägung
als Kinderspiel

Estnische Mahnung, deutscher Nutzen
Unterdessen trat - angeblich auf Einladung des lettischen Präsidenten Bērziņš - der estnische Präsident Ilves kürzlich im lettischen Fernsehen mit einer Euro-Rede auf. "Unsere Minister kümmern sich nur noch um den Euro", meint der estnische Gast, "aber den lettischen Kollegen schmerzt der Kopf gleich zweimal: wegen dem Lat und wegen dem Euro." Auch in der Krise sei es besser, bei den wichtigen Beschlußfassungen mit am Tisch sitzen zu können, so Ilves. Und auch er bemüht das deutsche Beispiel: nicht einmal Deutschland wolle ja den Euro aufgeben, denn Berlin fürchte einen Exportrückgang als Folgewirkung. Und: "Ländern wie Griechenland und Italien kann innerhalb der Eurozone geholfen werden. Wer den Euro nicht hat, kann nur noch auf den Internationalen Währungsfond (IWF) hoffen."

Einen Nutzen wird auch Deutschland von der lettischen Währungsumstellung auf jeden Fall haben: zumindest die "Staatliche Münzen Baden-Württemberg", denn dort werden die lettischen Euros geprägt. Kosten: über 5 Millionen Euro. Keine Überraschung, denn an gleicher Stätte wurden auch schon Lats hergestellt.
Auch die "Deutsch-Baltische Handelskammer in Estland, Lettland, Litauen" (AHK Baltische Staaten) befürwortet den Beitritt Lettlands zum Euroraum  - vor allem mit Blick auf die positiven Aussichten für die Geschäftstätigkeit der vielen in Lettland aktiven deutschen Unternehmen, so der Text einer Pressemitteilung. Anläßlich eines Treffens der Handelskammer mit Ministerpräsident Dombromvskis bekräftigte die Kammer noch einmal: "Die Unternehmen würden durch größere Preistransparenz und weniger Transaktionskosten profitieren." Ähnliches lassen lettische Ökonomen bezüglich lettischer Firmen verlauten: die entsprechenden Thesen bauen allerdings ausschließlich auf die Aussicht auf Wirtschaftswachstum und Export. "Geld kommt nicht daher dass es von der Zentralbank herausgegeben wird, sondern dadurch dass unsere Unternehmer es verdienen," so sagte es Mārtiņš Bitāns, Währungsexperte der Lettischen Nationalbank, der Latvijas Avize.
 
Anders sieht es nur in den Leserbriefspalten und Internetforen aus. Dem (deutschen) Volk aufs Maul geschaut, gibt es dort nichts als Misstrauen gegenüber zusätzlichen Euro-Interessenten. Die üblichen Argumente: die Vermutung, Deutschland müsse dann nur noch ein armes Land mehr mitversorgen bis hin zu Behauptung, Euro-Befürworter seien schlicht "Idioten und Verführte". Wo soll eigentlich die Euro-Begeisterung herkommen, wenn sie von den Menschen im Euroraum nicht geteilt wird?

Regierungschef Dombrovskis baut wohl weiterhin auf sorgfältige Erledigung der "Hausaufgaben". Finanzminister Vilks kündigte in dieser Woche an, dass Lettland Kredite in Höhe von 603.000 Euro, die 2008 vom IWF zur Verfügung gestellt wurden, bis Jahresende vorzeitig zurückzahlen wird (IWF 10.12.12).

Die Bank von Lettland gab unterdessen bekannt, dass ab dem 1.Januar 2014 der Umtauschkurs 1,42 Euro  zu 1 Lat betragen wird (0.702804 Lat = 1 Euro).  

Schnee macht Arbeit - und hilft Autobesitzern


Wer diese Woche als Autofahrer in verschneiten
Straßen steckenblieb, konnte einfach umsteigen:
kostenfrei in Straßenbahn und Trolleybus

Eines der Lieblingsthemen von Bürgermeister Ušakovs scheinen Vergünstigungen bei Straßenbahnen und Bussen der Hauptstadt zu sein. Ob es nun sozial Benachteiligte sind,  Kriegsbeschädigte oder Behinderte - freie Fahrt im Trolleybus ist immer noch ein beliebtes Geschenk an die geschätzten Wählerinnen und Wähler. Über kostenloses Fahren am Nationalfeiertag wunderte sich kein Lette mehr, und als diese Woche sehr viel Schnee innerhalb weniger Stunden vom Himmel fiel, verkündete Ušakovs die freie Busnutzung für alle PKW-Besitzer. Wieso das? Es sollte wohl ein Entgegenkommen dafür sein, dass die Straßenwacht nicht alle Straßen gleichzeitig schneefrei schieben konnte: mit dem Vorzeigen einer PKW-Registrierung hatte auch der Straßenbahnschaffner ein Einsehen. "Danke, dass sie an diesem Experiment teilgenommen haben" schrieb Ušakovs auf einer eigens eingerichteten "Schnee-in-Riga"-Webseite. Seinem Eindruck seien an diesem Tag etwas weniger Autos auf den Rigaer Straßen gewesen - ob es aber Folge oder Wirkung der Umsonst-Tickets gewesen seinen habe man nicht feststellen können. 

Übrigens gelten fürs Schneeräumen für private Hausbesitzer in Riga ebenso strenge Regeln wie fürs Hissen der Nationalflagge an Feiertagen oder das Straßefegen: allein am gestrigen 13.Dezember wurden laut Angaben der Polizei 250 Strafprotokolle ausgestellt an Eigentümer, die ihrer Räumpflicht nicht nachgekommen waren.Ähnliches kann Hauseigentümern passieren wenn Dächer nicht geräumt werden.

Vor wenigen Tagen hatte die Straßenverwaltung eine Vereinbarung mit der lettischen Bauernvereinigung geschlossen, dass den Einsatz bäuerlicher Hilfe mittels Traktoren in der Hauptstadt vorsieht.

Info: Übersichtskarte zu Straßenverhältnissen im Winter

29. November 2012

Träumen wir mal ....

Pünktlich zum Nationalfeiertag - ein Jahr später als geplant - kam in Lettland ein neuer Film in die Kinos, der mit einigem Recht auch ein wenig als Motivationsmaßnahme für die eigenen Landsleute bezeichnet werden kann. Da ist auch nebensächlich, ob tatsächlich noch Basketball als Nationalsport Nr. 1 angesehen werden kann: im Jahr 1935 jedenfalls, bei der ersten Ausrichtung einer Europameisterschaft, damals in Genf, holte Lettland den Titel.
Nur die obersten gegenwärtigen Staatenlenker fehlten zur Filmpremiere am 19.11. im Kino Riga ("Splendid Palace"), aber neben mehreren amtierenden Ministern, gegenwärtigen wie ehemaligen Basketballgrößen, gaben sich mit Kārlis Ulmanis, Valdis Zatlers und Vaira Vīķe-Freiberga auch drei Ex-Präsidiale die Ehre.

Produzent Andejs Ēķis kurz vor der Filmpremiere
Im neuen Film von Regisseur Aigars Grauba und Produzent Andrejs Ēķis geht es nicht nur um Sport - obwohl man sich mit der exakten Ausstattung der Schauspieler mit der Originalbekleidung der verschiedenen lettischen Klubs von damals sehr bemüht hat. "Sapņu komanda" heißt ja, ins Englische übersetzt, nichts anderes als "Dream Team" - und wer wollte sich schon mit dem unter diesem Label unumstrittenen US-Amerikanern vergleichen? Schon die südlichen Nachbarn Lettlands, die Litauer, würden bei so einer Anmaßung wohl nur müde lächeln. Nein, ich glaube es hilft hier weiter, die beiden Bestandteile des Titels als getrennt Filmthemen zu betrachten: das eine ist der "Traum", das andere das "Team".

Im Gegensatz zum Monumentalfilm "Rigas Sargi", ebenfalls mit Grauba als Regisseur, und ebenfalls eines der nationalen Mythen bearbeitend, wird in "Sapņu komanda" nicht so hollywoodesk übertrieben: es wird nur auf dem Spielfeld gekämpft, und wenn man will (und schon mal zu Besuch im kurländischen Kinostädchen "Cinevilla" war) lassen sich die Begrenztheiten dieser Produktion auch klar erkennen. So muss der Bahnsteig von Cinevilla gleich für die Darstellung mehrerer Städte in Europa herhalten, zur Illustrierung Schweizer Verhältnisse muss ein einzelnes auf Karton aufgeklebtes historisches Tourismusplakat herhalten, und auch ein Telefonapparat aus dem Museum kommt zum Einsatz. Und auch wenn im Film die Spielberichte aus der Zeitung ausgeschnitten werden, sieht es eher aus wie Schnippeleien an Kopierpapier. - Dafür wird umso mehr Mühe darauf verwandt den lettischen Kinobesucherinnen und -besuchern deutlich zu machen, was ein "Team" ist - und vor allem, was es nicht ist. Im Lettischen steht ja der Begriff "Komanda" an dieser Stelle, der eher an kommandieren denn an sich gegenseitig helfen erinnert. Und nur allzu bekannt ist der Spruch von der Lieblingsspeise der Letten (ein anderer Lette!). Auch in der Gegenwart ist nur allzu bekannt, dass eher gewartet wird bis andere Fehler machen, um dann vielleicht dessen Position einnehmen zu können - Teamarbeit aber, die eigene Leistung zurückzustellen im Dienste des gemeinsamen Erfolgs - vielen Letten scheint es sogar mit lettischer Mentalität nicht vereinbar.

Sicherlich sind die Muster in "Sapņu komanda" sehr einfach geschnitten: ein Spiel, ein Match wird nur verloren, wenn entweder der Gegner Foul spielt oder die eigene Mannschaft unkonzentriert ist. So ist es schon im Spiel der beiden besten lettischen Mannschaften gegeneinander, und so ist es bei den Spielen der Europameisterschaft. Im Vorbereitungsspiel gegen Litauen kommt eine kleine Variante hinzu: am Abend zuvor trinken alle Spieler (bis auf einen) Wein, es bleibt nicht genug Energie für kraftvolles Spiel. Dennoch ist der Film nicht von moralischen Lehrsätzen durchzogen: vor allem Schnitt und Musik überzeugen, bringen Schwung in die Handlung, erweitern das Filmerlebnis über die reinen Sportergebnisse hinaus. Erstaunlich auch, wie es Regisseur Grauba gelungen ist, einige Charakterzüge europäischer Nationen erstens witzig herauszukehren und zweitens komplett mit lettischen Schauspielern zu inszenieren. So wirkt etwa der spanische Basketballtrainer wie eine Mischung aus gemütlichem Weinbergbesitzer und unwiderstehlichem Schwerenöter, und Schweizer Funktionäre scheinen der Inbegriff menschlicher Schlechtigkeit zu sein. Ob den Schweizern auch im Gegenzug die Darstellung eines Schweizer Volksmusikabends durch lettische Komparsen gefallen werden, wird ihnen selbst überlassen werden müssen.

Wer sich nicht zu schade ist für eine Bahnfahrt
3.Klasse, der darf mitspielen im lettischen "Dream team"
"Latvieši var" - Letten können etwas leisten, wenn sie wollen; ähnlich auch oft die Intonation der Ermutigungsreden Vīķe-Freiberga's zu ihren Präsidentenzeiten. Was die Darstellung historischer Verhältnisse bei Basketballspielen angeht, so zeigte sich die lettische Basketballlegende Valdis Valters in einem Beitrag für die Zeitschrift "IR" sehr zufrieden. Ob die Lebensrealitäten im Lettland von damals hier von Interesse sind - sie sind im Film kein Thema. Gezeigt werden luxeriöse Wohnverhältnisse mit prunkvollen Jugendstiltapeten, treusorgende Ehefrauen und spendable Verwandte. Alles was lettische Museen heute so zu bieten haben, könnte man meinen - eine Art "Retro-Film", wie auch der Filmrezensent in der "Diena" meint. Wie es tatsächlich aussah in Lettland, ein knappes Jahr nach dem "Ulmanis-Putsch", das ist hier kein Thema. Keine einzige Straßenszene, und selbstverständlich keine Politik. Statt dessen hetzen die Sportler in historischen Trainingshosen immer wieder durch den Stadtpark am Bastejkalns. Ziemlich gehäuft treten korrupte Sportfunktionäre und Mäzene mit zweifelhaftem Ruf auf; in dem Moment, als es diesen mit vereinten Kräften zu gelingen scheint, die Fahrt der lettischen Mannschaft nach Genf zu verhindern - da ruft der Präsident an, und alle erstarren vor Ehrfurcht. Selbstverständlich, Herr Präsident, natürlich fahren wir nach Genf!

Vielleicht eine Spur zu ausgesucht vorbildlich geht es
auch im Familienleben bei " "Sapņu komanda" zu:
Familienerbstücke an der Wand, schmucke Tapeten,
und Schwiegeropa hilft bei Geldproblemen gern aus

Nun mögen zwar selbst einige lettische Filmrezensenten daran zweifeln, ob das allzu einfache Grundrezept zur "Teambildung" wirklich realistisch ist - erst Keilerei, dann plötzliche Besinnung auf höhere Ziele und Zack: das Team steht! Auch die Motive, warum Sportfunktionäre derart hartnäckig eine lettische Europameisterschafts-teilnahme behindern, bleiben klischeehaft. Selbst die Details der gezeigten Spielszenen gehen über höchst simple Kommunikation zwischen den Beteiligten nach Art des "Los, wir können es schaffen!" nicht hinaus, wie Kritikerin Laura Lasmane zurecht anmerkt.
Vieles bleibt rein symbolischer Natur: da muss erst ein edler Trainer kommen, hart gegen sich selbst, der selbst noch das lettische Endspiel verlor durch hinterhältige Fouls der Gegner, diesen aber verzeiht und sie nach Genf zum Sieg führt. Aber aus dem täglichen Leben wird jede Lettin und jeder Lette das Thema kennen: etwas mehr Zusammenarbeit kann wirklich nicht schaden!
Der Film ist aber sicher nicht dafür gedacht, mit offenem Geschichtsbuch die Einhaltung historischer Details mitzuverfolgen - dazu bestand eher Grund bei "Rigas Sargi". Bisher existiert nur eine lettische Fassung, aber nicht einmal allen Letten werden angesichts der vielfältigen heutigen Alltagsprobleme solche Ereignisse präsent sein, die unter dem Motto "was in Lettland einmal alles möglich war" laufen könnten.  
Die Kinosäle in ganz Lettland waren in der ersten Aufführungswoche jedenfalls überall voll. Kinobesitzer berichten von vielfachen Applausbekundungen nach Filmende.

Die historischen Vorbilder des Films:
Die Meistermannschaft von 1935
Es darf also geträumt werden. "Damals war Genf für Europa das was heute Brüssel ist", hatte Produzent Ēķis schon bei der Vorstellung der Filmidee gesagt. So gesehen, haben auch die lettischen Bauern etwas vom Film, die kürzlich eher erfolglos für höhere Direktzahlungen in der Landwirtschaft vor dem Europaparlament demonstrierten.
Das Tandem Ēķis und Grauba gilt in Lettland als führende Vertreter von Filmleuten, die "Filme fürs Volk” machen wollen und dazu große Themen und Epochen der lettischen Geschichte ins Visier nehmen. Das galt auch schon für "Baiga vasara" ("der schreckliche Sommer") aus dem Jahr 2000, der den letzten Friedenssommer vor Ausbruch des 2.Weltkriegs zum Thema hat.
Aber selbst der Traum des damals erfolgreichen Meistertrainers Baumanis war im realen Leben nur kurz: er wurde direkt nach dem triumphalen Sieg entlassen (über die Gründe ist auch im Film nichts zu sehen). Eindrucksvoll auch die Liste der weiteren Schicksale der Mitglieder der Meistermannschaft, die im Abspann zu sehen ist: nie wieder spielte diese Mannschaft zusammen. Viele kamen im Laufe des Krieges um, auf Seiten verschiedener Kriegsparteien, andere landeten in Sibirien, oder gingen nach dem Krieg ins Exil.

Eine teilweise offene Frage bleibt vorerst die Filmmusik: leider sagen die verschiedenen Infos der Produzenten nichts darüber aus. Vom ersten Eindruck her eher eine Musik der 40er und 50er Jahre als zum Jahr 1935 passend. Eingespielt worden ist sie, einzelnen lettischen Presseberichten folgend, vom Orchester der lettischen Armee unter Leitung von Dainis Vuškāns und Guntis Kumačevs. Komponist einiger Stücke ist Uģis Prauliņš, es werden aber auch sogenannte "Traditionsstücke der lettischen Armee" gespielt, Benny Goodman, und anderes. Wie gesagt - Schnitt und Musik machen für mich eines der wichtigesten Elemente des gesamten Films aus und heben die Handlung auch für unsportliche Zuschauer hervor aus aller lettischer Provinzialität, so dass mindestens ein unterhaltsamer Filmabend jedem Zuschauer möglich sein sollte.
Filmkritiker Raivis Žvagiņš meint sogar ironisch, "Sapņu komanda" hätte auch zum besten lettischen Musical aller Zeiten werden können - wenn die Schauspieler eben auf dem Spielfeld gesungen und getanzt hätten. Über eine Million Lat hat der Film gekostet - auch wer ihn nicht zu seinem persönlichen Lieblingsfilm machen sollte, kann "Sapņu komanda"  als gutes Anschauungsbeispiel nehmen für die Sehnsüchte, Möglichkeiten, politischen Ansprüche und Grenzen des gegenwärtigen Filmschaffens in Lettland.

26. November 2012

Kolka uncool ....

Wenn die Touristen weg sind ....
Auto- wie Radfahrer stöhnten bisher über die Qualität der Überlandstraßen in Lettland: lehmig, staubig, mit dicke Schottersteinen belegt. Ausgerechnet in einem der bisher abgelegensten Winkel des Landes ist es nun damit vorbei: eine der für lettische Verhältnisse luxuriös ausgebaute Asphaltstraße ("eben wie eine Tischplatte" - sie können endlich unbesorgt während der Fahrt Kaffee trinken) führt von der lettischen Hafenstadt Ventspils schnurgerade zum "Kap Kolka" und zu den wenigen Häusern ehemaliger (livischer) Fischerdörfer.

Und da es auch auf dieser neuen Strecke - wie in Lettland leider üblich - weder einen Randstreifen noch begleitende Fahrradwege gibt, wurden Radler und Wanderer auf Waldwege verbannt. Wer das nicht als super Einladung versteht, mit dem Auto einen Tagesausflug zum "Kap Kolka" zu machen ....? Logisch, dass einige bereits von einem stark steigenden Zustrom von Autotouristen träumen.

Schade nur: zwischen den touristischen Freizeit-verlockungen und ihrer Verwirklichung liegt nun nur noch ein Hindernis: die Küstendünen und der Schutzstatus des Küstenstreifens hier als Nationalpark. Bisher führen zu den wenigen verbliebenen Fischerhäusern und lettischen Sommerhütten nur kleine Privatwege. Von existierenden Parkplätzen aus müssten die Gäste bisher noch 200-300m zum Strand laufen - da hatten offenbar einige bereits den Gedanken, mit Parkplätzen direkt am Meer Fakten zu schaffen, die alle als "ganz normal" empfinden werden, wenn es sie erst mal gibt. Als nächstes vielleicht eine Imbissbude - und der Rummel könnte losgehen!

"Wir sind umgezogen" - ein Hinweis an der Eingangstür
der Nationalparkverwaltung Slitere. Am neuen Ort jedoch
nicht einmal das: Keine Info zu Öffnungszeiten und Zustän-
digkeiten. Nationalparkverwaltung schon im Winterschlaf?
... wird am "Kap Kolka" einfach mal "umgestaltet"
Die Einwohner von Sikrags sind beunruhigt: einerseits über die Radikalität der beauftragten Baufirma, die in der vergangenen Woche nur wenige Stunden brauchte um wenige Meter vom Strand entfernt die Dünen ganz einfach zu einem großen Haufen zusammenzuschieben. Die beauftragten Arbeiter zeigten sich weder gesprächs- noch kompromissbereit, und keinerlei Informationsschild klärt auf über Auftraggeber oder Zweck des Vorhabens.
Der Ärger richtet sich aber auch an die zuständigen Behörden, von denen nicht einmal bekannt ist auf welchem Wege sie zu erreichen wären: dort, wo die Nationalparkverwaltung einmal zu erreichen war (am Ortsausgang von Dundaga), informiert ein schlichtes Schild über einen Umzug, und die "Liquidierung" aller bisher gültigen Telefon- und Faxnummern der Behörde. Am dort benannten neuen Ort, in der Nähe des Leuchtturms Slitere, nicht einmal das: geschlossene Türen, Nationalparkverwaltung im Winterschlaf. Sind es diese Umstände, die private Geschäftemacher ermutigen, sich die bisher streng geschützte Küstenzone einfach mal nach eigenem Gutdünken umzugestalten?

Der Nationalpark Slitere und das Kap Kolka - dort wo die Wasser der Ostsee und der Rigaer Bucht zusammenfließen. Mit dem Slogan des "Grünen Bandes" wurden EU-Projektgelder eingeworben, unter dem Signet des "nachhaltigen Tourismus". Aber im Herbst, wenn die Touristen weg sind, spart sich offenbar das lettische Umweltministerium die Inspekteure vor Ort ein und geht auf Tauchstation - zu einer offiziellen Stellungnahme war bisher keine der zuständigen Stellen bereit.
Wer es selbst versuchen möchte:
Slitere Nationalpark / lettisches Umweltministerium / Baltic Green Belt /

19. November 2012

Erneut Posse um lettischen Oligarchen Lembergs

Aivars Lembergs gilt seit mehr als zwanzig Jahren als einer der wichtigsten Oligarchen Lettlands. Der aus dem armen Osten des Landes stammende Bürgermeister der an der kurländischen Küste im Westen gelegenen wichtigen Hafenstadt Ventspils ist dort seit 1988 im Amt, also schon seit der Sowjetzeit! Lembergs ist eine schillernde Persönlichkeit im politischen Leben seines Landes, gleichzeitig Unternehmer, sehr wohlhabend und beliebt in seiner Stadt, weil wie die Leute sagen, er im Gegenteil zu anderen korrupten Politikern eben nicht ALLES in die eigene Tasche stecke, sondern dem kleinen Mann auch etwas abgebe. Das soll hier nur so weit bewertet werden, als er fraglos seit zwei Jahrzehnten immer wieder Zweifel auf sich zieht, bei seinen Geschäften ginge irgend etwas nicht mit rechten Dingen zu, weshalb er sich immer und immer wieder in verschiedensten Fällen vor Gericht hat verantworten müssen – freilich ohne je eine nennenswerte Strafe kassiert zu haben. Im Gegenteil zu Silvio Berlusconi in Italien mußte er dafür nicht einmal in die nationale Politik einsteigen und dessen Tricks anwenden. Vielleicht aber ist genau dies das Geheimnis seines im Vergleich zum Bunga-Bunga Italiener bemerkenswerteren Erfolges der Unantastbarkeit.

So viel zum Hintergrund. Bei der Parlamentswahl im vergangenen Jahr trat die Zatler Reformpartei des nicht wiedergewählten Präsidenten als neue Saubermann-Partei an. Sie zog sogleich die rote Linie, unter keinen Umständen mit der Bauernunion zusammenarbeiten zu wollen, die als politisches Projekt Lembergs gilt. Die Partei nominierte den damals erst 31jährigen Edmunds Sprūdžs als Kandidaten für das Amt des Regierungschef. In die Staatskanzlei schaffte es dieser freilich nicht, doch Sprūdžs wurde Minister für Umwelt und Regionalpolitik.

In dieser Funktion steht es dem jungen Minister zu, Chefs der Lokalverwaltungen des Amtes zu entheben, wenn Rechtsverstöße vorliegen oder das Ministerium der Ansicht ist, der Amtsträger stünde in einem Interessenkonflikt. Der in der Politik noch unerfahrene Jungunternehmer scheint sich Lembergs als Intimfeind auserkoren zu haben und versucht seither gegen ihn mit diesem Mittel vorzugehen. Sprūdžs suspendierte Lembergs vom Amt mit einer entsprechenden Verlautbarung im Amtsblatt Ende Oktober.

Auf seine Suspendierung vom Amt reagierte Lembergs Ende Oktober mit einer Sondersitzung des Stadtrates in Ventspils, der ihm erwartungsgemäß fast einstimmig das Vertrauen aussprach. Lembergs betonte, der Minister habe kein Recht, ihn zu suspendieren, sondern nur des Amtes zu entheben, was zwei völlig verschiedene Dinge seien. Absetzen könne ihn wiederum nur der Stadtrat durch Entzug seines Vertrauens. Das Gesetz besagt in der Tat, daß eine Suspendierung nur möglich ist, wenn ein Bürgermeister seinen Amtspflichten nicht nachkommt.

Der Stadtrat von Ventspils forderte nun seinerseits den Minister auf, er möchte entsprechende Dokumente vorlegen, die seine Vorwürfe gegen Lembergs bestätigen. Sprūdžs hatte sich zwar auf ein konkretes Gesetz berufen, aber seine Vorwürfe kaum konkretisieren können. Das Ministerium verlautbarte nur allgemein, Lembergs habe über Jahre hinweg die nötige Transparenz in seiner Arbeit vermissen lassen und stelle deshalb eine Gefahr für die Demokratie dar.

Das Handeln Sprūdžs’ stößt auch beim großen Koalitionspartner, der Einigkeit, auf Unverständnis. Parlamentspräsidentin Āboltiņa nannte das Vorgehen kindisch und pflichtete im Grunde den Einwänden der Stadträte aus Ventspils bei, der Minister könne sich eigentlich nicht erklären. Daß Sprūdžs, nachdem er den Bürgermeister bereits supendiert hatte auch noch abzusetzen trachtete, führte schließlich in eine komplette Verwirrung darüber, wie ein abgesetzter Amtsträger suspendiert werden könne und oder umgekehrt. Der Minster versuchte sich aus diesem Dilemma herauszureden, indem er von sich sagte, er sei ein Politiker, der politische Entscheidungen treffen müsse. Dazu gehöre die Garantie eines verantwortungsvollen Handelns der Regierung auch auf der kommunalen Ebene auch als Signal an andere Gebietskörperschaften.

Ministerpräsident Valdis Dombrovskis räumte ein, daß Minister Sprūdžs für die kommunalen Behörden zuständig sei, zeigte sich jedoch verwirrt, da Lembergs derzeit in verschieden Gerichtsverfahren involviert ist, in denen ihm ernsthafte Strafen drohen und dort die Richter bereits eine Suspendierung vorgenommen hätten. Wie könne jemand, der bereits suspendiert ist, noch einmal suspendiert werden? Der Minister antwortete etwas hilflos mit einem Vergleich, man müsse einen Dieb eben ins Gefängnis stecken, damit er kein schlechtes Vorbild für andere sei. Lembergs machte sich derweil über Sprūdžs lustig. In seinem Leben habe sich nichts verändert, er war und sei der Bürgermeister von Ventspils und er sei wohl eindeutig mehr Bürgermeister als Sprūdžs Minister. Lembergs kündigte an, vor Gericht gegen den Beschluß des Ministers vorzugehen. Dazu bleibt ihm eine Frist von 30 Tagen.

17. November 2012

Sind wir schon arm, oder wenigstens noch Patrioten?

Der herannahmende Nationalfeiertag, vermischt mit besinnlich-trüber Novemberstimmung, funktioniert auch jedes Jahr aufs neue ein wenig als Stimmungsbarometer. Wie geht es den Lettinnen und Letten? Wo der eine vielleicht den Tatendrang und Optimismus erstmal auf's neue Jahr verschiebt ("wenn die Sonne wieder höher steht"), üben sich andere im Ablästern in den einschlägigen Internetforen.

Treffen der Eiropas Latviešu apvienība" (ELA)
im September in London: wenig Interesse der
Landsleute (Bildquelle: www.ela.lv)
Aufsehen erregte so zum Beispiel Aldis Austers, Vorsitzender der lettischen Vereinigungen in Europa (Eiropas Latviešu apvienība), als er über angebliche Gewohnheiten seiner außerhalb Lettlands wohnenden Landsleute schrieb (siehe delfi.lv). Austers hatte eigentlich nur vom Jahrestreffen der Mitgliedsorganisationen seines Verbandes berichten wollen. Zusammen mit dem lettischen Außenministerium bemühen sich die lettischen Gemeinschaften ("Kopienas") darum, mit den aus Lettland meist arbeitssuchend ausgewanderten Landleuten irgendwie im Gespräch zu bleiben. Doch: "Die meisten der zu Zeiten der Wirtschaftskrise ausgewanderten Letten interessieren sich nur wenig für die lettischen Gemeinschaften", beklagte sich Austers, und hatte zudem noch das Pech, dass vielerorts aus der Formulierung "zu Zeiten der Wirtschaftskrise Ausgewanderten ("emigrējuši ekonomiskās krīzes laikā") die Überschrift von den "Wirtschaftsflüchtlingen" ("ekonomiskie emigranti") gemacht wurde. "Was für Wirtschaftsflüchtlinge?" empört sich die Lesergemeinde bei "Delfi.lv". "Wenn hunderttausende Spezialisten auf diskriminierende Art und Weise plötzlich ihren Arbeitsplatz verlieren, dann sind sie nicht Wirtschaftsflüchtlinge, sondern es sind die Kennzeichen eines pathologischen Systems." Oder: "Wenn in Lettland die Korruption nicht so weit verbreitet wäre sähe die Lage anders aus."

Ironie von Werbestrategien in Riga,
Fundsache aus dem Jahr 2012
Solche Äußerungen zeigen aber, wie schwer es fällt die Verhältnisse im eigenen Land zu denen in anderen Ländern in Beziehung zu setzen. Und man wehrt sich dagegen, dass angeblich die Schlauen schon irgendwie in Lettland überleben, die Dummen und geistig Zurückgebliebenen aber ausreisen würden. - In dieses Bild der unsicheren Selbsteinschätzung paßt eine Äußerung von Präsident Andris Bērziņš, der kürzlich gegenüber lettischen Medien Zweifel an Armutsstatistiken in Lettland geäußert hatte, die über 20% aller Einwohner Lettlands als armutsgefährdet eingestuft hatten. Demgegenüber behauptete der Präsident, es seien noch zu wenig Daten vorhanden um eine solche Einschätzung wirklich abgeben zu können, und erntete damit teilweise heftigen Widerspruch. 425.000 Einwohner Lettlands, so Daten des Sozialministeriums, müssten mit 150 Lat (ca.275 Euro) im Monat auskommen und seien so armutsgefährdet. Bērziņš dagegen meinte auf den unklaren Umfang von Schwarzmarktaktivitäten und "Lohnzahlungen in Briefumschlägen" (in Lettland schon ein "geflügeltes Wort") anspielen zu müssen - und packte damit wohl viele seiner Landleute bei der Ehre, denn wer will sich schon unterstellen lassen nur scheinbar arm zu sein, heimlich aber "Schwarzgeld" zur Verfügung zu haben? Auch die betroffenen Wissenschaftler der lettischen Universität wehrten sich gegen die Unterstellung, die erhobenen Statistiken seien nicht in objektiver Weise erfasst worden: "das ist eine leichtfertige Art, sich vor der Verantwortung zur Problemlösung zu drücken", schrieben die Wissenschaftler in einem offenen Brief an den Präsidenten.
Nach Meinung vieler politischer Beobachter nicht ganz weise hatte sich Präsident Bērziņš schon am 1.September, am Tag des Schulanfangs verhalten, als er scheinbar schlecht gelaunt unwirsch Fotografen androhte handgreiflich zu werden, nur weil ihn diese dabei ablichten wollten wie er seinen Sohn beim ersten Schulgang begleitete.

Derweil machen sich Lettische Gemeinschaften im Ausland wie auch Außenministerium Gedanken, wo Landsleuten geholfen werden kann. Eine der Maßnahmen ist die Schaffung eines Nothilfefonds, der für im Ausland in plötzliche Notlage gekommene Lettinnen und Letten gedacht ist. In den ersten vier Monaten seiner Existenz seien aus diesem Fond bereits für 26 Personen Heimreisetickets nach Lettland gekauft worden, so ein Vertreter des Außenministeriums. Allerdings drängt das Ministerium auf Rückzahlung der Auslagen innerhalb von drei Monaten.
Aldis Austers dagegen bemüht sich eigenen Aussagen zufolge eher, die Landsleute "dort anzusprechen wo sie zu finden sind": im Internet. "Sie nehmen zwar wenig an Aktivitäten der Lettischen Gemeinschaften teil, aber sie nutzen Internetportale wie 'draugiem.lv' oder 'Facebook'," meint Austers. "Daher wollen wir stärker mit diesen Medien auch zusammenarbeiten." Auf Deutsche mag die für Letten im Ausland verwendete Bezeichnung als "Diaspora" ja ein wenig befremdlich klingen, aber manche Vertreter vermeintlicher lettischer Interessen scheinen wahrhaft religiösen Eifer an den Tag zu legen, um "Verstreute" (so die wörtliche Übersetzung im Griechischen) wieder für die Heimat zu sammeln. Wie aber im Ausland für Lettland werben, wenn auch die im Land lebenden verschiedenen (Volks-)Gruppen ein jeweils so unterschiedliches Selbstverständnis haben? Manchem lettisch national Gesinnten scheinen die ausgewanderten Arbeitsemigranten auch vor allem deshalb im eigenen Lande zu fehlen, weil sie die "Frontstellung" gegen eine befürchtete Übermacht des russischen Einflußes aufweichen.
"Lebe, sei glücklich, aber bleibe Lette und sei stolz auf Dein Lettischsein" - so lautet die Parole, die Auders gerne allen Landsleuten ans Herz legen möchte. Rolands Lappuķe, Beauftragter im Außenministerium für die Fragen der Auslandsletten, kündigt die Einstellung neuer Mitarbeiter in der eigenen Behörde an und definiert deren Aufgaben so: "die Hauptaufgabe wird das sein, was ich den 'globalen Letten' nenne, also ein Lette nicht nur in Lettland sondern überall auf der Welt. Jeder, der mit seiner eigenen Hände Werk am Aufbau Lettlands teilhaben möchte, soll dieses tun können."

Ob die Doppeldeutigkeit der lettischen Facebook-
Kampagne beabsichtigt ist? "Wenn Du Lettland liebst, liebt
Dich Lettland" - oder: nur wenn Du Lettland liebst, ...
Um lettische Aktivitäten im Ausland initiieren zu können bedarf es vor allem finanzieller Unterstützung. Den zahlreichen Internetforen ist aber gleichzeitig vielfacher Neid zu entnehmen: die einen bekommen Geld für eine Veranstaltungen, und schon werfen viele der Landsleute genau diesen Aktiven vor, solche Betrebungen nur eben des Geldes und eines persönlichen Vorteils wegen zu unternehmen. In diesem Licht sind wohl auch Argumentationen wie die Folgende zu sehen: "In Lettland hatte ich Zeit Leute zu treffen und Kaffee trinken zu gehen. Hier muss ich arbeiten." - Aber es gibt auch solche Reaktionen: "Alle meine heutigen Freunde sind Leute von hier, verschiedene Nationalitäten. 'Lettische Gemeinschaften' künstlich wieder formen zu wollen, davon halte ich nichts. Vielleicht brauchen das ja diejenigen, die irgendwo einer schlecht bezahlten Arbeit nachgehen wie Pilze suchen - und gleichzeitig dann mit den Einheimischen nicht kommunizieren können. Ich nicht!" - Wieder andere meinen, ihr "Lettisch-sein" beziehe sich nur auf ihre Herkunft, aber mit diesem "Betrügerstaat" von heute wollten sie nichts mehr zu tun haben (nachzulesen auf delfi.lv).

Die "lettischen Vereinigungen in Europa", denen Aldis Austers vorsteht, wehren sich derweil ihrerseits gegen Finanzmittelkürzungen für Veranstaltungen von Letten im Ausland, und benennen konkrete Zahlen zu den Notwendigkeiten für 2013 aus ihrer Sicht: 60.000 Lat für lettische Sommerlager, 45.000 Lat für lettische Nichtregierungsorganisationen im Ausland, 20.000 Lat für Kulturveranstaltungen der Lettischen Gemeinden, 50.000 Lat für Kinder- und Jugendwettbewerbe, 27.000 Lat für die Teilnahme von Auslandsletten an Sängerfesten, 60.000 Lat für Lettisch-Kurse im Ausland.

Derweil werden einige der obligatorischen Umfragen zum Nationalfeiertag heute publiziert: 74.6% der Einwohner Lettlands fühlen sich als Patrioten ihres Landes, so ist heute in lettischen Medien (siehe "LA") nachzulesen, 13,% lehnen eine solche Haltung für sich ab. Auf die Nachfrage, was denn nach Meinung der Befragten diesen Patriotismus kennzeichne, antworteten 23.8% mit dem Hinweis auf Traditionen und die Wertschätzung des Lettischen, 21,6% nannten Liebe zum Heimatland, 10,2% Arbeitsmoral und Strebsamkeit und 10% das Gefühl der Verbundenheit zum Ort wo man geboren sei. Da für die Umfrage auch soziale Medien im Internet herangezogen wurden, ist aus den Ergebnissen aber nicht definitiv zu schließen dass alle Befragten auch in Lettland momentan ihren Hauptwohnort haben. Derweil interpretierte die Ladenkette "Rimi" die Frage nach dem Lettisch-Sein rein materiell, und kürte die "lettischsten Produkte" (nach Kundenmeinung): Graue Erbsen mit Speck, dunkles Roggenbrot und Kümmelkäse.

Meine Posts als Buch

Die Posts in diesem Blog von Axel Reetz kommen als Buch: Im Frühjahr wurde ich von dem book on demand Herausgeber bloggingbooks gefragt, ob ich nicht meinen Blog "axelreetz.blogspot.com" als Buch herausgeben möchte. Warum nicht? Ich habe mich dabei zunächst entschieden, nur die Texte über Lettland zu verwenden, die parallel auch in diesem Blog veröffentlicht wurden. Ich habe diese auf Relevanz für die Gegenwart überprüft und redigiert sowie aus der für den Blog charakteristischen chronologischen Sortierung in eine thematische erstellt.
Das Buch heißt nun: "Lettland. Wirtschaft, Politik, Land und Leute - eine aktuelle, kritische Betrachtung".
Der Klappentext lautet: "Dr. Axel Reetz liefert in seinem vorliegenden Buch eine spannende Analyse der jüngsten Geschichte und gesellschaftlichen Entwicklung Lettlands. Mal journalistisch, mal wissenschaftlich, mal erzählerisch nähert sich der Autor einem facettenreichen, jedoch für viele unbekannten Land. Kapitel wie "Absurdistan", "Totalbankrott" und "Regenschirmrevolution" zeichnen dabei die politische und wirtschaftliche Dramatik der Jahre 2007 bis heute nach. Die für diesen Band aufbereiteten Blogbeiträge des Autors bieten Lesern, die Lettland kennenlernen möchten, einen Einstieg, der sich deutlich von den üblichen Reiseberichten unterscheidet. Lettland - ein Land, das fasziniert."
ISBN 978-3-8417-7076-9, Preis 39 Euro
http://www.amazon.de/Lettland-Wirtschaft-aktuelle-kritische-Betrachtung/dp/3841770762/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1353596593&sr=8-1

13. November 2012

Trotz Krise immer beliebter: Immobilien als Spekulationsobjekte

Und wo hast Du Deine Häuser
hier in Riga? - das könnte
Gesprächsthema auch dieser
beider Herren sein.

(Straßenszene in Rigas Altstadt)
Seit dem 1.Juli 2010 ist ein Gesetz in Kraft, dass Ausländern Aufenthaltsgenehmigungen bis zu fünf Jahren zusichert, wenn zwischen 25.000 und 100.000 Lat mindestens (je nach Art der Einlage) in Lettland investiert werden. Bei Immobilienbeteiligungen in kleineren lettischen Städten reichen manchmal auch schon 10.000 Lat um in Reichweite dieser Vergünstigungen zu kommen. Der weitaus größte Anteil dieser Gelder, so analysiert Journalist Zigfrīds Dzedulis in der "Latvijas Avīze", fließt aber in die Spekulation mit Immobilien. Seinen Recherchen zufolge sind bisher Gelder mit einer Gesamtsumme von 276.259.488 Lat (rund 400 Millionen Euro) in Verbindung mit gewährten Aufenthaltsgenehmigungen ins Land geflossen. 219.562.230 Lat davon seien in Immobilien investiert worden. Banken, über die bevorzugt Investitionen abgewickelt würden seien die "Rietumu banka", die "ABLV banka", "Norvik", "Baltic International Bank", die "Trasta banka" und die Versicherungsgesellschaft "Baltikums".
Wie der Journalist aber von den zuständigen Behörden erfahren haben will, sind es keinerlei besondere Geschäftsaktivitäten die mit dem in Lettland angelegten Geld unternommen werden: es handelt sich schlicht um Ankauf und Verkauf von Immobilien, manchmal auch um Vermietungen des erworbenen Besitzes. Und aus den Daten des lettischen Unternehmensregisters schließt Dzedulis weiter dass in diesem Zusammengang auch keinerlei neue Arbeitsplätze in Lettland geschaffen werden: Angestellte gibt es in diesen Geschäftszusammenhängen nur wenige.

Im Unterschied zu anderen Schengen-Staaten verlangt Lettland von Investoren die im Gegenzug eine Aufenthaltserlaubnis bekommen nicht, auch ständig im Lande zu leben. Herkunftsländer seien zumeist entweder Russland oder andere osteuropäische Staaten: die Eigentümer kommen für kurze Zeit um nach dem Rechten zu schauen oder für einen Kurzurlaub, dann verschwinden sie wieder. Die "Latvijas Avize" zitiert den Ökonomen Dainis Zelmenis mit den Worten: "Die großen Hoffnungen in das neue Gesetz haben sich nicht erfüllt. Ich kenne keinen Fall, in dem Ausländer um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen ein Unternehmen gründen wo real etwas geschaffen wird." Weder sei sicher, ob über die erwähnten Banken investierten Gelder überhaupt in Lettland bleiben, noch habe der lettische Staat - außer einer Gebühr von 2% der Kaufsummen von Immobilien - irgend einen Nutzen davon.

28. Oktober 2012

Sprottiges aus Lettland: Russifizierter Fisch

Woran liegt es eigentlich, dass lettische Produkte - oder sagen wir mal "Produkte aus Lettland" in Deutschland so schlecht vermarktet sind, gerade im Lebensmittelbereich? Gut, vielleicht kann man nicht verlangen dass es "lettische Abteilungen" in den Supermärkten geben sollte, nicht mal "baltische". Selbst die Ostsee als ganze Region ist ja kein fester Begriff im Warenmarketing. Was den Fischfang angeht, muss auch das EU-Land Lettland inzwischen mit Fangquoten und Marktkonkurrenz leben. Vor zwei Jahren wehrte sich die Arbeitsgemeinschaft der lettischer fischverarbeitenden Betriebe erfolgreich gegen eine Einschränkung der traditionellen lettischen Sprottenräucherung durch EU-Vorschriften (siehe Blogbeitrag vom Oktober 2010).
"Sprottenfantasie" in deutschen Supermärkten:
Alles was Deutsche vermeintlich kennen - außer Lettland.
Eine Fundsache dieses Monats: dreimal Sprotten aus Riga, jedenfalls laut Adressangaben auf der Dose. Drei Dosen mit fast identischer Inhaltsangabe, obwohl so unterschiedlich illustriert, inklusive der Illusion sie hätten vielleicht andere Inhalte oder Rezeptur. Auch die Wareninformation der vertreibenden Firma "Dovgan" (Eigenwerbung: "europaweit größter Großhändler für russische Lebensmittel", mit 40 Mitarbeitern in Hamburg und 20 in Rostock) enthält die Vorstellung, "Memel Sprotten" könnten aus Litauen, "Riga Sprotten" aus Riga und "Baltische Sprotten" von irgendwo her aus der Ostsee kommen.
Markenschutz unvoll-
kommen?


Laut Etikettenangaben ist der Inhalt nahezu identisch: angefangen vom exakt bezeichneten Fanggebiet über die Art des Öls  bis zu den hinzugefügten Gewürzen. Herkunftsadresse: Riga. Die Unterschiede sind minimal: eine der drei Dosen enthält prozentuell marginal mehr Fisch als die zweite, die dritte weist "Nelken" als Beigabe auf.

Der Rest ist wohl Illusion und fehlender Markenschutz - denn "Rigaer Sprotten" werden ja in Lettland ganz anders präsentiert: dort sind fast überall "“Rīgas šprotes eļļā”" (Rigaer Sprotten in Öl") zu finden. Die „Biedrība Rīgas Šprotes“, gebildet aus sieben verschiedenen lettischen Verarbeitungsfirmen, tat sich 1996 zusammen um den kleiner werdenden Markt und der größeren Konkurrenz begegnen zu können. Ob das funktioniert scheint fraglich: die sieben Firmen aus Engure, Mērsrags, Salacgrīva, und jeweils zwei Firmen aus Roja und Rīga berichten von ihren Exporterfolgen jeweils getrennt. "Unda" wirbt mit einer Tradition seit 1931 und dem Umstand, das von 370 Mitarbeitern 60% aus Engure stammen. Mit "Freude und besonderem Stolz" verarbeite man auch Rigaer Sprotten, ein Produkt, dass "wegen seinem einzigartigen Geschmack populär in der ganzen Welt" sei. Ähnlich "Rānda", erst 1994 gegründet, die damit werben vorwiegend in der Region gefischte Produkte zu vertreiben. "IMS" seinerseits betont eine breite Produktpalette, inklusive immerhin ein Sprottenprodukt: "Šprotu pastēte". Auch “Līcis – 93” stellt sich mit seinen zwei Fabrikationsstandorten in Kolka und Ģipka als regionale Traditionen bewahrendes Unternehmen vor, außerdem Eigentümerin einer Fischereiflotte. 
"Gamma-A" allerdings, stationiert im Freihafen Riga, arbeitet auch mit Importfisch aus dem Atlantik und beschäftigt 760 Mitarbeiter. Ähnlich groß ist "Brīvais vilnis", eine Gründung der frühen Sowjetzeit und 1992 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die sich mit seinen 800 Mitarbeitern stolz als "Flaggschiff" der lettischen Fischindustrie bezeichnet und nach eigener Aussage das Markenrecht für "Rigaer Sprotten in Öl" besitzt. Und schließlich "Karavela", die einen Schwerpunkt ganz außerhalb der Sprottenverarbeitung offenbaren -  bei Sardinen, Lachs und Hering. Sieben sehr unterschiedliche Firmenschwestern offenbar - viele unterschiedliche Exportzielländer werden in den verschiedenen Selbstdarstellungen erwähnt - keiner von ihnen behauptet besonders erfolgreich in Deutschland zu sein.

Eine leider etwas irreführende Grafik aus
einem Strategiepapier der lettischen Fisch-
verarbeiter: real gibt es viele Umwege auf dem
Weg zum Weltmarkt
Der Erfolg kommt vielmehr aus dem Osten: "Rigaer Sprotten" wurden auf Messen und Ausstellungen in Moskau mehrfach prämiert. Der Umsatz der 7 Unternehmen mit zusammen 2423 Mitarbeitern belief sich, lettischen Medien zufolge, im Jahr 2011 auf insgesamt 59 Mill. Lat (ca. 85 Mill. Euro). Die Anzahl der trotz scharfer Marktkonkurrenz noch existierenden Firmen der Fischverarbeitung, auch die Zahl der Angestellten zeigt: es lohnt sich das noch besser auszubauen. Aber warum denken die Vermarkter dass es im deutschsprachigen Raum nur unter dem Stichwort "russische Küche / russische Spezialitäten" gehen kann? Als Lettland-Freund fühle ich mich da klar ein wenig betrogen, auch wenn die Motive dafür teilweise verständlich sein mögen. Und Fisch ist da kein Einzelfall.

Der Verband der fischverarbeitenden Industrie (die sich von der erwähnten „Biedrība Rīgas Šprotes“ dadurch unterscheidet, dass hier auch Unternehmen aus Ventspils integriert sind) erarbeitete im Jahr 2008 eine Strategie zur Entwicklung des Industriezweigs bis 2013. Dort war noch davon die Rede, dass Fischprodukte aus Lettland auch "Lettlands Image in der Welt" mit prägen würden. 60% aller in Lettland hergestellten Fischprodukte seien Konserven, 75% davon werden von denen im lettischen Verband der fischverarbeitenden Industrie (Latvijas Zivrūpnieku savienībai) zusammengeschlossenen Betrieben hergestellt, und 70% dieser Konserven seien Sprottenprodukte. 2008 gingen nur 19% der Fischkonserven in EU-Länder, dagegen 74% nach Russland oder andere Länder Osteuropas. Immerhin machen allein Sprotten 28% aller aus Lettland exportierten Lebensmittelprodukte aus (Stand 2008).Auf jeden Fall trägt die Fischverarbeitung zur Sicherung der Entwicklungsperspektiven der lettischen Küstenregionen bei: 70% der Arbeitskräfte in der Fischverarbeitung arbeiten und leben dort.
Denjenigen aber, die entgegen der vorgespiegelten "russischen Küche" die traditionell hergestellten lettischen Sprotten lieber gleich in Lettland kaufen wollen muss gesagt werden, dass weniger als 2% der in Lettland produzierten Fischkonserven im eigenen Land verkauft werden (bei Sprotten etwa 5%) - Idealismus auf dieser Seite wird voraussichtlich wirtschaftlich leider nicht viel bringen.
"Sprotten sind für Lettland ähnlich wie Wein für Frankreich" - so ist es in einem kulinarischen lettischsprachiger Blog zu lesen - ein Zitat angeblich nach Didzis Šmits, dem Präsidenten der lettischen fischverarbeitenden Unternehmen. Ob das lettische Motto "Ražots Latvijā", nach dem sich viele lettische Verbraucher gerne richten, auch im Ausland eine Marke wird, ist weiter offen. Ob "Rigaer Sprotten" konsequenterweise auch "lettische Küche", oder wenigstens zur "Küche Lettlands" gezählt werden können, offenbar auch.

Firmeninfos: DOVGAN / RĪGAS ŠPROTES  / Verband der fischverarbeitenden Industrie   Liste der in Lettland produzierenden Firmen (Ražots Latvijā)

26. Oktober 2012

Deutliches Zeichen: der Winter ist nah!

Winterreifen-, Mützen- und Handschuhalarm in Riga!
(ein Foto der Webcam an der Nationalbibliothek)
Achtung, Schneetreiben! Heute ist der Tag den sich die Klima-interessierten im Kalender aufschreiben können - Lettlands erste Schneeschicht des Winters 2012 / 2013. 

24. Oktober 2012

Andris Antiņš hofft auf Euro-Rabatt

Wenn der lettische Präsident Andris Bērziņš in dieser Woche (am 25.3.) zu einem kurzen Staatsbesuch in Berlin erwartet wird, so könnte die Kürze seiner Gespräche mit Bundespräsident Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundestagspräsident Norbert Lammert vielleicht dazu verleiten, nach dem Sinn der kurzen Stippvisite zu fragen. "Man kennt sich schließlich" unter den EU-Mitgliedern, zumindest Merkel und Schäuble sind dieser Tage manchmal mehr in Europa unterwegs als im Bundestag präsent.
Andris Bērziņš kommt, wie zu erwarten ist, mit einem kaum weniger konkreteren Anliegen auf den gläsernen Berg nach Berlin als Antiņš im Schauspiel des Nationaldichters Rainis. Wie es aussieht, hätten die lettischen Staatsspitzen wohl gern etwas taktische Rückendeckung von den Deutschen bei einem offensiven Umgang mit dem Thema eines lettischen Euro-Beitritts.

Nun, meine Herren, wie bringe ich es Angela am besten bei?
Staatschef Bērziņšmit Außenminister Rinkēvičs und
Beratern beim Vorbereitungstreff zum Deutschland-Besuch
"Ich bin nicht wie meine Brüder, ich komme aus gutem Herzen"  - dass könnte Antiņš sagen; was Bērziņš sagen wird wissen wir noch nicht. Aber eine Variante wäre kaum vorstellbar: Lettland will den Euro-Beitritt und keiner nimmt Notiz davon. Lettische Oppositionsparteien haben die Möglichkeit einer Volksabstimmung über den Euro-Beitritt wieder ins Gespräch gebracht - damit wäre europaweites Aufsehen auch garantiert - aber die Regierung Dombrovskis unternimmt gegenwärtig alles, um die politische Ernte besser einfahren zu können als der litauische Nachbar: dort wurde das Spar-Regiment unter Regierungschef Kubilius gerade deutlich abgewählt. Wahrscheinlich ist es dem nachwirkenden Effekt der Parlamentswahlen von 2011 zu verdanken, dass Lettland auch heute nicht laut zur Abwahl der Regierung ruft: 2010 hatte der damalige Präsident Zatlers gleich das ganze Parlament entlassen und neu wählen lassen. Nun hat man doch mit vielfach schmerzlichen Einschnitten gespart und gekürzt - und nun sind laut neuesten Umfragen nur noch 13% der Einwohner Lettlands Befürworter einer Euro-Einführung zum Jahr 2014. Noch auffälliger: 53% der lettischen Unternehmer sind gegen eine Euro-Einführung, 37% sind dafür - WENN ES NICHT schon 2014 geschieht (siehe DELFI). Da steht auch für die politisch Verantwortlichen, eher konservativ gesinnten "Merkelisten" in Lettland einiges auf dem Spiel. Eine weitere Umfrage zeigte außerdem, was die Lettinnen und Letten vor allem erwarten für den Fall einer Euro-Einführung: Preissteigerungen. Lohnsteigerungen dagegen erwarten nur 8% - kein Wunder, wer erleben musste dass die eigene Regierung für den Fall einer Krise das Lohnniveau kurzfristig kurzerhand um 20-25% kappt, der ist gewarnt. Wer nicht mehr auskommt mit dem lettischen Lohnniveau - der wandert aus.

So sieht es Ēriks Ošs, Karikaturist der "Latvijas Avīze":
Hast du nicht am 20.September 2003 schon PRO EURO
abgestimmt? Ja oder nein?
Also: ob nun Merkel wieder das grüne Kostüm vom Griechenland-Besuch aus dem Schrank holt, oder vielleicht Lettisch-Rot auflegt - Bērziņš braucht dringend positive Schlagzeilen. Erst kürzlich waren sowohl Außenminister Westerwelle wie auch Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, zu Arbeitsbesuchen in Lettland. Aber im eigenen Lande entwickeln Aussagen wie "Seht, Deutschland lobt und unterstützt uns" nur begrenzte Strahlkraft (zumal: wer kennt in Lettland Westerwelle oder Polenz?). Und wer die Aussagen der zuständigen lettischen Minister in der lettischen Presse genau liest, der muss feststellen dass dort immerhin ein Punkt angedeutet wird wo Lettland noch verhandeln möchte: wer so vorbildlich spart, dem sollte doch Aufschub möglich sein bei der Beteiligung am Euro-Rettungsschirm. Denn warum sollen Letten dafür bluten, damit in Griechenland ein viel höheres Lohnniveau möglich bleibt? Staatschef Bērziņš wird also vermutlich in Berlin um "Rabatt für Musterschüler" bitten (siehe auch Vorab-Presseerklärung).

Aber Staatschef Dombrovskis weiß offenbar, wo in Deutschland die ganz großen Schlagzeilen produziert werden, und flankierte die anstehende Berlin-Visite des Staatspräsidenten mit einem Interview in der BILD: "Darum wollen wir unbedingt den Euro haben!"
Es ist anzunehmen, dass in Lettland wohl die Leserkommentare der BILD-Online-Ausgabe eher verschwiegen werden: "Na klar, die wollen an unsere Geldtöpfe" und "Dieser fast-pleite Staat fehlt noch auf der EURO Empfängerliste" ist dort zu lesen, oder auch: "Ob wir unser Geld nach Griechenland, Spanien oder nach Lettland schicken, ist doch völlig egal - bei allen Fällen ist es einfach weg."


Volksseele trifft Volksseele (Antiņš trifft seine Brüder?). Wo die einen den Deutschen nicht zutrauen, wirklich lettische Interessen zu unterstützen, halten die anderen die Letten wohl für sowas wie unverdiente Schmarotzer. Für diese platte Erkenntnis hätte es keiner BILD-Schaumschlägerei bedurft. Auch Spiegel Online zieht nach und präsentiert Wirtschaftsminister Pavluts. Soviel lettische Minister waren noch nie (gleichzeitig!) für Deutschland-Werbung im Einsatz!
Aber keine Angst: die staatstragenden Interviews für die großen konservativen Zeitungen wird dann Andris Bērziņš geben, in ähnlichem Grundton vermutlich (wie Dombrovskis auch schon in der WELT). Abends vor dem Rückflug dann schnell noch ein Stündchen "tikšanās ar tautiešiem" (Treffen mit Volksgenossen) in der lettischen Botschaft, wohl um den dort versammelten handverlesenen Arbeitsemigranten erneut zu verdeutlichen dass ihre wahre Heimat Lettland sei. 
Wer den lettischen Funktionsträgern nicht glaubt, wird sich das Zitat von Rainis zu Herzen nehmen (oder übersetzen lassen) müssen: "Ņems, kas atdos, veiks, kas zaudēs, pastāvēs, kas pārvērtīsies."