22. März 2012

Plan 14 für die Wirtschaft, Plan 65 fürs Volk

Die Europäer werden immer älter - zumindest durchschnittlich, und auf das ganze Lebensalter gerechnet. Schon länger galten in Lettland Rentnerinnen und Rentner nicht gerade als Gewinner der politischen Wende - nur wenige können sich über den Bezug einer Rente freuen, die auch zum Leben reicht. Zudem gab es einige Zeit lang Streit um die Grenzen der Zuverdienstmöglichkeiten. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt in Lettland bei den Männern gegenwärtig bei 68,8 Jahren, bei den Frauen 78,4 Jahre. Aber auch die jetzigen Rentenregelungen Lettlands scheint die zuständige Ministerin Ilze Viņķele (Vienotība) bald wieder verändern zu wollen: 5,6 Milliarden Lat (ca. 8 Milliarden Euro) musste die Regierung insgesamt an Krediten aufnehmen, um die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren - 2500 Lat für jeden Einwohner, rechnete jetzt das Portal Delfi und die Zeitung "Latvijas Avize" vor. Das Sozialbudget Lettlands rechnet aber dennoch weiter mit Defiziten - die Regierung plant daher eine Erhöhung des Renteneinstiegsalters.

Wie die lettischen Finanzpolitiker betonen, sei der Prozentsatz der Auslands-schulden im europäischen Vergleich nicht besonders hoch: verglichen mit Griechenland oder Italien ist das richtig - hier werden Prozentpunkte der Auslandsschulden im Vergleich zum Inlandsbruttosozialprodukt veglichen, Lettland erreicht 44,6%. Dennoch kommen die Nachbarländer Estland (6%) und Litauen (37,6%) mit weniger Schuldenaufnahme aus. Der lettische Finanzminister hat im Kreditrückzahlungsplan größere Summen für 2014 und 2015 vorgesehen und rechnet deshalb bei den Ausgaben mit besonders spitzem Bleistift. "Aber wir sollten uns auch nicht ausschließlich auf Schuldenrückzahlung konzentrieren", mit solchen Aussagen reiht sich Pēteris Strautiņš, Ökonom der DnBBank. in die Reihe derjenigen ein, die mehr Anreize für höhren Konsum und mehr Investitionen fordern. Aber aufgrund der Erfahrungen der noch nicht ganz überstandenen Weltwirtschaftskrise sind lettische Politiker vorsichtig: international gesehen mögen die Schulden nicht hoch sein, aber wenn von außen wieder negative Einflüsse kämen, so stünde ihrer Meinung nach Lettland nach wie vor sehr verwundbar da. Mārtiņš Grāvītis, Pressesprecher der "Latvijas Banka" (LB), macht in der "Latvijas Avize" noch eine andere Rechnung auf: durchschnittlich zahle jeder Lette 1500 Lat Steuern: "statistisch muss also jeder 1 1/2 Jahre für die Schuldenrückzahlung arbeiten."
Grāvītis verbirgt aber auch nicht, dass hinter den Kalkulationen seiner Bank die Hoffnung auf die Einführung des Euro steht. "Schon in den Jahren 2014 und 2015 müssen wir 2,3 Milliarden Lat aufbringen," meint er. "Ohne den Euro müssen wir dafür 5,5-6% Zinsen zahlen, mit Euro nur 2-2,5%."

Ob man solche Berechnungen teilen kann, und wie sich das auf die aktuellen Maßnahmen in anderen Politikfeldern auswirkt, das wird die Regierung sehr bald zu entscheiden haben. Sozialministerin Viņķele jedenfalls hat eine Erhöhung des allgemeinen Renteneinstiegsalters auf 65 Jahre angekündigt und begründet das mit der notwendigen Vermeidung zu hoher Defizite. Stufenweise soll der Renteneinstieg ab 2014 von gegenwärtig 62 Jahre bis 2020 auf 65 Jahre erhöht werden. Während die lettischen Gewerkschaften diesen Prozeß gerne um einige Jahre aufgeschoben haben möchten (auf einen Übergang zwischen 2016 und 2028) droht die oppositionelle Partei „Saskaņas Centrs“ auch in dieser Frage mit der Beantragung einer Volksabstimmung. Laut Umfragen sprechen sich 83% der Befragten in Lettland gegen eine Erhöhung des Rentenalters aus. Aber 50% planen in jedem Fall auch als Rentner weiter arbeiten zu wollen.

19. März 2012

Weltgeltung gesucht

Hauptstadtplanungen 
Lettische Teilnehmerinnen bei der Chorolympiade 2004
in Bremen - einfach stolz dabei zu sein?
Was ist schöner? Hauptstadt sein oder Hauptstadt werden? Vielleicht wird es Riga wenig bedauern erst nach den Nachbarn Vilnius (2009 - mitten in der Wirtschaftskrise) und Tallinn (2011, auch leider schon vorbei) als Europäische Kulturhauptstadt im Mittelpunkt zu stehen. Schon sehr früh nutzt Riga die Möglichkeit, Planungen für 2014 so bekannt zu geben als seien sie schon Bestandteil des jetzigen Kulturlebens. Bei einem Punkt wird man das auch zugestehen müssen: beim Thema Chorfestival.

Ob jedoch die "Chorolympiade 2014" (englisch auch "World Choir Games" genannt) ähnlich toll und emotional gefeiert werden kann wie die ebenfalls doch weltweit bekannten Lettischen Sängerfeste, das wird man abwarten müssen. Bremen richtete diese Veranstaltungsreihe, die ansonsten bisher eine Bühne deutschsprachiger Veranstalter in Kooperation mit Asiaten zu sein schien (2x in Österreich, 2x in China, 1x in Korea), im Jahr 2004 aus - als Bremen kurz vorher noch einen höheren Feiertag beging: Werder Bremens deutsche Fußballmeisterschaft. Bremen war also gut gelaunt und ertrug auch ein Chorsängerwelttreffen (auch mit dem offenbar unvermeidlichen Gotthilf Fischer). Bremen galt auch wegen dem damals amtierenden sangesfreudigen Bürgermeister Henning Scherf als toller Gastgeber.

Lettland war in Bremen 2004 mit mehreren Chören präsent
Aber was ist heute aus den zuständigen Bremischen Ämtern zu hören, auf die Veranstaltung damals und auf die Planungen in der Partnerstadt Riga angesprochen? Die Veranstaltung damals sei wohl vor allem für die Messegesellschaft, die ihre Räumlichkeiten vermieten konnte, sehr gut gelaufen. Es ist den Bremern aber ebenso aufgefallen, dass teilnehmende Chöre aus ärmeren Ländern relativ viel Geld bezahlen mussten, denn Teilnahme, Anreise und Hotels werden niemanden vergünstigt angeboten. Es locken allein die Preisverleihungen "im olympischen Geist", wie die Veranstalter betonen. Sollten die Rigaer Veranstalter versuchen, Ex-Bürgermeister und Ex-Gastgeber Scherf aus der Partnerstadt einzuladen, werden sie wohl auch Diskussionen führen müssen die nicht ganz zu den stolz herausgestellten Ambitionen passen. Oder ist vielleicht gar zu befürchten, dass diese kommerziell gut durchgerechnete Veranstaltung es endlich schafft, den familiären Geist der Sängerfeste abzuschaffen auf Kosten der Weltgeltung? Bandenwerbung in den Straßen, englischsprachige Durchsagen, teure Gebühren für die Fernsehübertragung? Von der Höhe der Eintrittspreise erst gar nicht zu reden.

Es ist jedenfalls noch offen, ob die "World Choir Games" das bisherige herausragende Niveau der lettischen Sängerfeste halten können - hoffentlich machen sie die Sangeskultur nicht derart zu nichte, wie es in Deutschland Nazizeit und Deutschtümelei der Nachkriegszeit geschafft haben. Ergebnis in Deutschland: Kultur ist meist eine elitäre Veranstaltung für diejenigen, die sich den Eintritt leisten können - der Rest sitzt vor dem Fernseher. Anspruchsvollere "Volkslieder" verstecken sich lieber hinter "Folkfestivals", um nicht mit den hemmungslosen Mitklatschfestivals nach Art der "Feste der Volksmusik" identifiziert zu werden. - Bei Sängerfesten in Lettland aber war bisher die ganze Hauptstadt voller Chöre aus dem ganzen Land, die Teilnehmer/innen übernachten tagelang in Turnhallen und Kulturhäusern, außerhalb der Konzerte mit sichtbarer Freude singend in Parks und Straßen zu erleben. - In Bremen fand begleitend zur Chorolympiade ein fast militärisch geordneter Umzug statt, dessen einziger Pluspunkt die vielen teilnehmenden Jugendlichen waren, die ordentlich Stimmung und Farbe mitbrachten. Es wird abzuwarten sein, ob die Kulturveranstaltungen in Riga 2014 es schaffen, auch über kühl durchgerechnete Kommerzialität hinauszugehen.

Bremen 2004: interessierte
lettische Fachbesucher schon damals
"fast unerkannt" im Publikum
Daher wird - wer sicher gehen will, oder den direkten Vergleich sucht - wohl auch das turnusgemäß stattfindende Große Lettische Sängerfest 2013 besuchen (über das die Veranstalter der Choir Games übrigens kein Wort verlieren). Kurzzeitig waren Gerüchte in der lettischen Presse zu lesen, die Durchführung 2013 sei noch nicht sicher (Zitat dazu aus einem Internetforum: Warum sollen wir singen, wenn wir nichts zu essen kaufen können?). Hierzu passt auch die Meldung über einen Protest der Chordirigenten zu ihren sehr niedrigen Aufwandsentschädigungen, die in Lettland gezahlt werden (Delfi 11.3.2012). Wer einen Amateurchor dirigiert, bekommt noch weniger: 17 Santimi (ca 25 Cent) im Monat (Delfi 20.1.12). Mit der Finanzierung des Chorbetriebs werden offenbar die vielen Aktiven auf dem Lande allein gelassen (zuständig sind die Kommunen, und wer in einer armen Gemeinde lebt hat "Pech gehabt"). Vorerst gilt also offenbar der Wahlspruch: Großereignis vor Gesang für alle. Üblich ist wohl auch, lieber "Ideenwettbewerbe" auszuschreiben, als die Rahmenbedingungen für anhaltend niveauvolle Kreativität zu sichern: 500 Lat (ca 720 Euro) bekamen Dirigent Ints Teterovskis und Kulturjournalistin Aiva Rozenberga für die Idee zur Konzeption des Abschlußkonzerts für 2013 zugesprochen. Rozenberga ist gleichzeitig eine der Koordinatorinnen des Programms für das Kulturhauptstadtjahr 2014 - es besteht also noch Hoffnung auf gleichmäßige Berücksichtigung aller Interessen.

Presseerklärung des veranstaltenden Vereins "Interkultur"

Presseerklärung des Lettland-Instituts

Riga 2014 Internetpräsentation

Infoseite zur Geschichte der lettischen Sängerfeste

Themenseiten beim Portal "Delfi" zu den Planungen fürs Sängerfest 2013 (lettisch)