Kaum nähert sich das halbe Jahr der EU-Ratspräsidentschaft dem Ende, scheint die Schonzeit in der lettischen Politik wieder beendet zu sein. Wie von Regierungschefin Laimdota Straujuma erbeten, gab es keine Unruhe unter Ministern und Koalitionspartnern, solange die Spitzen der Europäischen Union sich in Riga die Klinken in die Hand gaben. Nun aber muss ein neuer Präsident gewählt werden, und der bisherige Amtsinhaber, Andris Bērziņš, kandidiert nicht erneut. Wählen soll nun am 3.Juni das Parlament - voraussichtlich in mehreren Wahlgängen. Gewählt ist, wer die einfache Mehrheit der Abgeordneten hinter sich bringt: also 51 Stimmen oder mehr.
Die lettische Wahlkommission hat in Zusammenarbeit mit der Nachrichtenagentur LETA eine
Übersicht zu den bisher offiziell als Kandidaten nominierten Personen erstellt.
Mārtiņš Bondars, 43 Jahre alt, ist als Kandidat des Parteienneulings der "Partei der Regionen Lettlands" (
Latvijas Reģionu Apvienība) nominiert. Allerdings verfügt diese nur über 8 Parlamentssitze. Bondars war zunächst Profi-Basketballspieler, eher er 1998 vom damaligen Regierungschef Vilis Kristopans zu dessen Büroleiter ernannt wurde. Eine echte "Basketball-Connection": bis 1997 war Kristopans Präsident des lettischen Basketball-Verbands gewesen. Seine Regierungszeit dauerte allerdings nur acht Monate - danach wurde Bonders Leiter der Präsidentenkanzlei von Vaira Vīķe-Freiberga. Nachdem Valdis Zatlers 2007 neuer Präsident wurde ging Bondars in die Wirtschaft, unter anderem als Vorstandvorsitzender "Latvijas Krajbanka", die allerdings 2011 pleite ging. 2013 kamen die ersten Gerüchte auf., Bondars könnte in die Politik zurückkehren. Er schloss sich aber nicht der Reformpartei von Ex-Präsident Zatlers an, sondern holte als Spitzenkandidat der Regionen-Partei 2,49% bei der Europawahl, aber bei den Parlamentswahlen 6,6% und 8 Sitze.
Sergejs Dolgopolovs, 73 Jahre alt, ist Kandidat der "
Saskaņa" ("Harmonie"), die gegenwärtig mit 24 Sitzen die größte Parlamentsfraktion bildet. Die Partei gilt ja als die Interessen der Russischstämmigen vertretend, also passt der ausgebildete Chemiker Dolgopolovs, dessen bisher höchstes politisches Amt das des stellvertretenden Bürgermeister von Riga war, zu Image und Programm. Ende der 1960iger Jahre arbeitete Dolgopolovs zunächst in der Halbleiterfabrik "Alpha", dann als Gewerkschaftler und dann im Zentralkomittee der Kommunistischen Partei. Er galt aber als Sympathisant der lettischen Unabhängigkeitbewegung. Ab 1994 kandidierte er mehrfach für die "Tautas Saskaņas partija" (Partei Volkseintracht - eine der vielen Vorläufer der heutigen "Saskaņa"), bis er 1998 als Nachrücker in den Stadtrat Riga kam, wo er dann jahrelang Abgeordneter war, 2001 als Delegierter der Liste PCTVL ("Par cilvēka tiesībām vienotā Latvijā" - "für Menschenrechte in einem vereinten Lettland"), die zusammen mit der Sozialistischen Partei und der Bewegung „Līdztiesību” ("Gleichberechtigung") gebildet wurde.
2003 wurde er aus der "Tautas Saskaņa partija" ausgeschlossen, sammelte dann Gleichgesinnte und gründete die Partei "Jaunais Centrs" ("Neues Zentrum") und wurde als deren Spitzenkandidat 2005 erneut in den Rigaer Stadtrat gewählt. Bei der Gründung von "Saskaņas Centrs" im selben Jahr wurde Dolgopolovs deren erster Vorsitzender, bevor dann Nils Ušakovs diese Funktion übernahm. Seitdem wurde Dolgopolovs abwechselnd immer wieder in den Stadtrat und ins Parlament gewählt, erhielt allerdings keinen Sitz als Kandidat für das Europaparlament.
Egils Levits, 59 Jahre alt, wurde von der "Nationalen Vereinigung" ("
Nacionālā apvienība" NA) als Kandidat nominiert, die über 17 Sitze im Parlament verfügt. Die Familie Levits, die Großeltern hatten die Verbannung nach Sibirien hinter sich, die Eltern waren scharfte Regimegegner, konnten 1972 zu Verwandten nach Deutschland ausreisen, als Levits 17 Jahre alt war. Levits besuchte das Lettische Gymnasium Münster und studierte zunächst in Hamburg Chemie, dann Jura und Politikwissenschaften. Die beiden Professoren Dietrich A. Löber und Boris Meissner wurden seine Mentoren, an der Uni Kiel wurde Levits Loebers Assistent. Sein juristischen Referendariat absolvierte er unter anderem beim wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages. Loeber arbeitete dann zunächst am Institut für Osteuropaforschung der Universität Göttingen, dann als Rechtsanwalt am Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht. Seit 1987 reiste er wieder regelmäßig nach Lettland, unterstützte die "Lettische Volksfront" (Abgeordnete die mit der Unabhängigkeitsbewegung sympathisierten), und wurde nach den ersten demokratischen Wahlen 1993 Justizminister und stellvertretender Ministerpräsident, nachdem er 1992 kurz der erste Botschafter Lettlands in Deutschland nach Erneuerung der Unabhängigkeit war. 1994-1995, nach Umbildung des Regierungskabinetts, war er Botschafter in Österreich, der Schweiz und Ungarn.
1995 wurde Egils Levits zum Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewählt, 1998 und 2001 wiedergewählt. Seit 2004 ist Egils Levits Richter am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Levits wurde bereits vor Jahren als potentieller Präsidentschaftskandidat gehandelt, äusserte sich aber zurückhaltend, da er keine parlamentarische Mehrheit zu seinen Gunsten sah. Der teilweise sehr nationalistisch ausgerichteten NA kommt zu Nutze, dass Levits als exzellent ausgebildeter Patriot seines Landes gilt, der zudem unter den gegenwärtigen Kandidaten die breitesten Fremdsprachenkenntnisse vorweisen kann und über die NA hinaus auch bei anderen Fraktionen mit Stimmen rechnen kann.
Raimonds Vējonis,48 Jahre, ist der amtierende Verteidigungsminister Lettlands und ist der Kandidat der gemeinsamen Liste der lettischen Bauernpartei ("
Zemnieku partija") und der Grünen (
"Zaļa Partija") - der "
Zaļo un Zemnieku savienība" ZZS. Geboren im damaligen russischen Oblast Pskow (lett. Pleskava, dort diente sein Vater in der Roten Armee), siedelte seine Familie dann nach Madona über. Schon kurz nachdem er die Mittelschule in Madona verlassen hatte wurde Vejonis 1987 dort Biologielehrer und blieb es bis 1993, dann auch als Mitglied des Stadtrats. Sein Diplomthema an der Universität Lettlands war der Schutz der Pflanzenwelt im Bezirk Madona. Vejonis schloß 1995 sein Studium mit dem Magistergrad der Biologischen Fakultät ab, studierte auch Umwelt- und Wasserwirtschaft in Tallinn und Tampere. Danach war er zunächst stellvertretender Direktor der Umweltaufsichtsbehörde in Madona, dann Direktor der Umweltaufsicht der Region Riga.
Mit dem damaligen Umweltminister Emsis traf Vejonis erstmals 1997 zusammen, als beide sich in Deutschland zum Thema Abfallwirtschaft informierten. Das Thema Umweltschutz sei schon als Kind für ihn wichtig gewesen, erzählte Vejonis einst der lettischen Presse. Sein Großvater sei wegen übermäßigem Gebrauch von Pestiziden in einer Kolchose erblindet, und das habe er nie vergessen können.
2002 wurde Vejonis unter Regierungschef Einārs Repše Umweltminister und blieb es bis 2011. Seit 2014 ist er im Kabinett Straujuma Verteidigungsminister. Seit 2003 ist Vejonis einer von zwei gleichberechtigten Vorsitzenden der Grünen Partei. Nachdem er sich im zweiten Kabinett Straujuma als Verteidigungsminister profilieren konnte, erregte er 2014 auch deshalb Aufsehen, weil er sich erstmals mit dem "Ziehvater" und Großsponsor der ZZS, dem umstrittenen Bürgermeister von Ventspils Aivārs Lembergs anlegte. Nachdem Lembergs das Verhalten von NATO-Soldaten in Ventspils mit dem einer "Okkupationsarmee" verglichen hatte, erntete er den energischen Widerspruch von Vejonis. Das ist auch einer der Gründe, warum Vejonis angeblich der bevorzugte Kandidat von NATO und den USA sein soll.
Nachdem ZZS-Fraktionsvorsitzender Augusts Brigmanis noch vor wenigen Wochen gesagt hatte, seine Partei verfüge über "mindestens 10 gute Präsidentschaftskandidaten", benannte die ZZS, die über 21 Sitze im Parlament verfügt, Vējonis am 11.Mai als ihren Kandidaten. Vejonis, der gerne erzählt, er sei zu Schulzeiten Kilometer zu Fuß gegangen um die Bushaltestelle für die Fahrt zur Schule zu erreichen, und habe damals auch einmal einem Wolf in die Augen sehen können, war der erste lettische Minister der Twitter nutzte und dabei gern die englische Variante seines Namens nutzt: "Wind" (vējš). Er gilt als der aussichtsreichste Kandidat, da die 23 Abgeordneten der Partei "
Vienotība" ("Einigkeit") der Regierungschefin Straujuma auf die Unterstützung der ZZS in der Regierungskoalition angewiesen sind. Obwohl es Ex-Aussenministerin und EU-Abgeordnete Sandra Kalniete gerne geworden wäre, auch der nur knapp ins Parlament wiedergewählten Solvita Āboltiņa werden Ambitionen nachgesagt - benannte die "Vienotība" keine eigene Kandidatin sondern sagte offiziell Vejonis ihre Unterstützung zu. Die Abstimmungen am 3.Juni werden allerdings geheim durchgeführt.
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Abstimmungs-Arithmetik: hier die Rechnung des lettischen
öffentlich-rechtlichen Fernsehens LSM |
Am 3.Juni werden zunächst die ersten beiden Abstimmungen mit allen vier Kandidaten durchgeführt. In der dritten Runde verbleiben drei, derjenige mit den wenigsten Stimmen scheidet aus. In der vierten Runde sind es dann noch die zwei Kandidaten mit den zuvor meisten Stimmen, und in der fünften Runde steht dann nur noch der zuvor stärkste Kandidat zur Wahl. Da es aber die Möglichkeit der Enthaltung gibt, ist die Wahl eines neuen Präsidenten auch dann noch nicht sicher - falls keiner mindestens 51 Stimmen auf sich vereinigt, muss innhalb von 10-15 Tagen eine neue Wahl stattfinden.
Anhänger eines geänderten Wahlverfahrens des Präsidenten (offene Abstimmung, oder Wahl durch das Volk) unterstützen eine eigene, namtliche Abstimmung auf dem Portal "
Manspresidents" (mein Präsident). Dass hier alles andere als Anhänger der Regierungskoalition aktiv sind, zeigt das momentane Abstimmungsergebnis: die größte Zustimmung erhält Mārtiņš Bondars (dessen Partei ihre Popularität teilweise auch aktiven Nutzern von Internet, Twitter und Youtube verdankt), gefolgt von Ex-Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga, Egilis Levits und Sandra Kalniete. Viele haben dabei auch noch im Gedächtnis, dass auch 2011 die ZZS durch geschicktes Taktieren ihren Kandidaten Andris Bērziņš gegen den zeitweiligen "Volkshelden" Valdis Zatlers durchsetzte, der kurz zuvor noch das Volk die Gelegenheit gegeben hatte über die Entlassung und Neuwahl des gesamten Parlaments abstimmen zu lassen (was auch eine Mehrheit fand).