29. Mai 2015

Solche und solche

"Lettlands Politiker sollten sich schämen" - diese harte Kritik kam kürzlich von der lettischen Ex-Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga zum Thema EU-Flüchtlingspolitik. "Die Letten sollten sich lieber daran erinnern, dass auch viele von ihnen einmal Flüchtlinge waren," meint Vīķe-Freiberga. Und wer das nicht selbst erlebt habe, könne es in den Büchern von Anšlavs Eglītis oder Anna Žīgure nachlesen.

Versucht sich mal wieder als Sprecherin
für unangenehme Wahrheiten: Lettlands
Ex-Präsidentin, die angeblich auch für eine
Wiederwahl zur Verfügung steht, falls sich kein anderer
geeigneter Kandidat finden ließe
In der lettischen konservativen Presse erntet sie damit Widerspruch. "In meiner Familie haben wir es auch erlebt, dass Menschen mit fremder Mentalität in unseren Staat hineinfluteten, viele von ihnen unhöflich, arrogant und unsere Traditionen ignorierend, im Namen angeblicher Brüderlichkeit und Solidarität," meint Agris Liepiņš in der "Latvijas Avize". "Und die Folgen spüren wir auch heute noch, denn diese Einwanderer wollen sich noch immer nicht in die lettische Gesellschaft intregrieren." Und während die einen aus Sibierien nicht mehr zurückkehrten, blieben viele von denjenigen, die einmal Flüchtlinge waren, freiwillig in der neuen Heimat. Somit sei auch der Vergleich der heutigen Flüchtlinge mit den damaligen ungerecht.

"Sogar in Sibirien haben Einheimische dort manchmal Letten geholfen zu überleben," hält die auch unter dem Kürzel VVK bekannte Ex-Landeschefin im Fernsehsender TV3 dem entgegen. "Wenn man an die lettischen Flüchtlinge Ende des 2.Weltkriegs denkt, es wäre so als ob sie kurz vor Erreichen der schwedischene Küste ertrinken. Unterstützung kommt durch den Menschenrechtskommissar des Europarats, den lettischen Ex-Minister Nils Muižnieks, der eine Neuordung der Flüchtlingshilfe in Europa für dringend notwendig hält.

Der Karikaturist der "Diena" sieht es als
"Europalotterie": Einige werden doppelt Glück
haben - "und ihre neue Heimat ist ...."
Eine Umfrage der Agentur TNS hatte ergeben, dass nur 18% die Aufnahme von zusätzlichen Flüchtlingen begrüßen würden - aber 66% sind dagegen. 28% der Gegner einer Flüchtlingsaufnahme unterstützen die Ansicht, der lettische Staat solle erstmal den eigenen Bürgerinnen und Bürgern helfen, und erst danach anderen. Im vergangenen Jahr waren in Lettland lediglich 139 Personen als Asylsuchende zu betreuen, die nicht legal eingereist waren. Dennoch stellt auch das schon eine Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr dar.

Sprecher von nahezu allen im lettischen Parlament vertretenen Parteien hatten in den vergangenen Tagen sich gegen die von der EU vorgesehene Neuregelung von Flüchtlingsquoten ausgesprochen. Lediglich die oppositionelle Partei "Saskaņa" hatte eine entsprechende Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Regierungschefin Straujuma hatte sich für eine freiwillige Entgegennahme weiterer Flüchtlinge ausgesprochen, und fühlt sich da auch mit den baltischen Nachbarn Litauen und Estland einig. Dem gegenüber hatte Oppositionspolitikerin Inguna Sudraba ("No sirds Latvijai" / "Von Herzen für Lettland") vorgerechnet, dass in Lettland allein schon 60.000 Personen als hilfebedürftig gelten, und zudem würde der zugesicherte Zuschuss pro Flüchtling von monatlich 256 Euro nur wenig unter der durschnittlichen Rentenniveau in Lettland (266 Euro) liegen, ein Umstand, welcher der lettischen Öffentlichkeit nur schwer vermittelbar sei.

Dem Vorschlag der EU-Kommission zufolge würde Lettland 737 Flüchtlinge zusätzlich pro Jahr aufnehmen müssen.

28. Mai 2015

Präsidentenrennen

Kaum nähert sich das halbe Jahr der EU-Ratspräsidentschaft dem Ende, scheint die Schonzeit in der lettischen Politik wieder beendet zu sein. Wie von Regierungschefin Laimdota Straujuma erbeten, gab es keine Unruhe unter Ministern und Koalitionspartnern, solange die Spitzen der Europäischen Union sich in Riga die Klinken in die Hand gaben. Nun aber muss ein neuer Präsident gewählt werden, und der bisherige Amtsinhaber, Andris Bērziņš, kandidiert nicht erneut. Wählen soll nun am 3.Juni das Parlament - voraussichtlich in mehreren Wahlgängen. Gewählt ist, wer die einfache Mehrheit der Abgeordneten hinter sich bringt: also 51 Stimmen oder mehr.

Die lettische Wahlkommission hat in Zusammenarbeit mit der Nachrichtenagentur LETA eine Übersicht zu den bisher offiziell als Kandidaten nominierten Personen erstellt.

Mārtiņš Bondars, 43 Jahre alt, ist als Kandidat des Parteienneulings der "Partei der Regionen Lettlands" (Latvijas Reģionu Apvienība) nominiert. Allerdings verfügt diese nur über 8 Parlamentssitze. Bondars war zunächst Profi-Basketballspieler, eher er 1998 vom damaligen Regierungschef Vilis Kristopans zu dessen Büroleiter ernannt wurde. Eine echte "Basketball-Connection": bis 1997 war Kristopans Präsident des lettischen Basketball-Verbands gewesen. Seine Regierungszeit dauerte allerdings nur acht Monate - danach wurde Bonders Leiter der Präsidentenkanzlei von Vaira Vīķe-Freiberga. Nachdem Valdis Zatlers 2007 neuer Präsident wurde ging Bondars in die Wirtschaft, unter anderem als Vorstandvorsitzender "Latvijas Krajbanka", die allerdings 2011 pleite ging. 2013 kamen die ersten Gerüchte auf., Bondars könnte in die Politik zurückkehren. Er schloss sich aber nicht der Reformpartei von Ex-Präsident Zatlers an, sondern holte als Spitzenkandidat der Regionen-Partei 2,49% bei der Europawahl, aber bei den Parlamentswahlen 6,6% und 8 Sitze.

Sergejs Dolgopolovs, 73 Jahre alt, ist Kandidat der "Saskaņa" ("Harmonie"), die gegenwärtig mit 24 Sitzen die größte Parlamentsfraktion bildet. Die Partei gilt ja als die Interessen der Russischstämmigen vertretend, also passt der ausgebildete Chemiker Dolgopolovs, dessen bisher höchstes politisches Amt das des stellvertretenden Bürgermeister von Riga war, zu Image und Programm. Ende der 1960iger Jahre arbeitete Dolgopolovs zunächst in der Halbleiterfabrik "Alpha", dann als Gewerkschaftler und dann im Zentralkomittee der Kommunistischen Partei. Er galt aber als Sympathisant der lettischen Unabhängigkeitbewegung. Ab 1994 kandidierte er mehrfach für die "Tautas Saskaņas partija" (Partei Volkseintracht - eine der vielen Vorläufer der heutigen "Saskaņa"), bis er 1998 als Nachrücker in den Stadtrat Riga kam, wo er dann jahrelang Abgeordneter war, 2001 als Delegierter der Liste PCTVL ("Par cilvēka tiesībām vienotā Latvijā" - "für Menschenrechte in einem vereinten Lettland"), die zusammen mit der Sozialistischen Partei und der Bewegung „Līdztiesību” ("Gleichberechtigung") gebildet wurde.
2003 wurde er aus der "Tautas Saskaņa partija" ausgeschlossen, sammelte dann Gleichgesinnte und gründete die Partei "Jaunais Centrs" ("Neues Zentrum") und wurde als deren Spitzenkandidat 2005 erneut in den Rigaer Stadtrat gewählt. Bei der Gründung von "Saskaņas Centrs" im selben Jahr wurde Dolgopolovs deren erster Vorsitzender, bevor dann Nils Ušakovs diese Funktion übernahm. Seitdem wurde Dolgopolovs abwechselnd immer wieder in den Stadtrat und ins Parlament gewählt, erhielt allerdings keinen Sitz als Kandidat für das Europaparlament.

Egils Levits, 59 Jahre alt, wurde von der "Nationalen Vereinigung" ("Nacionālā apvienība" NA) als Kandidat nominiert, die über 17 Sitze im Parlament verfügt. Die Familie Levits, die Großeltern hatten die Verbannung nach Sibirien hinter sich, die Eltern waren scharfte Regimegegner, konnten 1972 zu Verwandten nach Deutschland ausreisen, als Levits 17 Jahre alt war. Levits besuchte das Lettische Gymnasium Münster und studierte zunächst in Hamburg Chemie, dann Jura und Politikwissenschaften. Die beiden Professoren Dietrich A. Löber und Boris Meissner wurden seine Mentoren, an der Uni Kiel wurde Levits Loebers Assistent. Sein juristischen Referendariat absolvierte er unter anderem beim wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages. Loeber arbeitete dann zunächst am Institut für Osteuropaforschung der Universität Göttingen, dann als Rechtsanwalt am Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht. Seit 1987 reiste er wieder regelmäßig nach Lettland, unterstützte die "Lettische Volksfront" (Abgeordnete die mit der Unabhängigkeitsbewegung sympathisierten), und wurde nach den ersten demokratischen Wahlen 1993 Justizminister und stellvertretender Ministerpräsident, nachdem er 1992 kurz der erste Botschafter Lettlands in Deutschland nach Erneuerung der Unabhängigkeit war. 1994-1995, nach Umbildung des Regierungskabinetts, war er Botschafter in Österreich, der Schweiz und Ungarn.
1995 wurde Egils Levits zum Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewählt, 1998 und 2001 wiedergewählt. Seit 2004 ist Egils Levits Richter am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Levits wurde bereits vor Jahren als potentieller Präsidentschaftskandidat gehandelt, äusserte sich aber zurückhaltend, da er keine parlamentarische Mehrheit zu seinen Gunsten sah. Der teilweise sehr nationalistisch ausgerichteten NA kommt zu Nutze, dass Levits als exzellent ausgebildeter Patriot seines Landes gilt, der zudem unter den gegenwärtigen Kandidaten die breitesten Fremdsprachenkenntnisse vorweisen kann und über die NA hinaus auch bei anderen Fraktionen mit Stimmen rechnen kann.

Raimonds Vējonis,48 Jahre, ist der amtierende Verteidigungsminister Lettlands und ist der Kandidat der gemeinsamen Liste der lettischen Bauernpartei ("Zemnieku partija") und der Grünen ("Zaļa Partija") - der "Zaļo un Zemnieku savienība" ZZS. Geboren im damaligen russischen Oblast Pskow (lett. Pleskava, dort diente sein Vater in der Roten Armee), siedelte seine Familie dann nach Madona über. Schon kurz nachdem er die Mittelschule in Madona verlassen hatte wurde Vejonis 1987 dort Biologielehrer und blieb es bis 1993, dann auch als Mitglied des Stadtrats. Sein Diplomthema an der Universität Lettlands war der Schutz der Pflanzenwelt im Bezirk Madona. Vejonis schloß 1995 sein Studium mit dem Magistergrad der Biologischen Fakultät ab, studierte auch Umwelt- und Wasserwirtschaft in Tallinn und Tampere. Danach war er zunächst stellvertretender Direktor der Umweltaufsichtsbehörde in Madona, dann Direktor der Umweltaufsicht der Region Riga.
Mit dem damaligen Umweltminister Emsis traf Vejonis erstmals 1997 zusammen, als beide sich in Deutschland zum Thema Abfallwirtschaft informierten. Das Thema Umweltschutz sei schon als Kind für ihn wichtig gewesen, erzählte Vejonis einst der lettischen Presse. Sein Großvater sei wegen übermäßigem Gebrauch von Pestiziden in einer Kolchose erblindet, und das habe er nie vergessen können.
2002 wurde Vejonis unter Regierungschef Einārs Repše Umweltminister und blieb es bis 2011. Seit 2014 ist er im Kabinett Straujuma Verteidigungsminister. Seit 2003 ist Vejonis einer von zwei gleichberechtigten Vorsitzenden der Grünen Partei. Nachdem er sich im zweiten Kabinett Straujuma als Verteidigungsminister profilieren konnte, erregte er 2014 auch deshalb Aufsehen, weil er sich erstmals mit dem "Ziehvater" und Großsponsor der ZZS, dem umstrittenen Bürgermeister von Ventspils Aivārs Lembergs anlegte. Nachdem Lembergs das Verhalten von NATO-Soldaten in Ventspils mit dem einer "Okkupationsarmee" verglichen hatte, erntete er den energischen Widerspruch von Vejonis. Das ist auch einer der Gründe, warum Vejonis angeblich der bevorzugte Kandidat von NATO und den USA sein soll.
Nachdem ZZS-Fraktionsvorsitzender Augusts Brigmanis noch vor wenigen Wochen gesagt hatte, seine Partei verfüge über "mindestens 10 gute Präsidentschaftskandidaten", benannte die ZZS, die über 21 Sitze im Parlament verfügt, Vējonis am 11.Mai als ihren Kandidaten. Vejonis, der gerne erzählt, er sei zu Schulzeiten Kilometer zu Fuß gegangen um die Bushaltestelle für die Fahrt zur Schule zu erreichen, und habe damals auch einmal einem Wolf in die Augen sehen können, war der erste lettische Minister der Twitter nutzte und dabei gern die englische Variante seines Namens nutzt: "Wind" (vējš). Er gilt als der aussichtsreichste Kandidat, da die 23 Abgeordneten der Partei "Vienotība" ("Einigkeit") der Regierungschefin Straujuma auf die Unterstützung der ZZS in der Regierungskoalition angewiesen sind. Obwohl es Ex-Aussenministerin und EU-Abgeordnete Sandra Kalniete gerne geworden wäre, auch der nur knapp ins Parlament wiedergewählten Solvita Āboltiņa werden Ambitionen nachgesagt - benannte die "Vienotība" keine eigene Kandidatin sondern sagte offiziell Vejonis ihre Unterstützung zu. Die Abstimmungen am 3.Juni werden allerdings geheim durchgeführt.

Abstimmungs-Arithmetik: hier die Rechnung des lettischen
öffentlich-rechtlichen Fernsehens LSM
Am 3.Juni werden zunächst die ersten beiden Abstimmungen mit allen vier Kandidaten durchgeführt. In der dritten Runde verbleiben drei, derjenige mit den wenigsten Stimmen scheidet aus. In der vierten Runde sind es dann noch die zwei Kandidaten mit den zuvor meisten Stimmen, und in der fünften Runde steht dann nur noch der zuvor stärkste Kandidat zur Wahl. Da es aber die Möglichkeit der Enthaltung gibt, ist die Wahl eines neuen Präsidenten auch dann noch nicht sicher - falls keiner mindestens 51 Stimmen auf sich vereinigt, muss innhalb von 10-15 Tagen eine neue Wahl stattfinden.

Anhänger eines geänderten Wahlverfahrens des Präsidenten (offene Abstimmung, oder Wahl durch das Volk) unterstützen eine eigene, namtliche Abstimmung auf dem Portal "Manspresidents" (mein Präsident). Dass hier alles andere als Anhänger der Regierungskoalition aktiv sind, zeigt das momentane Abstimmungsergebnis: die größte Zustimmung erhält Mārtiņš Bondars (dessen Partei ihre Popularität teilweise auch aktiven Nutzern von Internet, Twitter und Youtube verdankt), gefolgt von Ex-Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga, Egilis Levits und Sandra Kalniete. Viele haben dabei auch noch im Gedächtnis, dass auch 2011 die ZZS durch geschicktes Taktieren ihren Kandidaten Andris Bērziņš gegen den zeitweiligen "Volkshelden" Valdis Zatlers durchsetzte, der kurz zuvor noch das Volk die Gelegenheit gegeben hatte über die Entlassung und Neuwahl des gesamten Parlaments abstimmen zu lassen (was auch eine Mehrheit fand).

4. Mai 2015

Vor 70 und vor 25 Jahren ...

Eigentlich ziemlich ideal, Lettland Anfang Mai kennenzulernen. Wo doch in vielen Darstellungen deutscher Diplomaten verzeichnet steht, die lettisch-deutschen Beziehungen hätten am 28.August 1991 begonnen (siehe Auswärtiges Amt). Aus Sicht der Diplomaten und Politiker ist das auch korrekt - nur spart es wieder mal eine Darstellung der schwierigen Phasen deutsch-lettischer Kontakte aus. Lettland feiert mit Recht den 4.Mai 1990 - als eine Mehrheit der Abgeordneten des damaligen Delegierten des Obersten Sowjets in Lettland sich für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit des Landes aussprach. 138 von 201 Sitzen hatten bei den Wahlen am 18.März Kandidaten der lettischen Volksfront gewonnen, die der lettischen Unabhängigkeitsbewegung nahestand.

Suche nach Symbolik in schwierigen Zeiten: die einen ...
Die Aufnahmen des lettischen Fernsehens von den Delegierten, die beim Verlassen des Parlaments nach der Abstimmung von einer jubelnden Menschenmenge draußen begrüßt wurden, sind allen Lettinnen und Letten immer noch vor Augen und stellen wohl am meisten genau denjenigen Moment dar, wo das Gefühl des entscheidenden Umschwungs am präsentesten war.
Übrigens erklärte sich auch Russland am 12.Juni 1990 für souverän.

Eine detaillierte Beschreibung des Umgangs damals regierender deutscher Spitzenpolitiker mit führenden Aktivisten der lettischen Unabhängigkeitsbewegung ist noch nicht veröffentlicht - es wird nur wenig rühmliches erzählt werden können. Aber zumindest könnten wir ja HEUTE mit dem EU-Mitgliedsland und seinen wichtigen Momenten respektvoller umgehen und den 4.Mai nicht verschweigen.

... und die anderen. Vielleicht sollte eher den Millionen
von Weltkriegs-Opfern gedacht werden als den angeblichen
Helden? 
Ohnehin ist der Maibeginn für die lettische Politik kompliziert genug. Allzu nahe liegt eben, wie jedes Jahr, der Jahrestag des Kriegsendes - aus russischer Sicht der Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg (gegen den Faschismus). In Zeiten der Sanktionen gegen Russland scheint es nicht mehr genug, bei der großen Parade auf dem Roten Platz zu fehlen. Dies vom Präsidenten Lettlands zu erwarten, wirkt offenbar eh sinnlos - er wird nicht mehr kandidieren und sehr bald von jemand anderes oder anderem nachgefolgt werden.
Das lettische Außenministerium klärt auf: am 9.Mai werden wir den Beitritt unseres Landes zur Europäischen Union feiern (siehe Presseerklärung). Sri Lanka, Malawi und Guinea Bissau sollen an diesem Tag im Fokus stehen - mit diesen unterhält Lettland Projekte der Entwicklungshilfe. In Riga werden die Botschaften der Länder Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Litauen und Schweden einen Tag der offenen Tür anbieten. Der Satz "Dies wird eine einzigartige Möglichkeit sein das Gebiet anderer Staaten zu betreten, ohne Lettland zu verlassen" klingt fast wie Ironie auf den Wunschtraum lettischer Politiker angesichts Zehntausender Arbeitsemigranten, die auf der Suche nach angemessen bezahlter Arbeit Lettland jedes Jahr TATSÄCHLICH verlassen.

Wer's genießen kann:der Mai kann so schön sein,
auch in Riga ...
Was sonst noch an diesem Tag in Lettland und besonders Riga passiert, davon erzählt das Außenministerium nichts. Es ist ja nur regelmäßig eine der größten Zusammenkünfte von in Lettland lebenden Russen, drüben, auf der anderen Seite der Daugava, am "Siegesdenkmal". Wohl gibt es Überlegungen, diesen Platz irgendwann einmal den "wirklichen Siegen Lettlands" zu widmen (bisher ist es wie eine Art "Platz der erneuten Okkupation"), aber an den Tausenden vorbei, die diesen Tag genau hier jedes Jahr feierlich begehen, wird das kaum sehr schnell durchsetzbar sein.

Bleibt wohl als Wunsch festzustellen, dass sich die Opponenten nicht nur in ihre eigene Ecke "verbeißen" - so nach dem Motto "Wir haben ja schon immer gewußt wie schlimm die anderen sind." Während einige sich am nun wieder an einer scheinbar "bewiesenen" Hinterhältigkeit und Böswilligkeit des Regimes Putin orientieren, halten andere immer noch an dem Satz fest "Ich bin hier geboren und deshalb fühle ich mich diskriminiert" (weil man Lettisch lernen und eine Staatsbürgerschaft beantragen muss).

Das lettische Außenministerium, nochmals sei es zitiert, bemüht sich derweil, möglichen Vorwürfen von Seiten Putin zuvorzukommen. Per offizielle Stellungsnahme warnt man sogar vor einzelnen Beiträgen in kleineren Internetportalen - offenbar nach dem Motto: alles, was in lettischer Sprache verbreitet wird, könnte auch gegen uns verwendet werden. "Zehn positive Dinge die der Nationalsozialismus erreicht hat" verspricht ein namentlich nicht gekennzeichneter Beitrag im Portal "Skats.lv". Wer hier Sensationen sucht wird allerdings enttäuscht - große Fotos, wenig Inhalt. Neben dem allseits bekannten Autobahnbau werden hier ein damals geschaffenes Jagdgesetz, Rauchverbot für die Jugend, und der Volkswagen entdeckt. Daneben dann drei bekannte Persönlichkeiten, die wegen ihrer Nähe zu den Nazis ja kaum als "positiv" gelten können, und deren Zwielichtigkeit in Deutschland zu genüge bekannt ist: Raketen- und Raumfahrtpionier Wernher von Braun, Filmregisseurin Leni Riefenstahl und die Sportschuh-Fabrikanten der Familie Dassler.
Im Gegensatz zu lettischen Persönlichkeiten gilt hier eben nicht: positiv, weil weltberühmt. Illustriert mit einem Foto einer Hinrichtung werden dann noch angebliche Fortschritte in der Medizin behauptet - da kann man wohl nur antworten: was Du nicht willst das man Dir tue, das füge keinem anderen zu. Mit Recht hat sich Westeuropa nach dem Fall des "Eisernen Vorhangs" verstärkt auch um die Verbrechen des Stalinismus gekümmert - und wer hier dann ein paar Krümel "Positives" heraussucht, stellt sich zumindest auf dieselbe Stufe wie diejenigen, die den Untergang der Sowjetunion als "größte Katastrophe des Jahrhunderts" hinstellen möchten.