25. Juli 2017

Hopfen und Malz - alles deutsch in Lettland?

Als das deutsche ZDF vor einer Woche das Interview mit Braumeister Matthias Saile aus Valmiera sendete, war wohl nichts weiter beabsichtigt als vielleicht ein Beitrag zum Zusammenwachsen in Europa. Ein paar sommerlich anmutende Bilder aus dem beschaulichen Lettland, ein paar gemütlich biertrinkende Menschen. - Wären da nicht diese beiden Sätze des Bierbrauers gewesen: "Es ist ein lettisches Bier, denn das Wasser haben wir natürlich von hier" sowie der folgende Kommentar "in Sowjetzeiten lag das Brauen brach, die Russen erlaubten es den Letten nicht, damit die russisches Bier kauften". - Wohl ziemlich allen (auch Deutschen!), die Lettland etwas besser kennen, müssen da wohl die Kinnladen heruntergeklappt und das Bierglas aus der Hand gefallen sein, angesichts solcher Fantastereien.

Letten - ahnungslos beim Bierbrauen?

Erstens. Bier brauen in Lettland - alles wird nach Lettland importiert, weil die Letten keine Ahnung haben? Das erzeugt Staunen. Nun ja, mag bei "Valmiermuiža" ja so sein - die Selbstdarstellung der Firma nennt die Hopfensorten Hallertauer und Tettnanger. 4 Millionen Liter Bier wurden 2016 produziert, nach Estland, Schweden und in die Schweiz wird sogar exportiert. Aber offenbar mussten nicht die Letten, sondern der badische Zugereiste erst eine lange probieren, bis sein Bier Liebhaber fand: im Interview mit der "Badischen Zeitung" (10.9.2016) gibt Saile zu, Bier mehrfach "für die Tierfütterung verwendet" zu haben, wenn Braugänge nicht gelungen waren. Offenbar stellte die Firma "Biertester" ein, oder hat Bier probeweise ausgeschenkt: nur wenn 70 von 100 Testern ihr ok gaben, wurde weiter gebraut, so Saile.
Im Getreideanbau sind die lettischen Bauern allerdings sehr erfolgreich - auch unter modernen Maßstäben. Warum also sollte nicht mindestens das Malz aus lettischer Produktion sein? Und schon die Chronik Heinrichs des Letten wußte vom Gebrauch von Bier bei den einheimischen Stämmen rund um Riga zu berichten. 

Ein Beitrag aus der lettischen Regionalportal "Burtnieku novads" aus dem Jahr 2009 dokumentiert, dass bei "Valmiermiuža" von Zeit zu Zeit "öffentliches Probieren" bei den Kunden ausgerufen wurde: die Sorte mit der höchsten Stimmenzahl sollte bestehen bleiben, so das Versprechen. Allerdings wurde - diesem Artikel zufolge - fürs Abstimmen weitgehend das Internet genutzt: die eigentliche Kundenreaktion blieb also im Dunkeln (Klicks im Internet zu erzielen - eher eine Marketing- als eine Geschmacksprobe). Und, gab es eine Variante mit anderem Hopfen? Mit lettischen Ausgangsstoffen? Offenbar nie. Zitiert wird Miteigentümer Aigars Ruņģis mit den Worten: "Unser Braumeister hat vier Rezepte aus Deutschland mitgebracht." Ob er vorher wenigstens lettisches Bier mal probiert hat, dazu wird leider nichts gesagt.  

Hopfen und Malz aus Lettland - nicht gut genug?

Zweitens. Lettische Braugeschichte. Gut, zugegeben, die ersten Brauereien in Lettland wurden vielfach von Deutschstämmigen gegründet - davon zeugen Namen wie "Waldschlößchen" oder "Tannhäuser Bier". Aber derselbe Aigars Ruņģis, der gegenüber deutschen Medien noch behauptete froh zu sein, dass lettischen Bier deutschen Touristen schmecken kann, zeigt in einer Marktuntersuchung der Hochschule Ventspils weit mehr Selbstbewußtsein: "Lettland hat Tradition im Bier brauen und genießen, und lettisches Bier ist in der Welt genauso wie, sagen wir mal, französischer Wein."

1590 wurde in Cēsis in alten Schriften zum ersten Mal das Bierbrauen erwähnt - "Cēsu alus" ist das Bier mit der ältesten Tradition in Lettland. In Riga eröffnete 1850 die Brauerei "P.R. Kymmel", 1863 "Ilgezeem" (Iļģuciems), und 1870 gleich gegenüber "Tannhäuser" (mit deutlichem Bezug zum Opernkomponisten, der wenige Jahre zuvor in Riga tätig war, gegründet vom jüdischen Unternehmer Puls). Später zunächst noch als "Tanheizers" weitergeführt, 1937 dann mit "Aldaris" (zwangs-)vereinigt.
Und mit Joachim Dauder war es ein echter Bayer, der 1865 die "Waldschlößchen-Brauerei" in Riga gründete, die in der Zwischenkriegszeit noch "lettisiert" als "Valdšleschens" weiterlebte, was später ebenfalls aufging in "Aldaris", die dann 2008 vom Carlsberg-Konzern übernommen wurde (Einzelheiten dazu sind leider momentan fast nur noch in den Notizen von Bieretiketten-Sammlern nachzulesen). Immerhin habe es Mitte der 1930iger Jahre in Lettland 30 verschiedene Brauereien gegeben, erinnert Kārlis Tomsons in einem Beitrag für das Portal "Laukos". Aber selbst diese offiziellen Zahlen zweifelt er an: er hält sie für höher.

Zu Sowjetzeiten - Bierbrauen verboten?

Viele alte lettische Bieretiketten
sind z.B. bei "Laikmetazimes"
zu sehen

Kein Bier im lettischen Hawaii? Weit gefehlt. 16 Brauereien machten nach dem Krieg in Sowjet-Lettland weiter, als Staatsbetriebe (wovon die Hälfte 1980 noch bestand). In den 50iger Jahren schlossen Werke in Lubāna, Madona, Vandzene, Aizpute und Bauska ihre Tore. Eine Brauerei in Rēzekne schloss sich mit Partnern in Daugavpils zusammen, und die Brauer in dem kleinen nordlettischen Naukšēni kooperierten schließlich mit Cēsis. In den 1970iger Jahren entstanden neue Vereinigungen: "Rigas alus", “Iļģuciems” und “Vārpa" (letztere auf dem Gelände der ehemaligen Brauerei "Livonija", hatte Bestand bis 2004); 1985 wurde "Aldaris" gegründet (indem "Aldaris", "Vārpa" und "Ilģuciems" vereinigt wurden), während es "Lāčplēsis"-Bier bereits seit 1958 gibt. (ausführlich: siehe Kārlis Tomsons / Laukos). Eine völlig neu eingerichtete Produktionsstätte präsentierte "Cēsu alus" im Mai 2000. Und seit 2015 ist das alte Aldaris-Gebäude in Riga als Biermuseum eröffnet, mit aus dem Jahr 1938 erhaltener Einrichtung. Übigens: sogar manche Kolchose hatte eigene Bierproduktion (siehe "Laikmetazimes") Soviel also zu der merkwürdigen Behauptung, "die Russen" hätten den Letten angeblich das Bierbrauen verboten (siehe ZDF).

Einige lettische Brauer würden mehr vom Marketing als vom Brauen verstehen, meint Gastbraumeister Matthias Saile. Sein lettischer Arbeitgeber jedenfalls arbeitet nicht nur mit einem deutschen Rezeptetüftler, sondern gleich mit zwei Unternehmens-Beteiligungsgesellschaften zu sammen: die "Industrieliegenschaftenvervaltungs AG (ILAG)" aus Österreich, und die erst 2012 gegründete "Thinkflink" (mit Adresse "Waldweg 21" am Starnberger See - anfangs war es mit "Alcor" eine zweite Firma aus Österreich). Offenbar wirklich eine gute deutsche Geldanlage.

Touristen staunen nicht mehr: sie wissen und genießen!

In der lettischen Tourismuswerbung finden wir den Hinweis, dass auch bei Valmiermuiža einheimische Handwerksmeister die Fässer bauen - aber wie wär's mit Hopfenanbau, mit gemälztem Getreide? Beim ebenfalls unter Lettinnen und Letten sehr beliebten "Užavas" heißt es: "ar latvju tautas rokām ražoto produktu" (ein mit den Händen des lettischen Volkes gefertigtes Produkt).
Andere nutzen regionale Produkte nicht nur in Form der Arbeitskräfte. Beispiele? Jeder zweite lettische Biertrinker wird "Tērvetes" empfehlen oder zumindest als gutes Bier bezeichnen - und kann im Vergleich zu anderen Bieren darauf vertrauen, dass diese Getränke mit einheimischen Ausgangsstoffen gebraut sind. Die Marke gibt es immerhin auch bereits seit 1971, entstanden aus einer Kolchosen-Produktion. Auch "Tērvetes" erzählt in seiner Firmengeschichte von "Erfahrungsaustausch mit Brauereien in Westdeutschland" - ohne sich allerdings in der Folge selbst zu Importempfängern zu machen. Drei eigene Mälz-Verfahren hat man entwickelt: hell, karamellisiert, und gebrannt - so die Selbstdarstellung. Seit 2016 wird bei "Tērvetes" auch Mineralwasser produziert, als zweites kommerzielles Standbein.

Auch bei "Brenguļu alus", betrieben von den Brüdern Juris un Māris Freivalds am Ufer des kleinen Flüsschens Abula, setzt man auf lettische Ausgangsstoffe - nur 12 km entfernt von der Konkurrenz der Arbeitsstätte von Matthias Saile bei "Valmiermuiža". Auch hier wird Tourismuswerbung betrieben - vor allem ein Biergarten. Muss doch auch irgendwie gehen: Deutsche Touristen in Lettland trinken Bier, lecker gebraut aus lettischen Produkten. Vielleicht sogar von lettischen Braumeister/innen. Bierliebhaber Tomsons zählt heute 45 Braustätten in Lettland, dazu noch 12 "Mini-Brauereien". Na dann: Uz veselību!

12. Juli 2017

Mensch weniger, Mensch woanders

Während die lettische Regierung lange Zeit zögerte offiziell zuzugeben, dass die Bevölkerungszahl Lettlands auf unter 2 Millionen gesunken ist, erregen inzwischen Jahr für Jahr die Zahlen von EUROSTAT Aufsehen. Aus der neuen Statistik ist zu entnehmen, dass die Einwohnerzahl Lettlands von 2,19 Millionen im Jahr 2008, über 2,0 Millionen im Jahr 2014 inzwischen bei 1,95 Millionen Menschen angekommen ist.

Diesen Zahlen zufolge liegt die Einwohnerzahl Lettlands heute also bei 88,9% derjenigen vor 10 Jahren. Zum Vergleich: auch in Litauen sind es mit 88,6% ähnliche Zahlen. Estland hat allerdings nur einen Rückgang auf 98,3% zu verkraften - hier macht sich vermutlich bemerkbar, dass ein Job in Finnland nicht unbedingt auswandern bedeuten muss.

In den deutschsprachigen Medien erregen diese Statistiken keine größere Aufmerksamkeit; in der Regel liegt der Fokus entweder nur auf dem eigenen Land, oder die Meldungen werden mit positiven Assoziationen belegt (z.B. "Wachstum in der EU", wie beim "Standard"). Deutschland "tröstet" sich auch mit einem Blick auf das "Baltikum", wenn es um Geburtenraten geht: "... wurden 2015 in Litauen 45 Prozent weniger Kinder geboren als noch 1990. Einen ähnlichen Einbruch erlebten auch Lettland und Estland, wo die jährliche Zahl der Neugeborenen zwischen 1990 und 2015 um 42 beziehungsweise 38 Prozent zurückging." (Tagesspiegel)

In Lettland gibt es nur wenige Pressekommentare. In den Diskussionsforen allerdings werden die meisten diese Nachricht wohl mit einem "traurig" markieren, denn der Bevölkerungsrückgang ist ja schon länger bekannt: als Ergebnis verstärkter Arbeitsmigration (Lohngefälle in Europa) und negativer Geburtenstatistik. Der öffentlich-rechtliche lettische Kanal LSM fasst es aus etwas längerfristiger Perspektive zusammen: seit 2010 sind es 170.000 Menschen weniger in Lettland (minus 8%). 113.000 davon wanderten in andere Länder aus, 57.000 kamen noch durch das negative Geburtensaldo hinzu.

Seit 1990 haben Lettland etwa 30% der Einwohner verlassen. Dazu kommt noch die Landflucht: nur in Riga stieg die Einwohnerzahl im vergangenen Jahr leicht: um 0,3%. In den anderen Regionen ist der Rückgang dramatischer: Vidzeme -2,1%, Kurzeme -1,9%, Zemgale -1,6%, Latgale 2,3%. Vjačeslavs Dombrovskis, früher mal Wirtschafts- und auch Bildungsminister, heute Chef der privaten Politikberatungsfirma "Certus", fällt jetzt, wo er das schwierige politische Geschäft hinter sich gelassen hat, gern mit einfachen Prognosezahlen auf: "Lettland wird bis 2025 90% des EU-Bruttosozialprodukts pro Einwohner erreichen" - so das Motto seiner Firma. Eine weitere Prognose aus seiner Feder: "Bis 2030 wird sich die Einwohnerzahl Lettlands auf 1,9 Millionen stabilisiert haben" (Diena / Delfi). Daran glauben wohl vor allem diejenigen ganz fest, die ordentlich daran mitverdienen wollen.