Demnächst mit "Rigenser-Pass" zum halben Preis? Riga positioniert sich fürs Euro-Einführungs- und Kulturhauptstadt-Jahr 2014. |
so soll ab 2014 das "Rigenser-Ticket" aussehen |
Nun sorgt Rigas Bürgermeister Nils Ušakovs mit seiner Vorausschau auf eine neue Fahrpreisstruktur für 2014 für Aufsehen. Und am 7.Oktober stimmte der Stadtrat bereits den beabsichtigten Änderungen zu. Die Idee ist - angelehnt an die Einführung ähnlicher Vergünstigungen in Tallinn, der Hauptstadt des nördlichen Nachbarstaates - Einwohnern von Riga die Nutzung des Nahverkehrs wesentlich attraktiver zu machen. Jeder, der seinen Wohnsitz in Riga angemeldet hat, soll in Zukunft nur noch die Hälfte des normalen Fahrpreises zahlen müssen. Hinter dieser publikumswirksamen Maßnahme versteckt sich eigentlich ein drastischer Preisanstieg: 1,20 Euro (denn der Euro wird zum 1.1.2014 in Lettland eingeführt) soll künftig der Einzelfahrschein kosten - für Rigenser aber wäre der Ticketpreis von 0,60 Euro eine Preissenkung (gegenüber 50Centimes, also umgerechnet 70Cent bisher). Um diesen günstigen Tarif zu erhalten, müssen die Bürger Rigas personalisierte E-Fahrscheine kaufen. Ab Mitte Oktober sollen hierfür Antragsformulare erhältlich sein. Bis zum 31.Dezember soll das Ausstellen dieser persönlichen Ausweise kostenfrei gehalten werden. Ermäßigungen für Schüler und Studenten bleiben, wie bisher, ohne Berücksichtigung des Wohnorts erhalten.
Wer ist hier fortschrittlich?
Der lettische Ex-Präsident Valdis Zatlers, wegen eigener Gesundheitsprobleme eigentlich eher auf dem Rückzug aus der Politik, war einer der ersten der die Ušakov-Vorschläge öffentlich drastisch kommentierte als "typisches Denken von Okkupanten". Er spielt damit sicher auf die ethnische Herkunft des gebürtigen Russen Ušakovs an, und Zatlers Vergleiche mit unterschiedlichen Eintrittspreisen für Museen in Moskau liegen auch nicht allzu dicht am Thema - sie zeigen aber, wie hitzig die Diskussion ist. Schon oft wurde von konservativer Seite, neidisch auf die zunehmende Popularität des seit 2009 im Amt befindlichen Ušakovs blickend, dessen Wahlerfolge auf populistische Maßnahmen zurückgeführt, allen möglichen Interessengruppen dort kostenlos etwas anzubieten, wo Steuergelder die Kosten decken (siehe auch hier im Blog: "Schnee macht Arbeit"). 2013 kamen 63 Millionen Lat Finanzuschuß für die städtischen Verkehrsbetriebe (RigasSatiksme) vom Rigaer Stadtrat.
Piedodiet, jaunkundze - sind Sie Rigenserin? Vielleicht eine oft gestellte Frage, demnächst in den Bussen und Straßenbahnen Rigas. |
Aus Resultaten der kürzlichen Volkszählung sei zu schließen, dass etwa 127.000 Menschen zwar in Riga arbeiten, aber bisher nicht ihren Wohnsitz in der Hauptstadt deklariert hätten - würden nur 10% davon das z.B. wegen der Fahrpreisvergünstigungen nun nachholen, dann wäre es für die Stadt unter dem Strich ein Gewinn an Steuereinnahmen. Wer es sich leisten kann, wohnt bereits jetzt im Umkreis von Riga und zahle dort Steuern - daher sei es nur logisch, mit diesen Gemeinden jetzt Kooperationsabkommen zu schließen.
Riga und Sigulda - wie Hase und Igel?
Zwei Wortmeldungen anderer Bürgermeister, nämlich derjenigen von Bauska und von Cēsis - beides keine Parteifreunde von Ušakovs - sind inzwischen in der Presse nachzulesen (delfi). Beide weisen auf die Hauptstadtfunktion Rigas hin, die es unerlässlich mache dass alle Einwohner Lettlands die Stadt regelmäßig aufsuchen. Pressekommentare sprechen von "neuen Klasseneinteilungen": die Hauptstadt mausere sich ungerechtfertigt als "Staat im Staate". Raimonds Čudars, Ratsvorsitzender der Gemeinde Salaspils, schlägt vor die Nachbargemeinden Rigas sollten zu Anteilseignern an den Rigaer Nahverkehrsbetrieben werden. Sarmīte Ēlerte, als Bürgermeisterkandidatin der Fraktion "Vienotība" bei den Kommunalwahlen gescheitert, befürchtet eine "Atmosphäre wie im Mittelalter" ("wie damals mit Zöllen und Einreisebeschränkungen") als Folge der Fahrpreisdifferenzierungen.
Dagegen nahm Ušakovs mit dem Amtskollegen der 50km entfernte Stadt Sigulda inzwischen Gespräche über mögliche gegenseitige Vergünstigungen für Bürger beider Städte auf (siehe riga.lv). In Sigulda bietet eine Ermäßigungskarte bereits vielfache Preisnachlässe an - so war die Einigung mit Ušakovs vom 9.Oktober nicht überraschend.
Wird es ein allgemeiner Trend in Lettland werden? Die Nachteile der Landgemeinden sind offensichtlich: sollen die Städter nun Eintritt in die (von den auf dem Land lebenden erhaltene) Natur bezahlen? Vielleicht sollte auch der Städter mit Jagd- oder Fischereierlaubnis das Doppelte für sein Wildschwein oder seinen Angelerfolg zahlen? Ideen in diese Richtung gäbe es viele, die totale Kommerzialisierung des täglichen Lebens würde sich fortsetzen. Kārlis Bružuks, Ratsvorsitzender im Bezirk Garkalne, brachte bereits die Idee einer "Pilzesteuer" für Rigenser ins Gespräch - wohl wissend, dass seine Gemeinde nordwestlich Riga an einer Schnellstraße liegt, was viele Autofahrer zu einem Halt mit angeschlossener Pilzsuche verführt. Bružuks sieht die Rigaer Nahverkehrspläne ausserdem im Widerspruch zur Parteienübergreifend geäusserten Absicht, die Euroeinführung nicht für Preissteigerungen zu nutzen. "Für die Rigenser gilt das dann - für alle anderen aber nicht!"
Beleidigung für Leute vom Lande?
Oder werden sich die lettischen "Besucher" Rigas mit der Versicherung des frisch wiedergewählten Bürgermeisters zufriedenstellen lassen, dass weiterhin kostenloser Transport für alle zu Neujahr, Mitsommer, Neujahr und zum Sängerfest gewährleistet ist? Befragt nach weiteren Plänen äußert Ušakovs Zweifel daran, dass die bloße Einführung von "Park+Ride"-Möglichkeiten eine Umstrukturierung der Fahrpreise überflüssig mache. Als nächsten Schritt kündigt er den Übergang vom Einzelfahrschein (pro Fahrt, ohne Umsteigen) auf ein Zeitfahrbillet und die Schaffung von Sonderspuren für Bus und Bahn an. Die Einführung von völlig kostenlosem Nahverkehr für die Rigenser sei dann möglich, wenn es genügend Neuanmeldungen für einen Wohnsitz in Riga - und damit Steuerzahlungen - gäbe.
Derweil werden auf dem Portal "ManaBalss" (Meine Stimme) Unterschriften gegen ungleiche Fahrpreise in Riga gesammelt. Als Ziel werden 10.000 Unterstützer angepeilt, gegenwärtig sind es 2450 (Stand 10.10.).
Die Tageszeitung "Diena" sammelte Kommentare zur Neuregelung, die auf "Twitter" zu finden waren. Hier einige Stilblüten: "Schlage vor, jeder Nicht-Rigenser muss ab sofort eine Kartoffel um den Hals tragen!"; "Erst kostenlosen Nahverkehr versprechen, dann die Preise um das Doppelte erhöhen - super Job!"; "Schlage vor, wer billigen Strom will muss nach Ķegums ziehen" (an das Daugavastauwerk); "Wer in Riga keinen Wohnsitz hat, könnte sich ja noch als Fahrkartenkontrolleur bewerben!"; "Leute, wenn ihr gegen ungerechte Fahrpreise demonstrieren wollt: nutzt das Fahrrad!".
Gründe für die emotionale Heftigkeit der Diskussion sucht auch Kristīne Jarinovska, Juristin spezialisiert auf Europarecht, für die Zeitschrift "IR": Wo der Stadtrat Riga das System der Wohnsitzdeklarierung dazu nutzen will, um bisher als allgemein gültig geltende Grundrechte auszuhebeln, da sei das als Herausforderung an die lettische Regierung zu verstehen. Paragraph 97 der lettischen Verfassung garantiere die freie Wahl des Wohnsitzes - daher sei es juristisch absehbar, dass eine ungleiche Behandlung, abhängig vom Wohnsitz, der Verfassung widerspreche. Außerdem sei eine anhaltende und umfangreiche Sammlung persönlicher Daten, die nicht direkt zum Betrieb des Nahverkehrs notwendig seien, ebenfalls rechtswidrig.
Eine spannende Diskussion. Vielleicht dauert es nicht lange, bis noch weitere Verantwortliche in europäischen Großstädten auf ähnliche Ideen kommen und sicher aus den Erfahrungen in Riga lernen wollen.