3. Oktober 2013

Baltische Einheit?

Am 22.September wird in Lettland der Tag der "baltischen Einheit" begangen. Nun ja, nicht von allen, und nicht als staatlicher Feiertag, aber immerhin: in diesem Jahr fand eine zentrale Feier im litauischen Šiauliai statt, unter Anwesenheit einiger politischer Prominenz beider Länder. Normalerweise fällt es ja schon schwer, eine Berechtigung zu finden für den Begriff "Baltikum" -  denn jeder, der anderen schon einmal versucht zu erläutern was Estland, Lettland oder Litauen wirklich ausmacht, wird das "Baltikum" wieder zerlegen müssen.
Aber "baltische Einheit"? Warum gerade an diesem Tage?

Auch um die litauisch-lettischen Kontakte kümmert
sich inzwischen ein eigenes EU-Förderprogramm:
rötlich markiert sind hier die mit Fördergeldern 
gesegneten Gebiete (siehe auch: www.latlit.eu)
Die eine, siegreiche Schlacht ...
Nun kann man darüber streiten, ob die Schlacht des Schwertbrüderordens gegen die vereinigten Semgalen und Litauer/Žemaiten wirklich am 22.September 1236 stattgefunden hat (das Jahr ist unumstritten, der Monat vielleicht auch - aber der exakte Tag?). Auch der Ort dieses Geschehens ist - soviel ich darüber gehört habe - eher unklar. Die in einigen Annalen "Schlacht bei Saule" genannte Auseinandersetzung hat jedenfalls wirklich stattgefunden und hatte die Begrenzung der Macht des in Riga gegründeten Schwertbrüderordens zur Folge. "Unsere Stärke ist unsere gemeinsame baltische Identität,"- das verkündete der lettische Botschafter in Litauen, Mārtiņš Virsis, zur Eröffnung des "Tags der baltischen Einheit" am 21.September in Šiauliai / Litauen. Seit dem Jahr 2000, als die Parlamente beider Länder diesen Tag offiziell zum beiderseitigen Feiern ausriefen, bemühen sich beide Seiten sich als "eng verbundene Nachbarn" darzustellen.

Alles für's gestärkte Selbstbewußtsein!
Festzuhalten bleibt also schon einmal, dass weder Letten noch Litauer die Esten einbeziehen wollen und können, wenn es um "baltisches" geht. Soweit dürften die Esten - die sich eher ihre Zugehörigkeit zur finn-ugrische Sprachgruppe und ihren Wunsch der Zugehörigkeit zur "nordischen Mentalität" beziehen, einverstanden sein. Was aber "baltische Identität" ist, da sind wohl auch Letten und Litauer noch auf der Suche. 777 Jahre sind also seit dieser Schlacht vergangen - aber auch damals waren ja nicht "Letten und Litauer" vereint auf der einen Seite der Kriegspartei, sondern lediglich "Semgaller und  Žemaiten".

Wer nicht mit den Politikern feiern möchte, kann dies auch im Rahmen eines Musikfestivals tun: "Baltijas Saule" versammelt Folkloregruppen in Leinenkleidern mit dem schwarzen Leder der Metall-Fans. Hier wird dann nachmittags auch ein wenig die Schlacht von 1236 nachgespielt, allerdings ohne Beschränkung auf Litauer und Zemgaller - sogar Esten und Deutsche sind dann anzutreffen.

Wenn auch in solchen Liedtexten gern von heroischen Zeiten gesungen wird, die historische Situation des Jahres 1236 gibt es eigentlich nicht her. Aber als Lette versetzt man sich angesichts der nach eigener Einschätzung eher ruhmlosen Gegenwart offenbar gern in scheinbar urspüngliches Volkstum hinein, das frei und stolz nach außen vertreten und verteidigt wurde. Aber warum einigten sich denn zum Beispiel die Liven recht schnell mit den fremden Burgenerbauern? Weil sie Schutz vor "Litauerüberfällen" versprachen - das läßt sich in der "Livländischen Chronik" nachlesen. Gut, wenn also nur die Zemgaller - die sich mit den Litauern verbündet hatten - damals siegten: als "erster Sieg über die Kreuzritter" wird es heute gerne genommen.
"Die Erinnerung an dieses Ereignis zeigt uns gleichzeitig, dass unser Volk nicht nur aus Feiglingen und Sklaven bestand", meint Guntis Kalme in einem Kommentar für delfi.lv und zählt gleichzeitig drei weitere Schlachten jener Zeit auf (1260, 1279 und 1287), die zu kurzfristigen Siegen damaliger baltischer Stämme führten. Kalme, Autor eines Buches mit dem Titel "Gedanken eines Priesters über die Geschichte seines Volkes", schreibt weiter: "Unser Selbstverständnis beginnt nicht bei Dainas, der Kokle und den Volkstrachten, sondern auch bei Mut und bei Siegen". Allerdings hätten auch die Sieger von 1236 nicht vollendet, was sie begonnen hatten - meint Kalme - sie hätten versäumt damals die "deutschen Eindringlinge" ganz rauszuwerfen und sich zu einem eigenen Staat zu vereinen. Da blicken die Letten dann wieder neidisch auf die Litauer, die ihre ruhmreiche Ahnenreihe ja in Mindaugas, Gedeminas, Vytautas und anderen verwirklicht sehen können.

Jensseits vom Basketball ...
Andere lettische Kommentatoren beklagen aber auch, dass es lettisch-litauische Gemeinsamkeiten im heutigen Alltag so gut wie gar nicht gibt. Gerne wird gestritten über die Unterschiede in der Landwirtschaftspolitik, die dazu führen, dass litauische Bauern ihre Erzeugnisse auf lettischen Märkten verkaufen (was aus lettischer Sicht eine stärkere Förderung durch die litauische Politik bedeutet). Nur ungern werden auch die vielen Maxima-Märkte geduldet, die sich in litauischem Besitz befinden (es soll Letten geben, die nur bei "Rimi" einkaufen, und Litauer nur bei "Maxima").
Ein anderes Beispiel ist die Verkehrspolitik: der Streit darum, ob es wieder nach gemeinsamem Konzept ausgebaute Bahnstrecken geben kann, ist fast so alt wie die wiedererrungene Unabhängigkeit.

Ein lettisch-deutsches Element dieser Thematik ist ja, dass die Kreuzritter auf lettischer Seite immer so dargestellt werden, als ob sie "aus Deutschland" gekommen seien. Mit dem Thronstreit zwischen Staufern und Welfen und mit den Interessenlagen von Sachsen, Schwaben oder Westfalen beschäftigen sich Letten dabei eher selten.
Also, was kann heute "baltische Einheit" für diejenigen bedeuteten, die nicht Letten oder Litauer sind? Es ist nicht so leicht mit den "Nationen", auch bei scheinbar großen Siegen gab es immer diejenigen auf der einen Seite und die auf der anderen - und sie ähneln einander sehr. Aber wenn sich einige in Lettland am 22.September auf einen der ehemals von einer hölzernen Burg gekrönten Hügel (lett. "pilskalni") zurückziehen mögen und ein paar romantische Momente am Lagerfeuerchen erleben wollen - dann sei es ihnen gegönnt.

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