16. September 2018

Baiba grollt

Für einen kurzen Moment drangen kürzlich Details lettischer Innenpolitik an die internationale Öffentlichkeit: erstaunlicherweise auf den Sportseiten. Die Internationale Biathlon-Union (IBU), die sich auch gern "die Biathlon-Familie" nennt, suchte eine/n neue/n Vorsitzende/n. Da gleichzeitig die Frage, wie in Zukunft gegen Doping vorgegangen werden soll, und die eventuelle Wiederzulassung Russlands im Raum standen, erwuchs der Wahlprozess zum tagelangen Thema der Sportberichterstattung.

Vielleicht ist es logisch, dass in einem Verband, wo der Vorsitzende wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten musste, auch bei der Neuwahl nicht alles glatt gehen kann. Ungewöhnlich vielleicht auch, dass es neben Olle Dahlin, der zuvor jahrelang schon im alten Vorstand tätig war, nur noch eine weitere Kandidatin gab: die Lettin Baiba Broka. So kam vor allem sie in das Schlaglicht der Presseberichterstattung.

Die Kandidatin

Geboren 1975 in Madona im Osten Lettlands, war die studierte Juristin Baiba Broka eigentlich schon öfters Kandidatin: 2009 für einen Sitz im Europaparlament, 2013 und 2017 als Bürgermeisterin von Riga. 2014 trat sie vom Amt der lettischen Justizministerin zurück, weil weder das Verfassungsschutz-büro (Satversmes aizsardzības birojs SAB) noch die lettische Sicherheitspolizei (Drošības policija DP) ihr die Erlaubnis zur Einsicht in geheime Staatssachen erteilen wollten - unabhängig von ihrer politischen Arbeit, wie es hieß. Aus denselben Gründen musste sie ihr Vorstandsamt beim lettischen Luftfahrtverband ("Latvijas gaisa satiksme" LGS) aufgeben.

doppelte Baiba: beim Namen
Baiba Broka gilt es, genau
hinzusehen: diese nette
junge Dame ist Theater-
schauspielerin
"Nur Baiba kann man es nicht erzählen?" Es erscheint unwahrscheinlich. Aber von Brokas Ankündigung, wegen dieser Vorgänge den Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anrufen zu wollen, ist seitdem auch nichts mehr zu hören gewesen. Nur wenige Wochen vor ihrem Rücktritt war Baiba Broka zur Präsidentin des lettischen Biathlonverbands gewählt worden. Von einer Kandidatur zu den im Herbst 2014 stattfindenden Parlamentswahlen nahm Broka damals Abstand. Aber die existierenden Regelungen in Lettland sehen nun mal nicht vor, dass SAB und DP ihre Entscheidungen öffentlich begründen müssen. - Die gegenwärtige Diskussion in Deutschland zeigt ja den umgekehrten Fall: hier geraten gerade die Begründungen für das Vorgehen eines Verfassungsschutzpräsidenten in den Fokus der Öffentlichkeit. (siehe Die Zeit u.a.)

Im März 2014 hatte es schon einen weiteren Minister der "Nationalen Vereinigung" (VL-TB/LNNK) erwischt: Umweltminister Einārs Cilinskis hatte darauf bestanden am Gedenkmarsch für die lettischen SS-Verbände am 16. März teilnehmen zu müssen - während die damalige Regierungschefin Straujuma vorher klar angekündigt hatte: mit mir nicht! Wer teilnimmt, muss gehen. Auch Broka hatte 2013 an diesem Marsch teilgenommen - ward 2014 dort aber nicht mehr gesehen.

Seitdem saß Broka bei der IBU vier Jahre lang im Rechtsausschuss des Verbandes.Die Wahl zur IBU-Vorsitzenden verlor sie mit 12:39 Stimmen klar.

Russland: "best enemy" oder "best friend"?

Nun grollt Baiba Broka. "Diese Wahl war eine der schmutzigsten Kampagnen die es im Sport je gegeben hat!" behauptet die Möchtegern-Präsidentin. "Mich hat sogar ein Journalist aus Deutschland angerufen und befragt," berichtet Armands Puče, Fernsehmoderator bei "Delfi-TV" (12.9.18). "Ich habe natürlich nicht geantwortet. Ich bin Lette, ich bin für unsere," betont der angeblich Bedrängte. 

"Baiba Broka gilt als Russland-freundlich", hatte auch ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt behauptet, und das Wahlergebnis als "Klatsche für die von Russland stark protegierte Kandidatin" bezeichnet. Ein Blick in die deutschsprachige Presse bringt einen erstaunlichen Mix an Themen zu Tage: "Broka muss sich mit Vorwürfen auseinandersetzen, die ihren angeblichen nationalistischen politischen Hintergrund und ihre angebliche Russland-Freundlichkeit angehen," notiert Claus Dieterle in einem Kommentar für die FAZ. Thomas Kistner bezeichnete Broka im Deutschlandfunk als "obskure Quereinsteigerin". Und die Süddeutsche Zeitung berichtet, wie auch einige andere deutsche Medien, Broka's Partei verteidige die SS-Gedenkmärsche in Riga. Die norwegische Presse zitierte den deutschen Biathlon-Erfolgstrainer Wolfgang Pichler mit den Worten: "Es macht mich traurig, dass sie einer rechtradikalen Organisation angehört die sich mit billigem Populismus auf der Grundlage 'Lettland den Letten' profiliert."

der neue IBU-Vorstand ohne Baiba: die lettische Kandidatin fiel durch

Unwählbar - mit wechselnder Begründung 

 

"Charmant, aber letztlich zu unerfahren", urteilte die "Sportschau". "Broka vertraute auf ihren Charme und referierte emotional ihre Herkunft und ihre Liebe zum Sport."
Was haben wir da also erlebt? Auch im Rückblick erscheint das Geschehen reichlich unsortiert: SS-Gedenkmärsche, und gleichzeitig "Russland-freundlich"? Auch das ZDF (Nils Kaben) bezeichnete Broka's Partei als "rechtpopulistisch". "Präsidentschaftskandidatin" Broka kam im ZDF auch selbst mit einem Statement zu Wort, Kaben bilanziert aber: "die Lettin Baiba Broka war durch sehr zweifelhafte rechtspopulistische Statements auch für die Deutschen unwählbar geworden." (ZDF 9.9.18)

Schaut man in die lettischen Medien ist zuerst auffällig, dass dort nirgendwo von der Kritik an den SS-Aufmärschen die Rede ist - die "schmutzige Kampagne" (Broka) wird ganz aufs für oder gegen Russland fokussiert. Allerdings ist aus lettischer Sicht genauso klar: Broka eine angebliche Unterstützung Russlands zu unterstellen, nützt am meisten ... Russland. Dieser Teil der verschiedenen Interessenlagen scheint schon mal gut gelungen zu sein - fast alle Westmedien haben es übernommen, ohne mehr als Gerüchte erwähnen zu können. Broka ist zurück in der lettischen Innenpolitik, und hier schadet ihr ein Vorwurf der "Kumpanei mit Russland" wesentlich mehr als das Thema "SS-Aufmärsche".

In vier Jahren könne sie ja nochmals kandidieren, signalisierte Broka gegenüber der lettischen Presse (NRA). Schon bei ihrer Kandidatur zum Rigaer Bürgermeisteramt wurden ihre Qualitäten als Juristin gelobt, aber fehlende Erfahrung bemängelt (diena). Manche hatten Broka 2013 auch noch mit einer beliebten Theaterschauspielerin gleichen Namens verwechselt. Bei der IBU wird 2022, in Riga 2021 wieder gewählt - mal sehen, ob und in welcher Rolle wir die sportliche Baiba dann wiedersehen.

6. September 2018

Weltliches, allzu weltliches

Schock für die Katholische Kirche Lettlands, kurz vor dem Papstbesuch: am 29. August wurden in Riga und Rēzekne drei Männer verhaftet. Sie sollen 60, 63 und 73 Jahre alt sein, darunter ein Geistlicher. Gleichzeitig fanden Hausdurchsuchungen statt, bei denen Daten von Videos und Fotos sichergestellt wurden. Der Vorwurf: Menschenhandel und sexuelle Gewaltanwendung durch Ausnutzung des Zustandes der Betroffenen. Als Opfer werden geistig Behinderte vermutet. Der Zugriff erfolgte durch eine Spezialabteilung der Polizei zur Bekämpfung organisierten Verbrechens (Organizētās noziedzības apkarošanas pārvaldes ONAP).

Der älteste der Festgenommenen ist ein katholischer Priester: Pāvels Zeiļa. Dieser ist zuständig für die Gemeinden im Regionalzentrum Rēzekne sowie Dukstigala und Prezma, kleinere Gemeindekirchen südlich davon. Zeiļa ist auch Vorsitzender des Vikariats der Marianer, einer römisch-katholischen Ordensgemeinschaft. Die Stadt Rēzekne verlieh Zeiļa 2005 sogar den Status eines Ehrenbürgers.


In einer Pressemitteilung gab die Katholische Kirche Lettlands bekannt, sie vertraue auf die Arbeit der Polizei und gehe selbstverständlich zunächst von der Unschuldvermutung aus, solange nicht ein Gericht anderes feststellen würde. Dainis Kašs, Vikar in Rēzekne und damit Kollege des Inhaftierten, zeigte sich gegenüber dem lettischen Fernsehen schockiert: "Ich kenne Probst Zeiļa schon 30 Jahre, immer nur im Guten. Nie etwas Unkorrektes, ich könnte mir das im Leben nicht vorstellen!" (lsm)

Das Besuchsprogramm von Papst Franziskus sieht vor, dass er nach seiner Ankunft am 22.September zunächst Vilnius und Kaunas in Litauen besucht, und am 24. September in Lettland erwartet wird. Per Helikopter soll er in Aglona einfliegen, 55km südlich von Rēzekne. Aglona gilt als Pilgerstätte der katholischen Kirche in Lettland.

5. September 2018

Lettische Demokratie - Klub der Hahnenkämpfe?

Eigentlich kann es niemanden überraschen: zwar gilt Lettland als ein Land, in dem (statistisch) verhältnismäßig viele Frauen in Leitungs- und Führungspositionen arbeiten, im Staatsapperat wie auch in der privaten Wirtschaft. Sei es wie es sei - in der Politik drängen offenbar nur die Männer nach vorn. Als am 3.September der online-Kanal "Delfi" alle diejenigen eingeladen hatte, die gerne nach den Wahlen am 6.Oktober lettischer Regierungschef werden wollen, da ergab sich eine reine Männerrunde: acht plus Moderator.

Die Rolle, die Vjačeslavs, Māris, Aldis, Roberts, Krišjānis, Artis, Jānis und Edvards jeweils für ihre Parteien spielen, werden in Lettland "Lokomotiven" genannt - auch weil nach einem früher geltenden Wahlgesetz die Spitzenleute überall gleichzeitig antreten konnten (inzwischen hat jeder nur seinen Wahlkreis). Eingeladen zu dieser Runde waren alle, deren Parteien gemäß aktuellen Umfragen mehr als 2,5% Wählerstimmen auf sich vereinigen können.

Eine gewissen Einseitigkeit ist auch abgesehen von der männlichen Dominanz festzustellen: sechs sind Ökonomen oder Juristen, aber  ausgerechnet einer der beiden anderen war schon Wirtschaftsminister. Ebenfalls sechs haben schon mehrfach die Partei gewechselt - ausnahmslos alle waren schon einmal mit mindestens einem der anderen Kandidaten früher in einer gemeinsamen Partei. Nur einer - und das ist ausgerechnet der amtierende Ministerpräsident - hat Berufsausbildung oder Studium noch zu Sowjetzeiten absolviert, vier der anderen haben Uniabschlüsse im Ausland.

Da passt ein aktueller Beitrag in der "Frankfurter Rundschau" sehr gut. Ein "widersprüchliches Verhältnis" zur Frauenemanzipation diagnostiziert Philologin Ausma Cimdina sogar ihren lettischen Geschlechtsgenossinnen.Auf den Kandidat/innen-Listen finden sich für die kommende Wahl 31,8% Frauen. Aber vielleicht eignen sich einfach lettische Politikerinnen nicht so sehr für die Schaukämpfe und Eifersüchteleien des Wahlkampfs; Frauen in lettischen Spitzenämtern der Politik gab es nie schon im ersten Anlauf. 1999 brauchte Vaira Vīķe-Freiberga sieben Wahlgänge um als Präsidentin gewählt zu werden, und setze sich dabei gegen fünf männliche und zwei weitere weibliche Kandidat/innen durch. Die Wiederwahl 2003 ging dann glatt.

Und auch Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma kam eher aus der dritten Reihe. Als studierte Physikerin und Mathematikerin haben manche sie auch schon mit Angela Merkel verglichen, jedenfalls der wissenschaftlichen Prägung nach. Nachdem Ministerpräsident Valdis Dombrovskis 2014 plötzlich zurückgetreten war (Folgen des Einsturzes eines Supermarkts), traute Präsident Andris Bērziņš offenbar nur ihr - zu diesem Zeitpunkt Ministerin für Landwirtschaft - die Bildung einer mehrheitsfähigen Regierung zu.

Als eine, die immer gerne in die erste Reihe wollte, galt Solvita Āboltiņa. Dass sie zwei Jahre Justizministerin und dann Parlamentsvorsitzende war, galt immer nur als Stufe auf der Karriereleiter. Vielen galt sie geradezu als Sinnbild für öffentlich ausgetragene Rangkämpfe, auch weil nach lettischem Wahlrecht jede/r Wähler/in, der seine Stimme einer Parteiliste gibt, den Kandidat/innen zusätzlich noch plus und minus verteilen kann. 2014 wurde Āboltiņa wegen der Vielzahl von Minusstimmen 2014 nichts wieder ins Parlament gewählt - 27% aller Wähler/innen ihrer Liste vermerkten sie negativ. Dann verzog der vor ihr liegende Konkurrent plötzlich ins Ausland, und Solvita schnappte sich den Parlamentssitz doch. Spätestens ab diesem Moment trauten ihr die meisten alles zu: Kommissarin bei der EU in Brüssel, oder gar eine Kandidatur als Präsidentin. Āboltiņa galt als stark involviert, als Laimdota Straujuma 2016 zurücktrat und ihre Partei sich nicht über die Nachfolge einigen konnte. Am Ende stand der Parteiausschluß. 2017 legte sie ihr Mandat nieder und kehrte zurück in den diplomatischen Dienst, wo sie schon vor 2002 gearbeitet hatte. Seit einigen Wochen ist Solvita Āboltiņa nun lettische Botschafterin in Rom.

Also warten wir doch mal ruhig ab. So wenig wie zu erwarten ist, dass eine der 16 Parteien die absolute Mehrheit erringen wird, so wenig wahrscheinlich ist eine Regierungsbildung ohne komplizierte Koalitionsgespräche. Vielleicht heißt es dann hinterher: die Herren wollten gerne unter sich bleiben, aber dann kam es ganz anders.