29. Mai 2011

Wer regiert Lettland?

Eigentlich sollte in diesen Tagen in Lettland ein Präsident gewählt werden. Die Amtszeit von Valdis Zatlers, ehemals Chefarzt und seit 2007 als lettischer Präsident im Amt, war abgelaufen. Am 2.Juni war die erweiterte Sondersitzung des Parlaments zur Wahl eines Präsidenten bisher angesetzt. Bekannt geworden waren bisher die Kandidatur Zatlers selbst (eine 2.Amtszeit wäre zulässig), und Andris Bērziņš (Achtung Verwechslungsgefahr! Es gibt drei Menschen dieses Namens im lettischen Parlament, gemeint ist hier ein Mitglied der Liste der Bauern und Grünen und Ex-Chef der ehemaligen Unibanka).
Zum dritten Mal während seiner Amtszeit wandte sich Zatlers mit einer Rede an das lettische Volk und empfiehl kurzerhand die Auflösung des Parlaments.Noch am Abend der Rede (28.5.) versammelten sich mehrere Hundert Menschen vor dem Rigaer Schloß um der Entscheidung des Präsidenten ihre Unterstützung zu bekunden. Was ist geschehen?


Nun denkt kaum noch jemand an die Präsidenten-Wahl - die eigentlich dennoch sehr bald stattfinden müsste. Im Juli muss eine Volksabstimmung über Zatlers Vorschlag der Parlamentsauflösung abstimmen, ein Termin für Neuwahlen wird bereits für September vermutet.

Was war geschehen? Am vergangenen Donnerstag hatte das lettischen Parlament einen Vorschlag mit Stimmenmehrheit abgelehnt, dem Anti-Korruptionsbüro (KNAB) eine Durchsuchung der Privaträume von Ainārs Šlesers, einem der reichen und einflussreichen Finanziers lettischer Parteien, mehrfacher Ex-Minister und Ex-stellvertretender Bürgermeister von Riga, zu erlauben. Die Parteigruppierung, der Šlesers angehört ("Par Labu Latviju" PLL - für ein gutes Lettland) hatte bei den Parlamentswahlen eine empfindliche Niederlage erlitten, und Šlesers selbst landete statt in seinem Traumjob als Regierungschef als einfacher Abgeordneter in der Opposition. Nicht nur das Stichwort "Jurmalagate", sondern auch einige andere vergangene politische Korruptionsskandale werden mit dem Namen Šlesers verbunden. - Dennoch zeigte die Abstimmung vom Donnerstag offenbar, wie eng doch ein gewisser "Korpsgeist" unter denjenigen waltet, die offenbar denken: "wenn es den trifft, könnte es mich auch treffen." Nur 35 von 100 Abgeordneten unterstützten die Untersuchung des Anti-Korruptionsbüros (29 der anwesenden Vertreter der "Vienotiba" / Einheit, plus 6 Mitglieder von "Alles für Lettland / "für Vaterland und Freiheit"). Entscheidend für das Ergebnis war, dass 37 der Volksvertreter sich der Stimme enthielten (alle Mitglieder von "Saskaņas centrs" / "Harmoniezentrum" sowie einzelne der PLL und der Liste der Bauern und Grünen). Der Abgeordnete Šlesers selbst war bei der Abstimmung nicht anwesend.
Zatlers bezeichnete diesen Vorgang in seiner gestrigen Rede als "ernster Konflikt zwischen Gesetzgeber und Recht - zwei von drei Säulen auf denen unser Staat gebaut ist". Es sei nicht hinzunehmen, dass die schweren Folgen der Wirtschaftskrise nur auf den Schultern der armen Leute ausgetragen würden - einige Einflussreiche ihre Sonderstellung aber sogar dazu nutzten, um Parlamentsentscheidungen zu beeinflussen.

Hatten viele bei den Protestdemonstrationen der vergangenen Jahre noch eine Verfassungsänderung zur Ermöglichung der Parlamentsauflösung per Volksabstimmung gefordert - nun wird eben diese Möglichkeit den Bürgerinnen und Bürgern Lettlands vom Noch-Präsidenten geschenkt. Zur Auflösung des Parlaments reicht eine einfache Mehrheit der an der Volksabstimmung Teilnehmenden. Zatlers war es wohl leid, dass viele nicht müde wurden darauf hinzuweisen, auch seine (Zatlers) Wahl sei 2007 einem "Geheimtreffen" verschiedener Parteienvertreter im Rigaer Zoo zuzuschreiben gewesen. Entweder ist es ein Geschenk als Abschied vom Amt (die Reaktion der Parteibosse in Bezug auf die weitere Unterstützung des Präsidentschaftskandidaten Zatlers ist vorerst unklar), oder gleichzeitig ein später Einzug ins Pantheon des lettischen Volkes.

28. Mai 2011

Langstreckenlauf des Hoffnungsträgers

Rigas Bürgermeister Nils Ušakovs, wenige Tage vor dem Unglücks-
fall: lässig, volksnah, selbstbewusst, fließend mehrsprachig -
war der Arbeitsstress doch nur geschickt verdeckt? (Foto: Caspari)
Seine Partei hat nach wie vor heftige Gegner und engagierte Unterstützer, aber er selbst hatte es längst geschafft, der beliebteste Bürgermeister Rigas seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit zu werden. Dies meldeten jedenfalls lettische Medien aller politischer Richtungen. Am vergangenen Sonntag brach Nils Ušakovs als Teilnehmer des "Riga-Marathon" (in diesem Fall der Halbstreckendistanz) kurz vor dem Zieleinlauf bewußtslos zusammen. Inzwischen wird er in einer Berliner Spezialklinik weiterbehandelt - als Ursachen werden neben einem vermutlichen Hitzschlag auch Vergiftungserscheinungen genannt. 

Jahr für Jahr mehr "Volksfest" und Teilnehmer/innen aller
Altersklassen - froh gestimmt auch noch nach dem Lauf,
so das bisher gewohnte Bild am lettischen Marathon-Maisonntag.
Politisch absolviert Ušakovs schon länger seinen ganz persönlichen Langstreckenlauf. Jedes Jahr im Mai wird das besonders offensichtlich. Am Vortag zum 1.Mai der "Talka-Tag" (Freiwilliger Einsatz, meist zum Saubermachen in Stadt, Land oder Natur), dann folgen der 1.Mai (eigentlich Tag der Arbeit, diesmal Startschuss für den Wegfall der Arbeitsmarktbeschränkungen für Letten in Deutschland), der 4.Mai (Tag der Verkündigung der lettischen Unabhängigkeit 1990), der 8.Mai (In Westeuropa als Kriegsende gefeiert - Lettland ehrt an diesem Tag seine insgesamt im Krieg Gefallenen, Europatag, zudem wie in diesem Jahr auch noch "Muttertag"). Dann der 9.Mai - für Letten die Fortführung des zwangsweisen Abfeierns sowjetsozialistischer Heldentaten unter konsequentem Verschweigen der gleichzeitig begangenen Verbrechen, für lettische Russen inzwischen nahezu der einzige Tag des Jahres, sich unter seinesgleichen frei von Etikette, political correctness oder lettisierten Regelungen mal ganz als Russe zu benehmen (im positiv gemeinten Sinne - aber durchaus auch unter Verwendung provozierend gemeinter Symbole der Sowjetzeit). Ušakovs war überall dabei - und dazu kommen natürlich die üblichen Termine, von der Eröffnung von Jugendzentren bis hin zu Ausstellungseröffnungen und Terminen mit ausländischen Delegationen.

Der Riga-Marathon - hier ein Foto aus dem Jahr 2009 - bisher
immer ein Ereignis zwischen Sport, Karneval und
Familienfest - diesmal mit anderen Schlagzeilen
Dazu kommen noch Ušakovs' ganz persönliche "Projekte", die auch eher langstreckenartig angelegt sind, aber viel schwieriger umzusetzen. Da wäre zum Beispiel sein Bemühen, andere Sprachregelungen zu finden im Umgang zwischen Letten und Russen. Statt von "Okkupation" und "Okkupanten" zu reden - letzteres ein Wort, mit dessen Hilfe radikale lettische Nationalisten gern jeden noch so jungen Russen dauerhaft beschimpfen - redet Ušakovs lieber von "unrechtmäßiger Besetzung Lettlands und zwangsweiser Eingliederung in die Sowjetunion". Für Lettland-Unkundige vielleicht kein Unterschied. Aber wer im politischen Alltag nicht nicht nur als eindeutiger Vertreter bestimmter Interessen identifiziert werden möchte, sondern zwischen verschiedenen Gruppen und Sichtweisen vermitteln möchte - ohne dabei das Große und Ganze kaputtzuschlagen - der hat es in Lettland nicht leicht. Einen kritischen Umgang mit der eigenen Geschichte zu pflegen, darin sind bisher weder Letten noch Russen stark. Und gerade läuft wieder eine vom nationalen Block des lettischen Parteienspektrums losgetretene Kampagne, der Staat möge bitte nur noch diejenigen Schulen finanzieren, in denen ausschließlich Lettisch gesprochen und gelehrt wird. Na, gratuliere, Lettland! Mag man geneigt sein, auszurufen, und ich hörte auch schon Meinungen von lettischer Seite, diese ganze Geschichte sei vielleicht von interessierter Seite in Russland initiiert, um radikale "Gegenmaßnahmen" in der russischsprachigen Öffentlichkeit leichter gerechtfertigt zu bekommen. Dazwischen steht ein gebürtiger lettischsprachiger Russe als Bürgermeister und muss diese Kleinkriege überleben - nicht nur politisch.

Inzwischen liegt der Rigaer Bürgermeister also, in künstlichen Tiefschlaf versetzt, in der Berliner Charité. Ušakovs verbrachte bisher auch schon mehrfach Urlaubstage in Deutschland - auch "Berliner Luft" kann ja gut tun. Momentan läuft eine Spendenaktion in vielen lettischen Medien, um die zu erwartende teure Spezialbehandlung in der Berliner Charite finanzieren zu helfen - so wird "Spenden per SMS" plötzlich populär und zur einfachen Methode, sein Mitgefühl und seine Unterstützung zu zeigen. Die Kosten der laufenden Spezialbehandlung werden in den lettischen Medien auf mehrere Hunderttausend Euro geschätzt - während die deutschen Ärzte die bereits früher von den lettischen Kolleg/innen getätigten Diagnosen auf schwere Leber- und Nierenbelastungen bestätigten.

Am 8.Juni wird Nils Ušakovs (Nil Walerjewitsch Uschakow) Geburtstag feiern - hoffentlich wird er sich wie neugeboren (oder ähnlich) fühlen dürfen.


21. Mai 2011

Velomanija in Latvija

Und es geht doch: manche halten es noch für wenig ratsam, und innerhalb von Riga sogar hier und dort für lebensgefährlich. Andere halten es für rückständig oder als Beschäftigung für arme Leute. Doch in Lettland scheint sich der Trend langsam zu wandeln: Fahrradfahren wird populär.

Schon zur "Saisoneröffnung" am
1.Mai versammelten sich
hunderte lettischer Radler auf
dem Domplatz in Riga
Noch vor einigen Jahren erregten deutsche Touristengruppen Aufsehen, wenn sie in größeren Gruppen über die lettischen Dorfstraßen fuhren - noch dazu behelmt und bunt gekleidet, versehen mit der Ausrüstung der großen Sportartikelhersteller. Dass Gäste aus dem Westen mit Zweirädern anreisen könnten und noch dazu eine Einkommensquelle für die Läden der lettischen Kleinstädte sein könnten - vor allem die "Boomjahre" des Fahrradtourismus zwischen 2002 und 2007 haben es gezeigt. Gute Anreisebedingungen per Schiff begünstigten Mund-zu-Mund-Werbung für Lettland als Fahrradreiseland.

Dann kam die Krise. Sind es allein Spar-Anstrengungen, die inzwischen besonders die Einwohner/innen der Hauptstadt Riga wieder zum Fahrradfahren bringen? Die Fahrscheine für die neuen schicken Busse und Bahnen werden immer teurer (weiterhin muss jedes Mal beim Umsteigen neu bezahlt werden), und auch die Benzinpreise sind inzwischen beinahe auf westeuropäischem Niveau gelandet.
Die Niederlande setzt Zeichen in Riga: ein
Fahrraddenkmal als Glückwunsch zum 20.Jahrestag
der Wiedererlangung der Unabhängigkeit
Aber besonders unter jungen Leuten ist Fahrradfahren stark im Kommen - wobei es gerne ein farbenfrohes, schickes und möglichst geländegängiges Rad sein darf. Denn nicht nur die Straßenverhältnisse lassen sehr zu wünschen übrig, auch Radwege gibt es nur wenige - in Riga werden gegenwärtig eher "Radausfallstrecken" gebaut als dass das Fahrrad als gleichberechtigtes Verkehrsmittel auf allen Straßen anerkannt wäre. Wie komme ich durch die Stadt - vor allem in den Fußgängerbereichen ist seit einiger Zeit zu spüren, dass Radfahrer ihren Weg durch die Stadt suchen. Nur in einer Straße - der Skolas iela in der nördlichen Innenstadt - wurde der Platz für einen Radweg den Autofahrern weggenommen. Ansonsten finden Spaziergänger ihre Wege in den Parkanlagen neuerdings von Radlerzonen begrenzt vor.

Aber so häufig wie in diesem Frühjahr war Radfahren wohl noch nie Thema in den lettischen Medien. Es sind nicht nur die Ankündigungen von allerlei Aktivitäten - vom Radlermarathon über "Velo-Karneval" bis zum autofreien Sonntag. "Für die Fahrt zur Arbeit ein Rad, für den Ausflug ein anderes" so überschrieb kürzlich DIENA eine sehr ausführliche Radgeberseite. Falls ein solches Motto aufgehen würde, wäre zumindest ein Teil der Sparanstrengungen wieder dahin: auf jeden Fall müssen Schauspieler, Geschäftsleute oder Fernsehstars häufiger Fragen beantworten, welcher Typ Radler sie denn selbst seien (je nach "Outfit"). Zwischen 200 und 300 Lat (300-450 Euro) stuft DIENA den mittleren Kaufpreis allein für ein neues Fahrrad ein.

Noch immer mühsam, langwierig, noch lange keine
Selbstverständlichkeit: Radwegbau in Riga
Einem Bericht der LATVIJAS AVIZE zufolge plant das lettische Verkehrsministerium Änderungen der Straßenverkehrsordnung, nach denen Radfahrer aus Fußgängerüberwege ("Zebrastreifen") nutzen sollen - weitere Konflikte mit Fußgängern scheinen so vorprogrammiert, unwahrscheinlich, dass die lettischen Verkehrsplaner den zunehmenen Radverkehr auf diese Weise zufriedenstellend regeln können werden. Radfahrer, die mangels Radwegen auf Gehwege gezwungen werden, könnten auch öffentliches Unbehagen erzeugen: schon werden Forderungen nach Leuchtwestenpflicht nachts und Einführung von Fahrradkennzeichen in der Öffentlichkeit genannt. Eine weitere Frage ist die der Diebstahlsicherung. Inzwischen hat die lettische Verkehrsbehörde ein Registrierungsmöglichkeit eröffnet, um im Falle von Diebstählen mit genaueren Objektbeschreibungen die Chancen auf ein Wiederauffinden zu erhöhen. Bisher scheint es noch so: ist das Rad erstmal weg, ist die Sache verloren.

Konflikte vorprogrammiert: mangels Radwegen als
Teil der Straßenplanung werden Radler in Riga
oft quer über Spazierwege oder Gehsteige geleitet
Da scheint es nur konsequent, dass sich lettische Radler auch zunehmend ihren Interessen gemäß organisieren. Erst 2010 gründete sich die Vereinigung der Fahrradfahrer in Lettland (Latvijas Riteņbraucēju apvienība), der "Klub für historische Fahrräder" kümmert sich unter anderem um das Fahrradmuseum in Saulkrasti, "Veloriga.lv" bietet als Internetportal alles rund ums Rad, und auch die Verkehrspolizei bietet Interessierten alles rund um Rigas Radwege schon im Internet. Fahrradkuriere gibt es in Riga gleich mehrere (Velokurjers, Avekurjers, Cityexpress), und zur Förderung "emissionsfreien Fahrens" bietet sich derVerein "Bezizmešu mobilitātes atbalsta biedrība" (BIMAB) an (schließt auch Elektromobile ein).
Die Stadt Riga hat neuerdings eine interaktive Plattform entwickelt, auf der (zumindest in lettischer Sprache) zu den neu ausgewiesenen Radwegen von Nutzern Anmerkungen eingereicht werden und dann für alle sichtbar/lesbar gemacht werden können. 

Auch regionale Aktivitätszentren bilden sich heraus. Wer in Lettland eher das Mountainbike besteigt, besucht die speziell dazu hergerichteten Strecken im Gauja-Tal, in Sigulda oder Cesis. Für den Fahrspaß für Groß und Klein - also die ganze Familie - bietet sich inzwischen jedes Jahr ein Ausflug nach Kurland an, nach Kuldiga. Von Jahr zu Jahr wird das Teilnehmerfeld beim Tag des Fahrrads (Velokuldiga) größer und überschreitet am heutigen Wochenende bereits souverän die 1300ter-Marke. Wer's nicht glauben sollte und nicht dabei sein kann, könnte sich auch das Teilnehmerfeld namentlich ansehen und vielleicht den einen oder anderen Namen eines Bekannten entdecken.


Bleibt abzuwarten, ob die neue Fahrradmode nicht doch dem immer noch vorherrschenden Autowahn nicht bald etwas ernsthaft abzuknabbern in der Lage sein wird. Schön wär's - auf das die lettische Natur und Umwelt so schön bleibt wie sie ist!

14. Mai 2011

Deutsche Unternehmer würden lettische Regierung wiederwählen

"Lettland ist durch!" so verkündete es der deutsche Botschafter Dr. Klaus Burkhardt bei einer Pressekonferenz der deutsch-baltischen Handelskammer in Riga am 9.Mai. Die frohe Botschaft sollte sich auf positive Wirtschaftsnachrichten beziehen - Grundlage sind aber ausschließlich Aussagen deutscher Unternehmer. Deutsche Unternehmer stufen außerdem die Maßnahmen der lettischen Regierung als "gut bis befriedigend" ein, das wurde auf derselben Veranstaltung betont.  

Jörg Tumat, Vizepräsident der deutsch-baltischen
Handelskammer in den baltischen Staaten
,
und Maren Diale-Schellschmidt,  geschäftsführender
Vorstand
"Deutsche Unternehmen im Baltikum lassen Krise hinter sich" so die Schlagzeile der Ergebnisse der Konjunkturumfrage der deutsch-baltischen Handelskammer in den baltischen Staaten. Geht es also Lettland deshalb wieder gut, weil deutsche Firmen ihren Profit gesichtert haben? So könnte zurückfragen, wer auch die lettische Presse liest. Vielleicht wäre die Antwort von deutscher Seite: deutsche Unternehmen schaffen auch Arbeitsplätze in Lettland! Ja, das ist sicher richtig. 90% der deutschen Unternehmer in Lettland schätzen die Wirtschaftslage als gut oder befriedigend ein, 66% erwarten steigenden Umsatz, 47% mehr Gewinn, 26% wollen mehr Mitarbeiter einstellen, ebenso viele mehr investieren.
Spitzenwerte verteilen deutsche Unternehmer sogar beim Stichwort Standortattraktivität im internationalen Vergleich: hier steht Lettland immerhin auf Rang 7, direkt hinter China (Deutschland Platz 2, Estland Rang 1!). Gerade auch von zukünftigen Bauprojekten wollen deutsche Unternehmer mit profitieren: der deutsche Botschafter Dr. Klaus Burkhardt erwähnte hier anstehende Straßenbauprojekte ebenso wie die Modernisierung der Eisenbahnstrecken (RailBaltica) und ein geplantes Flüssiggasterminal.

Pressekonferenz der Deutsch-Baltischen Handelskammer am 9.Mai 2011 in Riga --- Aussagen des deutschen Botschafters in Lettland, Dr. Klaus Burkhardt

Unvermeidlich war auch die Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts ein Thema für Nachfragen. Einen "Ausbildungspakt" sagt die deutsche Wirtschaft nach den Worten von Botschafter Dr. Burkhardt der lettischen Seite zu. Doch diese Ausbildungsmaßnahmen werden nicht in Lettland stattfinden, sondern die Teilnehmer werden in Deutschland ausgebildet und haben dann - wie alle anderen in Deutschland Arbeitssuchenden - einen guten Vergleich vor Augen, ob eine Rückkehr nach Lettland wirklich der eigenen Karriere dienlich sein wird. 

Offenbar sind die erwarteten Auswirkungen der Arbeitsmarktöffnung auf Angestellte deutscher Unternehmen in Lettland größer als auf dem allgemeinen lettischen Arbeitsmarkt. Während auf dem lettischen Arbeitsmarkt schon die Sprachkenntnisse fehlen würden (so Botschafter Dr. Burkhardt), erwarten 90% der in Lettland tätigen deutschen Unternehmen eine Abwanderung nach Deutschland (für Litauen 62%, Estland 47%). 

Vergleichbare statistische Aussage lettischer Unternehmer gibt es leider nicht. Die lettische Wirtschaftsleistung war noch 2009 um 18% gesunken, 2010 noch um 0,3%. Die Arbeitslosenrate lag zuletzt immer noch bei 16,7% und sinkt nur leicht, 2010 sind die Löhne in Lettland um durchschnittlich 3,5% weiter gesunken (Daten der lettischen Zentralbank). In der lettischen Öffentlichkeit wird nach wie vor am meisten darüber diskutiert, ob und wie die von Lettland beim Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgenommenen Kredite wieder zurückgezahlt werden können. Dabei gibt es auch immer wieder Äußerungen, die eine Neuverhandlung der Rückzahlungsbedingungen verlangen.

6. Mai 2011

Präsidenten-Quartett

Über die bevorstehende Präsidentschaftswahl in Lettland wurde an dieser Stelle bereits berichtet. Es gibt zahlreichen Unwägbarkeiten, und seit der letzten Erörterung dieses Themas hat sich der Nebel nur bedingt gelichtet.

Zunächst ist ja pikant, daß es eigentlich keine einfachere Lösung gäbe, als den Amtsinhaber nach Ablauf seiner ersten Amtszeit zu bestätigen. Valdis Zatlers hat im Volk in den vergangenen Jahren genug Popularität gewonnen und die regierende Koalition aus Einigkeit und der Union von Bauern und Grünen verfügen über die erforderliche Mehrheit. Folglich bestätigt schon die Diskussion dieser Frage, daß der Amtsinhaber nicht allen politischen Kräften genehm ist.

Einstweilen dringt nur wenig von den Diskussionen zwischen den politischen Kräften nach draußen; wer welche Argument und Interessen vertritt ist Gegenstand von Spekulationen. Sicher ist, daß Zatlers 2007 nicht der Kandidat der heute größten Regierungspartei war, sondern von anderen Kräften gerade wegen seiner politischen Unbedarftheit damals als Überraschung-Coup auf den Schild gehoben worden war. Im Rahmen der Finanzkrise änderte sich dann sehr schnell sehr viel, und man könnte behaupten, daß Zatlers an der Entfernung jener Elite von der Macht, die ihn ausgesucht hatte, nicht ganz unbeteiligt war.

Für die politischen Akteure gibt es nun zwei Probleme. Erstens destabilisieren Meinungsverschiedenheiten bei der Besetzung politischer Ämter politische Allianzen und zweitens ist das Amt des Präsidenten nicht ganz ohne Einfluß, wie Zatlers über vier Jahre bewiesen hat, indem er nicht tat, was vermutlich seine Proteges von ihm erwartet hatten.

Somit ist einstweilen schwer zu beurteilen, welcher politischen Kraft was nutzen könnte, und die Politik ließ sich nicht aus der Reserve locken. Deshalb hatte Zatlers selbst eine ganze Weile abgewartet, ehe er seinen Hut in den Ring warf. Zatlers hätte freilich lieber den Vorschlag der regierenden Parteien erwartet. Doch die Politik hat es geschafft, ihre Zustimmung zu ihm so lange im Unklaren zu lassen, daß der amtierende Präsident auch nicht weiter zögern konnte, um den Abgeordneten nicht das Argument zu liefern, daß man sich über keine Kandidaten äußern könne, so lange die sich selbst dazu nicht geäußert hätten.

Darin besteht das Problem, einen anderen Kandidaten zu finden, der sowohl in den Augen der Bevölkerung Zatlers Ansehen stechen könnte, den portierenden politischen Parteien auch genehm ist und, was eben nicht zuletzt zur Kandidatur bereit. Viele Schwergewichte wie der frühere Präsident des Verfassungsgerichtes, Aivars Endziņš, der auch 2007 kandidiert hatte, haben längst abgewunken.

Hinter den Kulissen scheint es also spannend zuzugehen. Die ebenfalls äußerst populäre Chefin des Rechnungshofes, Inguna Sudraba, die schon häufig für alle möglichen höchsten Ämter gehandelt worden war, meldete sich nun auch zurück. Sie sei zur Kandidatur bereit, aber unter der Bedingung einer eindeutigen Mehrheit für sie. Diese Bemerkung ist vor dem Hintergrund interessant, daß jüngst sogar aus der größten Regierungspartei Forderungen laut geworden waren, die Abgeordneten sollten Ämter zukünftig in offener Abstimmung besetzen. Da dieser Vorschlag nur auf wenig Zuspruch stieß und die Abstimmung geheim ist, dürfte Sudrabas Wunsch so irreal sein wie in der Vergangenheit ihre Bereitschaft, als Regierungschefin für den Fall zur Verfügung zu stehen, daß sie von einer völlig neuen politischen Kraft nominiert würde.

Somit ist der lettischen Politologin Ilga Kreituse zuzustimmen, daß vermutlich bis zum Wahltag neue Kandidaten auftauchen könnten. Kreituse, die selbst früher für eine gewendete Kommunistenfraktion im Parlament gesessen hatte, sogar dessen Präsidentin war und 1999 auch für das Amt in der Rigaer Burg angetreten war, hat freilich Insider-Kenntnisse, auch wenn ihre politische Heimat in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist. Kreituse sagte im lettischen Radio, die Präsidentschaftswahl sei ein sehr kompliziertes Spiel, weil manche Abgeordnete Kandidaten ihre Zustimmung versichern, dann aber doch ihr Versprechen nicht hielten. Dieses Spiel wird noch dadurch komplizierter, daß ab dem dritten Wahlgang der Kandidat mit dem jeweils schlechtesten Ergebnis aufgeben muß, während nach dem fünften Wahlgang wieder völlig neue Kandidaten ins Rennen geschickt werden dürfen. Dieses System wurde während einer Minderheitsregierung 1999 voll ausgeschöpft. Am Ende führte die Zusammenarbeit eines kleineren Koalitionspartners mit der größten, aber in Opposition befindlichen Partei zum Sturz des Kabinetts. In diesem Sinne ist in der Tat nicht ausgeschlossen, daß entgegen eindeutiger Mehrheitsverhältnisse – also ganz anders als 1999 – auch 2011 mehrere Wahlgänge erforderlich sein werden.

Kreituse ist auch darin zuzustimmen, daß durch die zeitlich versetzen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen der Einfluß von Volkes Meinung minimiert wird. Um zum traditionellen Herbstwahltermin zu gelangen, war die erste Legislaturperiode nach der Unabhängigkeit auf nur gut zwei Jahre verkürzt worden. Der Präsident aber hat eine Amtszeit von vier Jahren. Darum findet nunmehr die Wahl des Präsidenten immer erst ein gutes halbes Jahr nach dem Urnengang statt, so daß diese politische Entscheidung im Gedächtnis der Wähler bei der folgenden Wahl nicht mehr so präsent ist, ja der Amtsinhaber auch Zeit hatte, die Herzen des Volkes zu gewinnen. Fände die Wahl des Staatsoberhaupt beispielsweise ein halbes Jahr vor der Parlamentswahl statt, müßten sich die Fraktionen für diese Entscheidung vor dem Wähler rechtfertigen.