29. Juni 2011

Juris Podnieks: "Hello, do you hear us"

In drei Monaten nur 20 bis 30 Views dieses Dokumentarfilms. Schade, ich dachte die Erinnerung an den tragisch verstorbenen Regisseur (1992) Juris Podnieks aus Lettland wäre lebendiger. Aber es kann sein, dass das auch mit der Unzugänglichkeit seiner Werke im Internet zu tun hat. Seit Jahren sucht man vergebens nach hochgeladenen Videos. Aber nun hat jemand bei Youtube eine komplette Dokumentation aus den Endzeiten der Sowjetunion eingestellt. Afghanistan kommt auch drin vor und wirkt irritierend aktuell.

Über Podnieks in Wikipedia:

Internationale Bekanntheit erlangte er dank des Films Vai viegli būt jaunam? (Ist es leicht, jung zu sein?). In diesem kamen Jugendliche zu Wort, die auf der Rückkehr von einem Konzert der Rockband Pērkons in Ogre zwei Zugabteile verwüsteten und später deshalb vor Gericht standen. Der Film zeigte ihren Alltag, ihre Gedankenwelt und Beweggründe und erreichte in der UdSSR und weltweit hohe Zuschauerzahlen.

Während des Auflösungsprozeses der Sowjetunion arbeitete Podnieks mit dem britischen Fernsehen zusammen und lieferte diesem aus erster Hand einen Blick auf die Ereignisse. Während der drei Jahre seiner Zusammenarbeit mit den Briten filmte Podnieks eine fünfteilige Dokumentation mit dem Titel Hello, do you hear us?. Sie zeigte Unruhen in Usbekistan, Überlebende eines Erdbebens in Armenien, einen Streik von Arbeitern in Jaroslawl und die Rückkehr ehemaliger Bewohner nach Tschernobyl. Der erste Teil dieser Reihe gewann einen Prix Italia.



Allerdings: Schon länger ist "Ist es leicht jung zu sein" im Original online.

25. Juni 2011

Bitte zum Tanz: Film als manifestiertes Missverständnis der Geschichte

Die lettische Filmindustrie hätte ein paar gute Produktionen verdient gehabt - nicht nur zu Gunsten der kriselnden Filmproduktion und  arbeitsloser Beleuchter, Ausstatter und Kabelträger. Zumal wenn Filme mit historischen Hintergründen arbeiten, und zu hoffen wäre die Zuschauer könnten durch eine gut gemachte lettische Filmemachersicht auch ein wenig besser die Mentalität und die Perspektive des anderen Landes verstehen lernen.

"Tanz zu dritt" (Dancis pa trim) heißt ein Film, der gerade in den lettischen Kinos läuft. Regisseur Arvīds Krievs, Jahrgang 44, der seine Ausbildung in den 70er Jahren am Moskauer Filminstitut machte, lässt sich seitdem gern zur Dokumentarfilmelite der Rigaer Filmstudio zählen. Sein neuestes Werk "Tanz zu dritt" sei ein Antikriegsfilm, meinte der Regisseur gegenüber dem lettischen Nachrichtenportal Delfi.Spätestens hier besteht Grund genug, aufmerksam zu werden. Die die im Film dargestellten Protagonisten sind vor allem Letten und Deutsche.

Eigentlich könnte die Filmhandlung so beschrieben werden:
Lettland 1944. Zu Zeiten der Besetzung durch Nazideutschland muss die lettische Bauerstochter Eva erleben, wie Alfrēds, der um ihre Hand anhält, sich der Gruppierung des lettischen Generals Jānis Kureļis anschließt, die für die Wiederherstellung eines unabhängigen Lettland auch gegen die Deutschen kämpft. Alfrēds wird verhaftet, zum Tode verurteilt und in einer Kaserne der Deutschen gefangen gehalten. Eva beschließt dorthin zu gehen und um seine Freilassung zu bitten und trifft dort auf den deutschen Hauptmann Günther (Ginters), der sich Sandras Gunst durch Vergünstigungen für Alfrēds einhandeln möchte. 

Offenbar begrenzte Budgetmittel: auch
die Anlagen des Freilichtmuseums Ventspils kommen
im Film zum Einsatz
Eine Frau zwischen zwei Männern - so das vorgegebene Thema der Romanvorlage, die von
Valdemārs Kārkliņš stammt ("Tikai mīlestība" - Nur die Liebe). Kārkliņš, der in Lettland vor allem als Literaturübersetzer tätig gewesen war, landete nach dem Krieg in verschiedenen Lagern in Deutschland, zuletzt in Esslingen am Neckar. Erst hier debütierte er mit "Dievas Zeme" (Land Gottes) mit seinem ersten eigenen literarischen Werk und wird in Lettland demzufolge als "Exilschriftsteller" klassifiziert. Später ging er in die USA, wo er 1964 starb. "Tikai mīlestība" stammt aus dem Jahre 1959.

Aus lettischer Sicht ist "Dancis pa trim" vor allem der letzte Film in dem der populäre kürzlich verstorbene Musiker, Sänger und Liedermacher Mārtiņš Freimanis eine Hauptrolle spielt. Möglicherweise wird der Film also vor allem unter dem Kriterium "wie gut spielt Mārtiņš?" gesehen (es gibt noch drei weitere Musiker-Schauspieler in diesem Film). Das ist aber für die schwierige Thematik eindeutig zu kurz gegriffen.
Freimanis spielt gleich zwei verschiedene Rollen: einen Nazi-Oberst und gleichzeitig den Enkel, der in der Zeitebene der Gegenwart versucht die Geschehnisse der Vergangenheit herauszufinden. 

Warum enttäuscht der Film so stark, obwohl der Stoff doch so spannend sein könnte? Ich wäre gespannt ein Urteil dazu auch von lettischen Kinogängern zu hören. Für Deutsche bleibt es in diesem Film unverständlich, wie deutsche Nazis dargestellt werden: tollpatschig, mal unbeherrscht herumschreiend, mal mit Schoßhündchen, mal in schlecht sitzenden Uniformen. Ein Diener mit ständigem Durchfall, herumstolpernde Wachen, Marschmusik als Freizeitbeschäftigung. War der Krieg wirklich so lustig? Jeder Deutsche würde es verstehen, wenn ein lettischer Film zeigen würde, wie wenig witzig gerade dieser Krieg für Lettland war. Statt dessen wird in "Dancis pa trim" auch noch die Not offensichtlich, irgendwie die größere Anzahl deutsche Protagonisten mit Darstellern belegen zu müssen. Einer der negativen Höhepunkte: Dichtergeist Matthias Knoll als SS-Führer und Massenmörder Friedrich Jeckeln. Der feingliedrige Dichter übt Marschieren, und haucht seine Untergebenen mit dem "furchterregenden" Satz an: "Ihr marschiert ja wie die Kühe!" Im weiteren Verlauf wird Knolls Stimme noch bei weiteren Protagonisten aus dem Off eingespielt, da dem Filmemacher dies offenbar einfacher erschien als den Schauspielern drei Sätze auf Deutsch beizubringen. Billig.

Nein, wer Schrecken nicht als schrecklich darstellt, und Schicksal nicht als schicksalhaft, dem geht sogar die Liebesgeschichte unter. Die Charaktäre wirken seltsam flach, Gefühle unecht. Alles wirkt wie künstlich zurechtgelegt. Eine Frau zwischen zwei Männern? Die Hauptdarstellerin (Kristīne Nevarauska) mit ihren künstlich fixierten Haaren wirkt eher einer Zeit vor dem 1.Weltkrieg entsprungen, Oldtimer fahren immer frisch geputzt durch den Film - nichts ist Leidenschaft, nichts schmeckt nach Krieg. Der Film wird nicht besser, wenn die Klischees deutlicher werden. Die Szenen flackern hin und her, die Handlung bleibt irgendwo zwischen steifer Komik und konstruierter lettisierter Geschichte stehen. Steht es um lettische Filme so schlecht? Vielleicht muss gerade deshalb dieser Film empfohlen werden: Leute, seht ihn euch an und entscheidet dann - am besten mit Freunden und Bekannten aus Lettland gemeinsam - ob es um das deutsch-lettische Verständnis wirklich so schlecht steht. Der Autor im Interview: "Ich hoffe dass der Film vielen gefallen wird. Einigen wird er nicht gefallen, wie immer." Nein, Herr Regisseur, so einfach ist es nicht. Interessiert an Vergangenheit und Zukunft dieses schönen Landes Lettland gebe ich mich nicht damit zufrieden, dass Lettinnen und Letten mit derart mittelmäßigen Filmen zufrieden sein sollen, nur weil ihnen ein bekannter Musiker und eine hygienisch schön gewaschene lettische Geschichtsversion vorgesetzt werden (und weil darauf gebaut wird dass die Kinogänger kein Deutsch verstehen?). Da wirkt auch die Erklärung schwach, dass die Dreharbeiten sich wegen finanzieller Schwierigkeiten auf über 5 Jahre erstreckten. Ein Anti-Kriegsfilm? Nein, ein Film während dessen sich irgend etwas im Inneren sträubt: kann das Missverständnis deutsch-lettischer Phasen der Geschichte so groß sein? Wer das hier aus lettischer Sicht als gut verfilmte Geschichte versteht, der sollte doch bitte entweder seine Deutschkenntnisse verbessern oder sich ein paar reale menschliche Kontakte in Deutschland zum intensiveren Meinungsaustausch suchen.
Homepage zum Film 

Filmkritik eines lettischen Kinofans

14. Juni 2011

Einwohnerzahl sinkt auf unter 2 Millionen

Wie vorläufige Ergebnisse der momentan in Lettland laufenden Volkszählung ergeben, ist die Einwohnerzahl von Lettland inzwischen auf unter 2 Millionen gesunken. Im Jahr 2000 hatte eine Zählung noch 2,38 Mill. Menschen nachgewiesen. 50.000 Menschen ließen sich im Zuge der jetzigen laufenden Datenerhebung als Auswanderer registrieren. In der lettischen Presse äußerten sich lettische Wissenschaftler mit der Annahme dass auch weitere, nicht offiziell registrierte 150.000 bis 200.000 Menschen bereits ausgewandert oder als Arbeitsemigranten dauerhaft im Ausland wohnhaft seien. Migrationsforscher Ilmārs Mežs äußerte gegenüber der Zeitung DIENA die Vermutung, mehrere Zehntausende hätten Wege gefunden sich der Erfassung durch die Volkszählung zu entziehen. Mežs kündigte auch Zweifel an einigen Zählergebnissen an. Da die kleinen Gemeinden starke finanzielle Einbußen durch geringer als bisher festgestellte Einwohnerzahlen befürchten müssten, gäbe es möglicherweise eine Tendenz die Zahlen "schönzurechnen".
Weiterhin bezeichnete es Mežs als "naive Denkweise" zu glauben, diejenigen die einmal im Ausland zu arbeiten angefangen hätten würde so einfach zurückkommen um wieder in Lettland zu arbeiten. "Vielleicht kommen sie ein paar Tage auf Urlaub, oder sie kommen erst als Rentner wieder," so der Wissenschaftler.

12. Juni 2011

Die schönste Nebensache

Für den deutschen Sport wird es heute eine der schönsten Nebensachen der Welt sein, ein Länderspiel gegen Lettland durchzuführen. Das ZDF wird es live im Fernsehen übertragen. Im Vordergrund steht, dass es nach 14 Jahren das letzte Länderspiel für den scheidenden Bundestrainer Heiner Brand sein wird. Die Rede ist von Handball.

Vermutlich spielt am gleichen Tag in den lettischen Sportnachrichten Formel-1-Fahrer Sebastian Vettel (Fetels), oder das 24-Stunden-Rennen von Le Mans eine erheblich größere Rolle. Da im eigenen Land noch nie die Qualifikation für ein größeres internationales Turnier geschafft wurde, fällt es auch in Deutschland weniger auf, wie viele lettische Handballspieler in Deutschland eine solide Grundlage für viele gute Handballmannschaften bilden. "Nur wer in Lettland kein Basketball oder Volleyball spielen kann, kommt zum Handball" - so die Meinung einiger lettischer Sportfans.

Hier aber ein paar Beispiele für lettische Handballer in Deutschland. Da ist Raimonds Šteins, Torwart beim (bisherigen) 2.Ligaklub VfL Edewecht und gleichzeitig lettischer Nationalkeeper, der 2010 einen schweren Motorradunfall überstand und danach den lettischen Sportzeitungen gestand: "Ich bin ein zweites Mal geboren." Am 8.Juni beim EM-Qualifikationsspiel gegen Island kehrte er ins Tor des lettischen Nationalteams zurück (ausführlicher Bericht bei sporto.lv). Ebenfalls in Edewecht spielte in der vergangenen Saison Māris Veršakovs, der wie Šteins aus dem Heimatort des momentanen lettischen Vizemeisters Dobele stammt und momentan einen neuen Verein sucht. Aivis Jurdžs dagegen, zweimal lettischer Meister mit ASK Riga, spielt jetzt beim Erstligisten Hannover-Burgdorf und bereitet sich außerdem noch auf seinen Abschluß an der sportpädagogischen Akademie in Riga vor (Latvijas Sporta pedagogijas akademija LSPA). Lettlands zweiter Nationaltorwart Edgars Kukša spielt jetzt beim deutschen Drittligisten ESV Eintracht Baunatal, und gibt dem eigenen Verein als "Urlaubsziel" Lettland an. Auch Kreisläufer Armands Uščins ist inzwischen bei einem deutschen Klub zu finden, dem Dessau-Roßlauer HV in Sachsen-Anhalt, und versuchte zuletzt als Spielertrainer den Abstieg in die 3.Liga zu verhindern. Sein lettischer Kollege Ģirts Lilienfelds dagegen schaffte mit dem ThSV Eisenach den Verbleib in der 2.Liga. Ingars Dude, ebenfalls aus Dobele stammend, lernt bei der HG Saarloius eine ganz andere Ecke Deutschlands kennen und schaffte dort ebenfalls den Verbleib in der reformierten eingleisigen 2.Liga. Nationalspieler-Kollege Arnolds Straume spielte beim deutschen Drittligisten HSC Bad Neustadt, der mit Margots Valkovskis und Jānis Pavlovičs bereits zwei andere Letten unter Vertrag hat. Aber Straume sucht jetzt einen neuen Verein.

Niemand mag so recht an eine wirkliche Chance heute gegen den Ex-Weltmeister Deutschland glauben. Das Hinspiel in Dobele bezeichneten deutsche Medien als "Schützenfest in Lettland" (18:36). Wer des Lettischen mächtig ist und sich über den heutigen Tag hinaus für lettischen Handball interessiert, könnte in lettischen Buchhandlungen sich das Buch von
Jānis Ķuzulis zu "Handball in Lettland 1958 bis 2008" bestellen (Valters un Rapa). 

Webseite lettischer Handballverband

3. Juni 2011

Eine Birke für Lettland

Die meisten Kommentatoren werden es wahrscheinlich als Überraschung bezeichnen: bereits im zweiten Wahlgang wählte das lettische Parlament per Sondersitzung am 2.Juni Andris Bērziņš, derzeitig selbst Parlamentsabgeordneter (Fraktion Bauernpartei/Grüne), mit 53 Stimmen zum neuen Präsident Lettlands. 99 von 100 Abgeordneten hatten an der Abstimmung teilgenommen, 97 Stimmen davon wurden als gültig angesehen, 3 stimmten gegen beide Kandidaten (das war möglich, ebenso wie für den einen und gegen den anderen zu stimmen - nur für beide stimmen galt als ungültig). 

Nach der Wahl sah sich der künftige Präsident Bērziņš (die Amtsübergabe ist für den 7.Juli vorgesehen) heftigen Nachfragen von Journalisten und auch vor dem Parlament wartender Menschen ausgesetzt. Aber bevor es um die Folgen von Bērziņš' Wahl gehen kann, gilt es vielleicht noch einmal den Hergang aufzuschreiben. 

Die Kandidatur 
Andris Bērziņš, Ex-Präsident der "Unibanka" (inzwischen von der schwedischen Swedbank übernommenen), wurde von fünf lettischen Parlamentsabgeordneten als Präsident vorgeschlagen: Jānis Vucāns ("Latvijai un Ventspilij"/Gruppierung "für Lettland und für Ventspils"), Iveta Grigule und Kārlis Seržants (beide "Latvijas Zaļā partija" / lettische Grüne Partei), Aivars Dronka und Staņislavs Šķesters (beide Latvijas Zemnieku savienība/ lettische Bauernvereinigung LZS). Anschließend war Bērziņš zum Kandidaten der gemeinsamen Fraktion der Bauernpartei und der Grünen (lettische Abkürzung: ZZS) ernannt worden. Auch einige Abgeordnete der Partei "Saskaņas centrs" (SC / "Harmoniezentrum") befanden Bērziņš für den besseren Kandidaten. So sagte der Abgeordnete Klementjevs (SC): "Wenn Zatlers der Stimmen der SC bedürfte, hätte er sich für die Einbeziehung der SC in die Regierung einsetzen können." Offiziell gaben aber sowohl SC wie ZZS ihren Abgeordneten keine Wahlempfehlung. Bei der SC führte das dazu, dass auch hinterher kein SC-Abgeordneter zu seinem Stimmverhalten Stellung nehmen wollte ("bei uns gibt es unterschiedliche Meinungen, und damit niemand auch nachher sich zu irgend etwas gezwungen fühlen soll, haben wir vereinbart dazu nichts zu sagen"). 
Die Fraktion der "Vienotība" ("Einheit", ein Zusammenschluss von drei Parteien) hatte sich einmütig für die (Wieder)wahl von Valdis Zatlers ausgesprochen (33 Sitze im Parlament). Dem hatte sich die Fraktion "Viss Latvijai / Tevzemei un brivibai" (Alles für Lettland / für Vaterland und Freiheit) angeschlossen. Hier funktionierte offenbar die Stimmdisziplin: genau 41 Stimmen bekam Zatlers im 2.Wahlgang. 
Im ersten Wahlgang hatte keiner der beiden Kandidaten die für eine Mehrheit nötige Stimmenzahl bekommen (Bērziņš 50, Zatlers 43). Bis dahin hielten sich auch Spekulationen, es würden im 2.Wahlgang dann weitere Kandidat/innen genannt werden; meist genannt wurde die ehemalige Präsidentin Vīķe-Freiberga und Inguna Sudraba, Chefin des lettischen Rechnungshofs. Doch dazu kam es nicht mehr.

Was ist über Andris Bērziņš bisher bekannt?
Andris Bērziņš sollte nicht verwechselt werden mit zwei anderen Parlamentsabgeordneten gleichen Namens, einer darunter der ehemalige Bürgermeister von Riga). DIESER Bērziņš war bisher mit ca 4500 Lat Rente der zweitreichste Abgeordnete im lettischen Parlament (nach dem als "Oligarchen" beschimpften Andris Šķēle / PLL). Er ist im kleinen nordlettischen Örtchen Nītaure geboren, besuchte dort sieben Jahre lang die Grundschule, danach die Mittelschule in Sigulda, und beendete dann 1971 das politechnische Institut Riga als Ingenieur. Bis 1988 schloss Bērziņš ein Studium an der staatlichen Universität Lettlands im Fachbereich Wirtschaft mit Schwerpunkt Industriewirtschaftsplanung ab. Zu Sowjetzeiten hatte er verschiedene Ämter inne, bei der Staatsfirma "Elektrons" stieg er bis zum Direktor auf, wurde 1988 sogar stellvertretender Minister. 1989 wurde er zum Volksdeputierten im Kreis Valmiera und wurde 1989-1993 Vorsitzender von dessen geschäftsführendem Komitee. 1990 wurde Andris Bērziņš auch in den Höchsten Rat der Volksdeputierten Lettlands gewählt, und stimmte dort am 4.Mai 1990 für die Wiederherstellung der lettischen Unabhängigkeit. 1993 wurde er bei der Bank von Lettland zum Vorsitzender des Komittees zur Privatisierung und noch im selben Jahr Präsident der "Unibanka". Von da ab kam sein steiler Aufstieg in die Liste der lettischen Millionäre. Bis 2003 leitete er die "Unibanka", 2006-2009 war er noch Aufsichtsratsvorsitzender beim Energieversorger "Latvenergo" sowie bei einigen anderen Firmen in ähnlicher Funktion. Seine Ersparnisse gibt Bērziņš mit 1,5 Mill. Lat an (ca. 2,2 Mill. Euro - dazu noch Aktien und Bankobligationen), an Eigentum besitzt er laut Immobilienregister 37 verschiedene Grundstücke, unter anderem in Riga, Nītaure und Kolka. Seine hohe Rente bezieht Bērziņš noch aus seiner Zeit als Bankpräsident, und einige Zeitungen kommentieren genüßlich, dass für die Festsetzung dieser Rente damals unter anderem auch die heute als "Oligarchen" verdächtigen Aivars Lembergs und Andris Šķēle verantwortlich waren.
Andris Bērziņš lebt gegenwärtig nicht in einer Ehe, lebte aber 10 Jahre zusammen mit der wesentlich jüngeren Ärztin Dace Seisuma. Offiziell registriert sind von Bērziņš drei Kinder - eine Tochter und zwei Söhne. In der lettischen Presse sind Spekulationen um ein weiteres außereheliches Kind zu lesen (was Bērziņš abstreitet und durch DNA-Test beweisen will)
Bei der Parlamentswahl im Herbst 2010 wurde Andris Bērziņš schließlich als Abgeordneter ins lettische Parlament gewählt. Da das lettische Wahlrecht jedem Wähler die Möglichkeit gibt, innerhalb einer gewählten Parteiliste bevorzugte Personen mit einem "Plus" zu versehen und dagegen andere zu streichen, spiegelt die lettische Presse auch eine für den Kandidaten Bērziņš "widersprüchliche" Wählergunst in seinem Heimatwahlkreis: er erhielt 3798 Pluszeichen, aber auch 4368 Streichungen. 

Wie kommentiert die lettische Presse die Präsidentschaftswahl? 
Für lettische Verhältnisse musste sich Andris Bērziņš wenige Minuten nach seiner Wahl geradezu einem Ansturm von Fragen der lettischen Presse stellen. Da war auch manches für Außenstehende vielleicht seltsam klingendes dabei, wie zum Beispiel die Frage, wieviel Kinder er eigentlich habe und wie er das "Problem" zu lösen gedenke, keine "First Lady" vorweisen zu können (Antwort: Ich sehe das nur als Problem des Protokolls an, nicht mit den Aufgaben als Präsident zusammenhängend). Sichtbar um Luft und Stimme ringend, konnte Bērziņš seine Nervosität kaum verbergen. Hektische Seitenblicke schienen um Unterstützung zu suchen, aber die Presse hatte sich auf kritisches Nachfragen eingeschossen. Die Frage, wie er den Einfluß von "Oligarchen" auf die lettische Politik beurteile, beantwortete Bērziņš mit den Worten: "innerhalb meiner Arbeitsbereiche habe ich diesen Einfluß nicht gespürt". Interessiert fragte die lettische Presse auch die Fremdsprachenkenntnisse des neuen Präsidenten ab. Bērziņš gab zu, als Banker mehr mit Deutsch als mit Englisch zu tun gehabt zu haben. Auf Nachfrage versicherte er, russischsprachigen Journalisten im Interview auch Antworten auf Russisch geben zu wollen (im Vieraugengespräch). Gefragt nach seiner Beurteilung der gegenwärtigen lettischen Politik bekräftigte Bērziņš die Auffassung, Lettland müsse den Beitritt zur Eurozone anstreben. "Sehr viel mehr Schwierigkeiten wird es gerade für das wahrscheinlich neu zu wählende Parlament aber noch mit den absehbar nötigen Sparmaßnahmen geben", so seine Prognose. Auch äußerte Bērziņš auf Nachfrage seine Überzeugung, dass die staatliche Anti-Korruptionsbehörde (KNAB) eine Stärkung und Stabilisierung nötig habe.

Der lettische Journalist Lato Lapsa - bekannt durch umfangreiche Bücher zu bekannten anderen lettischen Politikern - kündigte an, noch bis Ende 2011 auch zum neuen lettischen Präsidenten ein Buch herausgeben zu wollen. 

Aivars Ozoliņš, Kommentator der Zeitschrift "IR" konstatiert: "Es steht 1:1 zu Gunsten der Oligarchen". Zwar bestehe wenig Grund darüber zu diskutieren, wer der bessere Kandidat gewesen sei, wohl aber darüber, wer wirklich die Macht im Staate habe.
Selbst in Litauen und Estland verfehlten die lettischen Ereignisse ihre Wirkung nicht. Der litauische Botschafter in Lettland, der sich öffentlich abfällig über Zatlers Entscheidung der Einleitung einer Volksabstimmung geäussert hatte, musste zurücktreten und die litauische Präsidentin Grybauskaite öffentlich ihre Hoffnung erklären, der Vorgang möge den Beziehungen beider Länder nicht schaden. Und die Zeitung "Aripaev" forderte zum "Mitgefühl" mit dem südlichen Nachbarn auf und meinte in einem Kommentar, der "lettische Oligarch Andris Bērziņš" sei zum Präsidenten gewählt worden, und berief sich dabei auch auf Äusserungen des Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschußes des estnischen Parlaments, Marko Mihkelsons. 

Wie kommentieren lettische Politiker/innen? 
"Die Wahl von Bērziņš zeigt, dass der Parlamentsbeschluß keine Durchsuchung der Räume von Ainars Šlesers zuzulassen, kein Zufall war," so sagte es der nicht gewählte Bald-Ex-präsident Zatlers unmittelbar in die Fernsehkameras. Auf Nachfrage, ob er selbst nun in die Politik gehe, antwortete er: "mindestens bis zum 8.Juni werde ich zunächst noch in meinem Amt arbeiten."
Ministerpräsident Dombrovskis äusserte zum Wahlergebnis in einer offiziellen Stellungnahme: "Die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten hat offenbar den Ruf der lettischen Öffentlichkeit nach Verminderung des Einflusses der lettischen Oligarchen nicht gehört." 
Schon als sich die geringe Zahl der Unterstützer für Zatlers beim ersten Wahlgang zeigte, kündigte der Abgeordnete Olšteins (Vienotība) unter Tränen die Niederlegung seines Mandats für den Fall der Nicht-Wahl von Zatlers an. Gute Laune dagegen hat offenbar Aivars Lembergs, einer der öffentlich am häufigsten genannten "Oligarchen" mit Einfluß auf die lettische Politik (vor allem auf die von ihm gesponserte Liste der Bauernpartei/Grünen ZZS). Die Nachrichtenagentur LETA zitiert ihn mit einer Aussage über Zatlers: der bisherige lettische Präsident müsse sich jetzt wohl wie jemand fühlen, der selbst Rom niedergebrannt habe. "Dieser Wind wird sich legen, Zatlers wird schnell vergessen sein", meint Lembergs. 
Bereits am Tag vor der Präsidentschaftswahl entschied der Vorstand der lettischen Grünen Partei (Latvijas zaļā partija LZP) Iveta Grigule, eine der Abgeordneten die Bērziņš als Präsidentschaftskandidat vorgeschlagen hatte, aus der Partei auszuschließen. Nach Aussagen des Parteivorstands waren dafür einerseits falsche Angaben Grigules bezüglich der Wahlkampfausgaben der Partei die Ursache, die zu Untersuchungen und Strafen seitens des Anti-Korruptionsbüros KNAB führten, und andererseits Grigules Abstimmungsverhalten im Parlament, sich gegen eine Untersuchung der Privaträume des als Oligarch beschuldigten Ainārs Šlesers auszusprechen.
Es ist zu befürchten, dass sich einige Mitglieder der immer noch bunten Fraktion der "Vienotība" (die zwar "Einheit" heisst, den Prozess der Vereinigung der drei Gruppierungen zu einer einzigen Partei aber bisher immer noch nicht abgeschlossen hat) in dieser Woche ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt haben. Als Zatlers die Volksabstimmung zur Parlamentsneuwahl verkündete, spekulierten einige schon über angeblich bessere, neue Koalitionspartner in Reihen der Saskaņas centrs (SC). Diese zeigte jedoch keine Zeichen der Erwiderung solcher "neuer Liebe" und wählte offenbar fast einheitlich den von Vienotība nicht unterstützten Kandidaten Bērziņš. Es wird sich zeigen müssen, ob die Koalition mit der Fraktion der "Grünen/Bauerpartei" noch lange hält, oder ob sie nach den Neuwahlen erneuert wird. Hätte Zatlers nicht das Referendum eingeleitet läge der Verdacht sehr nahe, dass die jetzige Regierung nicht mehr lange zusammenhalten würde. 

Was ist Bērziņš nicht?
Der neue lettische Präsident war nicht, wie das "Handelsblatt" behauptet, zwischen 2000 und 2002 lettischer Ministerpräsident (Bäumchen verwechsle Dich :-) na ja, der zuständige Korrespondent muss es von Stockholm aus richten). Auch die britische BBC hatte sich zunächst vergriffen und die Nachrichten aus Lettland mit einem falschen Foto illustriert. Laut Recherchen lettischer Medien sind momentan in ganz Lettland 189 Personen mit Vornamen Andris und Nachnamen Bērziņš (deutsch = Birke, eigentlich Verkleinerungsform "Birkenbäumchen") registriert.