Dieser Text beruht auf einem Artikel, den ich mit Veiko Spolītis 2006 in der lettischen Tageszeitung Diena publizierte. Eine deutsche Fassung erschien im Buch "Aktuelle postsozialistischer Länder. Das Beispiel Lettland".
Besucher, die als Tourist oder Geschäftsleute das erste Mal nach Riga kommen, tauschen gebetsmühlenartig Ihre Eindrücke über die Frauen aus. Neben dem Kleidungsstil, der sich von dem der Frauen in Deutschland unterscheidet – “weiblicher” lautet da das einhellige Urteil – geht es auch um ihre schiere Zahl. Dabei fällt dem Ausländer immer auch schnell auf, daß die meisten Straßenbahnen und Trolleybusse in Riga von Frauen gefahren werden. Doch auch im allgemeinen Straßenbild gebe es mehr Frauen als Männer, finden die meisten. Und überhaupt sehe man auf der Straße fast nur junge Menschen. Also laufen durch Riga nur junge Frauen?Auch die Einheimischen, insbesondere wieder die Frauen, behaupten regelmäßig, Lettland sei eine unikale Gesellschaft mit ihrem Frauenüberschuß, was dann schließlich auch die Schriftstellerin Dace Rukšāne in ihrer allwöchentlichen Kolumne “Sekss” unterstrich. Es sei allerdings hinzugefügt, daß man in Estland exakt dasselbe zu hören bekommt. Aber kann das dann sein?
Folgt man den Diskussionen der Politiker über den 8. März, kann man schließen, daß die männlichen Abgeordneten ähnlich wie die kommunistischen Theoretiker Frauen vorwiegend eine traditionelle Rolle im Hintergrund zugestehen. Die Tradition der Sowjetzeit fortsetzend wird der zur Zeit der Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufene internationale Tag der Frauensolidarität noch heute in Lettland mit Tulpen und feuchtfröhlich am Arbeitsplatz begangen. Ironischerweise ist nach dem Bankrott der Marxschen Idee der Gleichheit die Thematik noch heute in Lettland für beide Geschlechter virulent.
Nicht weniger aktuell sind die geringe Geburtenrate und Alkoholismus, also Fragen, die üblicherweise nach krassen wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Bewußtseins rücken. Ungeachtet der stufenweise wachsenden mittleren Lebenserwartung wie auch des gestiegenen Bildungsniveaus zum Ende des totalitären Systems, herrscht in Lettland noch immer eine vereinfachende Ansicht vor, daß es in Lettland mehr Frauen als Männer gibt. Die Autoren versuchen eine Antwort zu finden, wie zutreffend diese Annahme ist.
Überzahl der Frauen im Alltag
Eine Mehrheit von Frauen ist im Alltag an bestimmten Orten tatsächlich zu beobachten. Schon im Kindergarten und in der Grundschule kann man „unwissenschaftlich“ konstatieren, daß in diesem Bereich wenigstens 90% Frauen arbeiten. In vielen Jahren haben wir beobachtet, daß der Anteil der an den Hochschulen Sozialwissenschaft männlichen Studierenden selten über zehn Prozent liegt (ein online Kommentar in der lettischen Tageszeitung Diena verwies darauf, daß dieses Bild nicht für die technische Universität gelte). Ein Überblick über die lächelnden Sekretärinnen in den Büros, die Angestellten in Restaurants und Geschäften überzeugt, daß der größte Teil der Mitarbeiter in diesen Bereichen Frauen sind. Allerdings betreffen diese Beobachtungen auch vorwiegend Berufe mit Publikumsverkehr, und auf diese Weise kann eine falsche Vorstellung vom Unterschied in der Anzahl von Männern und Frauen entstehen.
Tatsächlich kommen in Lettland so wie in anderen Staaten der Welt auch mehr Jungen zur Welt als Mädchen. Wenn von 1991 bis 1995 in Lettland 83.201 Jungen und 78.997 Mädchen das Licht der Welt erblickten, waren es nach den politischen und ökonomischen Veränderungen zwischen 1996 und 2000 nur noch 49.790 Jungen respektive 46.876 Mädchen. Seit 2001 hat sich die demographische Situation wieder verbessert, aber in Lettland unterscheidet sich nach wie vor die mittlere Lebenserwartung von Männern und Frauen kraß von den Zahlen Westeuropas. Gerade die erwähnten Unterschiede zwischen den Altersgruppen lassen den falschen Eindruck entstehen, die Gesellschaft Lettlands sei unikal mit ihrem überproportional hohen Frauenanteil.
In absoluten Zahlen waren unter den Einwohner Lettlands im Jahre 2004 1.250.867 Frauen und nur 1.068.336 Männer. Wenn bis zum Alter von 30 Jahren die Zahl der Männer mit 262.613 noch jene der Frauen mit 253.863 übertrifft, dann ist eine deutlich Verringerung dieses Verhältnisses in der Altersgruppe zwischen 30 und 39 Jahren zu erkennen, wo 2004 160.984 Frauen nur noch 158.517 Männer gegenüber standen. Dieses Ergebnis verlangt eine Analyse, warum in einem Land, in dem die Zahl der Männer bis zum Alter von 30 über jener der Frauen liegt, die Zahl der Männer anschließend so dramatisch sinkt.
Sterblichkeit und Emigration
Die Sterblichkeit analysierend ist feststellbar, daß das Verhältnis von natürlichen Todesursachen zwischen Jungen und Mädchen 4:1 beträgt. Den Daten für das Jahr 2003 folgend sind im Alter zwischen 20 und 24 Jahren 43 junge Frauen, aber 164 junge Männer an Krankheiten gestorben. In der Altersgruppe zwischen 25 und 29 Jahren waren es 54 Frauen gegenüber 203 Männern. In der Gruppe der über 30jährigen verringert sich diese Differenz. Und im Alter zwischen 45 und 49 Jahren starben 371 Frauen und 802 Männer.
Erschütternder sind die unnatürlichen Todesursachen. Der internationale Vergleich zeigt, daß besonders im Alter von 18 bis 25 Jahren die Zahl der Unfallopfer besonders hoch ist. In der schwierigen Umbruchzeit 1994 starben 4.637 Männer und nur 1.372 Frauen, im Jahre 2003 dagegen 3.373 Männer und nur 931 Frauen. Im selben Jahr fielen Autounfällen 407 Männer und 145 Frauen zum Opfer, während durch Gewalt 165 Männer und 82 Frauen zu Tode kamen. Selbstmord verübten schließlich 2003 483 Männer und 122 Frauen, wenn auch Frauen deutlich häufiger einen Selbstmordversuch unternehmen. Prinzipiell ist das im internationalen Vergleich nicht ungewöhnlich.
Um eine umfassende Antwort auf die Eingangsfrage zu erhalten, betrachten wir auch die Emigrantenzahlen. Im Jahre 2003 etwa verließen 4.834 Frauen und 3.076 Männer im Alter zwischen 20 und 24 Jahren Lettland. Das langfristige Migrationsaldo in diesem Jahr betrug –650 Frauen, allerdings nur –196 Männer. Diese Tendenz ist bis zum Alter von 39 Jahren zu beobachten.
Folglich ist in Lettland eine Situation entstanden, in der durch die größere Sterblichkeit der Männer und die höhere Auswanderungsrate der Frauen ab der Altersgruppe der über 30jähirgen die Zahl der Frauen jene der Männer übersteigt und das ist in Lettland und Estland gleichermaßen das Ungewöhnliche gegenüber anderen Gesellschaften. Aber bedeutet dieses Ergebnis, daß die Männer ihr Leben schneller verleben und die Frauen das ihrige besser zu planen verstehen?
Umbruch im politischen und ökonomischen System
Als Folge des technischen Standards in der Sowjetunion war die Wirtschaft eine arbeitsintensive. Die Arbeitskraft der Frauen wurden, Haushaltsführung hin oder her, benötigt. Die Emanzipation der Frauen während der Zeit der sowjetischen Okkupation war eine formale, folglich betraf die Frauen in Lettland die Frauenbewegung der westlichen Welt in den 1970er Jahren nicht, die Gesellschaft blieb in bezug auf das Rollenverständnis der Geschlechter eine traditionelle. Dennoch tragen die Bildungsmöglichkeiten der Sowjetzeit ihre Früchte und erlauben den Frauen Lettlands vergleichsweise besser die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen zu durchleben. Noch 1979 kamen auf 1.000 Einwohner 76 Frauen, aber 86 Männer mit Hochschulbildung. 1989 betrug diese Zahl für beide Geschlechter bereits 115. Doch im Jahre 2000 gab es pro 1.000 Einwohnern bereits 151 Frauen und nur 124 Männer mit Hochschulbildung. Diese Entwicklung findet ihre Begründung in der sowjetischen Zeit, als die Gesellschaft patriarchalisch aufgebaut war und dem Mann die Rolle des Familienversorgers zudachte, die hauptsächlich mit Arbeit im industriellen und Landwirtschaftssektor verbunden war.
In Folge des Zusammenbruchs der nicht effektiv wirtschaftenden Unternehmen in Industrie und Landwirtschaft gerieten die traditionellen „Familienversorger“ in die Abhängigkeit ihrer Partnerin. Der Zustand, daß mit einem Lehrereinkommen der Frau überlebt werden muß, war den Männern, die an die traditionelle Männerrolle gewöhnt waren, unangenehm, was wie Alkoholismus, Ehescheidung und vergleichbare Probleme zunehmen ließ. Viele Untersuchungen während der vergangenen zehn Jahre haben wie die von Andris Kangro und Andrejs Geske gezeigt, daß Mädchen in der Schule in Lettland erfolgreicher sind als Jungen und das spiegelt sich wieder in den Ergebnissen der Aufnahmeprüfungen der Hochschulen. Dank der besseren Ausbildung und besserer Sprachkenntnisse steigen Frauen in der heutigen modernen Informationsgesellschaft schneller auf der Karriereleiter nach oben. Und sie finden häufig besser ausgebildete Lebenspartner außerhalb Lettlands.
Auf diese Weise haben es die traditionellen lettischen Männer aufgrund ihrer unbefriedigenden intellektuellen und materiellen Umstände schwer, ohne Anstrengung eine kluge und attraktive lettische Frau zu finden, obwohl bis zum Alter von 30 die Zahl der Männer die der Frauen übersteigt. Und so gab es im herbst in der estnischen Tageszeitung Postimees einen großen Artikel über den Trend, daß estnische junge Frauen ins Ausland heiraten.
Gleichzeitig ist die Zahl der Schulmädchen in Lettland geringer als die der Jungen, und es ist möglich, daß dies ein Grund für die Mädchen ist, sich mehr anzustrengen; ein Grund für weitere Untersuchungen. Letztlich hoffen die Autoren trotz der Dramatik der genannten Zahlen, daß durch veränderte Prioritäten und eine bessere Finanzierung des Bildungswesens auch die Jungen besser für die Herausforderungen der modernen Wirtschaft vorbereitet werden können und folglich Stück für Stück das Problem der ungleichen Geschlechterverteilung in Lettland gelöst wird.
Wichtig ist hier auch die Erziehung. Sowohl in Familie als auch Schule ist diese weiblich dominiert. Gerade jene Damen, welche den Mangel an Männern, akzeptabele Männer wäre die bessere Formulierung, beklagen, sollten bei den Kleinen Vorsorge tragen, daß ihre Töchter sich nicht wieder mit dem g,eichen Typ Männer abgeben müssen, die ihnen selbst nicht zufriedenstellend erscheinen.
Literatur
Andris Kangro, Andrejs Geske, Zināšanas un prasmes dzīvei. Latvija OECD valstu Starptautiskajā skolēnu novērtēšanas programmā. 1998-2001, „Mācību Grāmata: Rīga, 2001
Dace Rukšāne: Tāds vīriešu trūkums kā Latvijā neesot gandrīz nekur citur pasaulē [Ein solches Fehlen an Männern gebe es fast nirgendwo sonst auf der Welt]; in: Sestdiena, 22. August 2004
Latvijas Republikas Centrālā Statistikas Pārvalde: Demogrāfija 2004, Rīga 2004
Results of the 2000 population and housing census in Latvia, Rīga 2001
Axel Reetz, Riga