3. November 2007

Der Domplatz ist unser Wohnzimmer!

Wenn in Lettland etwas Wichtiges geschieht, wird es in der Regel auf dem Domplatz in Rigas Altstadt zelebriert. Sänger- feste, sportliche Höhepunkte, von Schulanfang über Erntedankfest bis zum EU-Beitritt - alles wird hier feierlich begangen. Wenn es danach geht, war die Versammlung unter dem Titel "Für ein rechtsstaatliches Lettland" heute ebenfalls ein Höhepunkt. Nach Schätzungen der Polizei versammelten sich 8.000-9.000 Menschen, darunter auch viele aus allen Regionen Lettlands. Bunte Regenschirme sind bei diesen Kundgebungen weiterhin charakteristisch: diesmal herrschte starkes Schneetreiben.

Derweil befindet sich Regierungschef Kalvitis noch auf USA-Besuch. "Condoleeza Rice erinnert Kalvitis daran, die Korruption besser zu bekämpfen", weiß LETA dazu zu berichten. DIENA versuchte den Regierungschef telefonisch zu interviewen, und erntete ein unwirsches Bekenntnis: "Ja, sie hat die Korruptionsbekämpfung als Priorität erwähnt, aber das war's", so ein Regierungschef, von dem immer noch angenommen wird, seine Zeit sei abgelaufen.

Zu Hause in Riga schwindet derweil die Ministerriege. "Man muss jederzeit bereit sein, von einem Volvo in die Straßenbahn umzusteigen," so sagte es der zurückgetretene Außenminister Pabriks. Umsteigen wollte nun auch die grün-bäuerliche Sozialministerin Dagnija Staķe: sie trat zurück, angeblich weil sie Forderungen nach einer Rentenerhöhung um 7Lat pro Monat im Haushalt 2008 nicht durchsetzen konnte. Die bereits seit fünf Jahren im Amt befindliche Ministerin wird aber in der Öffentlichkeit vor allem mit dem Brand im Sozialzentrum "Reģi" am 23.Februar 2007 in Verbindung gebracht, als 26 Menschen starben - vor allem an schrecklichen Verhältnissen in diesem Heim, an einem eiskalten Tag, als alle Mittel genutzt werden mussten, um irgendwie Wärme ins Haus zu bekommen. Staķe galt also sowieso als Kandidatin für eine Regierungsumbildung.

Auch von Präsident Zatlers waren in den vergangenen Tagen einige Stellungnahmen zu aktuellen Themen zu vernehmen. Zunächst, bevor die "Cappuccino-Revolutionäre" loszogen, hatte das Präsidentenbüro einfach verlautbart, dass es bis Ende des Jahres keinen Staatsbesuch von Zatlers mehr im Ausland geben werde.
Als 5.000 Menschen vor dem Parlament demonstrierten, betonte Zatlers die Notwendigkeit einer stabilen Regierung. Und Anfang dieser Woche, im Rahmen eines Interviews des lettischen Radios gefragt nach seinen Plänen für den 3.November (wenn sich das Volk wieder zu vermutlich Tausenden auf dem Domplatz einfindet), sagte Zalters: "Oh, ich habe immer eine Menge zu tun. Ich muss Akten bearbeiten, und werde das sicherlich zu Hause tun."

Zatlers überlegte es sich anders, und zeigte sich heute doch noch den ver- sammelten Menschen (Foto links). "Ich freue mich, dass Sie hier im Zeichen neuer Werte versammelt sind", wird Zatlers in der Presse zitiert, "einen ehrenhaften Staat aufzubauen, der auf Recht und Gesetz beruht, und auf kulturelle Werte." Zatlers plötzliches Auftauchen verhinderte aber nicht, dass in der Menge auch Plakate zu sehen waren "das Volk erwacht, der Präsident schläft."

Transparency International (TI), die mit ihrer lettischen Mitgliedsorganisation DELNA heute mit zur Kundgebung aufriefen, kündigten gleichzeitig der Presse an, dass am 5.11. und 6.11. sich die TI-Präsidentin, die Canadierin Huguette Labelle, im Rahmen einer Konferenz zum Thema "Ethik in der Demokratie" in Lettland aufhalten werde. LETA, die lettische Presseagentur, fügte dieser Meldung noch eine Info zu dem bisher letzten und einzigen Mal hinzu, als sich ein TI-Präsident mit lettischen Politikern traf. 2004 bat der damalige kurzzeitige Regierungschef Indulis Emsis um ein Treffen mit TI-Präsident Peter Eigen - nachdem DELNA sich entschieden gegen den Vorschlag ausgesprochen hatte, Ingrida Udre zur EU-Kommissarin zu ernennen. Selbst die lettische Präsidentin Vīķe-Freiberga hatte damals verärgert von "Einmischung" in die Politik gesprochen, es entstand der Spruch von den "Sorosieši", den vom US-Milliardär George Soros bezahlten NGO-Aktivisten. In der lettischen Presse ist es immer wieder die Neatkarīgā Rīta Avīze (NRA), die mit kritischen Beiträgen die "Sorosieši" begleitet. Manche Mythen werden auch hinzugefügt: angeblich wolle Soros auch die Euthanasie und den freien Drogengebrauch durchsetzen. - Erst vor wenigen Tagen erschien bei NRA wieder ein Artikel, überschrieben mit "Sorosieši wollen in Europa die Außenpolitik übernehmen", in dem der Einfluß der Kreise um Soros bei der Gründung des europäischen außenpolitischen Rats (European Council on Foreign Relations) beschrieben wird.

Unklar bleibt, welche Richtung diese "Volksbewegung" jetzt einschlagen wird. Natürlich hat Regierungschef Kalvitis es nach der Beratung des Haushalts für 2008 (das wird im Laufe der nächsten Woche der Fall sein) selbst in der Hand, einen Neuanfang zu setzen. Und die aus allen einflußreichen Ämtern (inklusive dem Chefsessel im Stadtrat Riga) gejagte oppositionelle "Jaunais Laiks" ist froh, sich im angeblichen Rückenwind dem Volk zeigen zu können. Die aus den 90er Jahren beliebte Methode, schnell mal vor Neuwahlen eine neue Partei zu gründen und dann mit alten Köpfen neue Kleider anzulegen, das wird es wohl diesmal nicht werden. Eine Zeitlang bleibt es noch spannend in der lettischen Politik, und vielleicht hat auch die gegenwärig amtierende Kultur- und Außenministerin Helena Demakova Recht, die dieser Woche verlautbaren ließ: "Ein Gutes haben ja die Fehler meiner Partei: es interessieren sich jetzt wieder sehr viele Menschen für Politik."

Bericht von der Demonstration auf dem Domplatz (TVNet/LETA), mit anklickbarer Fotogalerie (von der auch die hier wiedergegebenen Fotos stammen)

zur Gründung des European Council on Foreign Relations (Ulrike Guérot, Leiterin des Büros Berlin)

Beitrag zum European Council on Foreign Relations aus lettischer Sicht (Ritums Rozenbergs, NRA 25.10.07)

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