Wer erinnert sich noch an die mehr oder weniger geniale diplomatische Strategie der lettischen Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga anläßlich der Moskauer Siegesfeiern zum 60.Jahrestags des Kriegsendes? Anstatt in der "Schmollecke" der kleinen, wenig einflußreichen Länder dieser Erde zu bleiben, schaffte sie es, mit ihrer Teilnahme an den Moskauer Prunkparaden wochenlang im Fokus der Weltpresse zu bleiben, und damit kontinuierlich auf die eigenen Erfahrungen der baltischen Staaten aus dem 2.Weltkrieg hinweisen zu können. - Ein neues Kapitel ist nun die Kandidatur Vīķe-Freibergas für das Amt des UN-Generalsekretärs (deutsche Fassung der Rede zur Kanditatur hier). Am 28.September fand die (dritte) Probeabstimmung unter den 15 Mitgliedern des Weltsicherheitsrats statt. Hinter dem bisher aussichtsreichsten Kandidaten, dem südkoreanischen Außenminister Ban Ki Moon und dem indischen Schriftsteller Shashi Tharoor landete "VVF" mit 7 Pro-Stimmen auf Platz 3.
Einen Asiaten - oder eine Frau?
Damit hat Vīķe-Freiberga wohl schon das maximal Erreichbare möglich gemacht: mit Ihrer Kampagne "Wählen Sie doch mal eine Frau in Ihren Männerklub", verbunden mit ihren Argumenten für mehr Transparenz in der UN, hat sie offensichtlich diejenigen Befürworter gefunden, die nicht anderen Ränkespielen verpfichtet sind. Ihre Chancen wirklich durchzukommen in allen Wahlgängen werden von den meisten eher gering eingeschätzt (so z.B. Tagesschau). Aber das eine Lettin so weit kommen kann, eigenen Themen so weitreichend Gehör verschaffen kann, und deren persönliches Ansehen ebenso in weiten Teilen der Welt so unumstritten zu sein scheint - das ist doch schon mal ein zufriedenes Zwischenfazit wert! Vaira Vīķe-Freiberga äusserte sich, lettischen Medien zufolge, zufrieden mit dem bisher Erreichten. Sie dankte allen Unterstützer/innen ihrer Kandidatur - besonders den beiden Nachbarn Estland und Litauen - und meinte, die Argumente für ihre Wahl seien wohl doch für einige stark und überzeugend genug gewesen.
Stressige Bewerbung
Sorgen machen muss man sich vielleicht nur um den Stress, den so eine Kampagne jetzt schon mit sich bringt. Bei allen aktuellen Pressefotos (siehe Beispiele links) macht die lettische Präsidentin momentan scheinbar nicht mehr den sonst so souveränen und ausgeruhten Eindruck. Vielleicht ist ihr ja schon jetzt bewusst, dass gerade diese Phase der "Vorentscheidungen" von ihr die meiste Energie fordern würde. Am kommenden Montag wird dann in der nächsten Runde zum ersten Mal mit farbigen Stimmkarten abgestimmt - die fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrats werden mit Sonderrechten ausgestattet. Wer dann eine der farblich gekennzeichnten Stimmkarten von den USA, Russland, China, Großbritannien oder Frankreich gegen sich hat - scheidet aus dem Rennen aus. Interessant sind auch die vielfältigen bisherigen Stellungnahmen, die durch die lettische Kandidatur hervorgerufen werden. Die britische BBC bescheinigte der prominenten Lettin immerhin einen "kometenhaften Aufstieg" in der internationalen Politik. Einige Medien (NTV, Businessnews), schließen immerhin auch ein Veto Chinas gegen den Südkoreaner Ban nicht aus.
Erwartete und unerwarte ReaktionenInteressant auch die Argumente, wie "sicher" angeblich ein Veto Russlands gegen die lettische Kandidatur ist. Deutsche Medien wie die TAZ weisen zurecht darauf hin, dass Vīķe-Freiberga absolut nicht zu den nationalistischen "Hardlinern" ihres Landes gezählt werden darf und sich schon mehrmals für die Berücksichtigung internationaler Menschenrechtsstandards in ihrem eigenen Lande eingesetzt hat - auch wenn es ihr vorübergehend zurückgehende Popularität unter ihren "Landeskindern" einbrachte.
Anders die Reaktion der russischen NOWOSTI - wie gewohnt, denn hier werden die äusserst negativen Erfahrungen der Balten mit der erneuten Besetzung ihrer Länder durch die Rote Sowjetarmee 1945 notorisch als "merkwürdige Geschichtsauffassung" hingestellt. Umso süffisanter titelt nun das russische Zentralorgan: "Lettland erwartet russische Unterstützung". Da meint man doch, die Alt-Stalinisten und Sowjetromantiker in- und außerhalb des Kreml schon laut lachen zu hören ...
Die lettischen Medien vermeldeten schon im Februar 2006 Äusserungen von russischer Regierungsseite, Russland werde niemals eine Kandidatur Vīķe-Freibergas bei der UN unterstützen. Aber zwischen "nicht unterstützen" und "nicht verhindern" könnten ja noch ein weites "diplomatisches" Feld liegen ....
Voraussichtlich wird nur die Farbe der Stimmkarte am Montag verraten, ob sich jemand gegen die Kandidatur aus Lettland ausspricht. Mehr wohl vorerst nicht - und alles andere als dieses Ergebnis wäre dann doch eine große Überraschung.
Reuters 28.9.06 Reuters 27.9.06 BBC lettische Tageszeitung DIENA lettische Nachrichtenagentur LETA (lett.) lettische Nachrichtenagentur LETA (engl. Fassung) N-TV 29.9.06 russische Nachrichtenagentur NOWOSTI LETA zu Meldungen von NOWOSTI Russland-Online (NOWOSTI 1:1 unkommentiert zitierend) BusinessNews 29.9.06 DIE WELT (DPA zitierend) TAGESSCHAU 28.9.06 Financial Times Deutschland Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 27.9.06 Frankfurter Rundschau online Hamburger Abendblatt 18.9.06 TAZ 18.9.06 Pressemeldung der Vereinten Nationen (UN) Rheinland-Pfalz-Online 16.9.06 DER STANDARD 15.9.06 Tagesanzeiger (Schweiz) online Erklärung von Vaira Vīķe-Freiberga zu ihrer Kandidatur (deutsche Textfassung) Der KURIER (Österreich) zitiert Kofi Annan, der sich für eine Frau als UN-Generalsekretärin ausspricht