4. September 2006

Lettland wirbt in Hamburg

Eine kurze Pause vom Parlamentswahlkampf machte Lettlands Ministerpräsident Kalvitis am Freitag, den 1.September 2006 in Hamburg. Zu Gast im Hause der Handelskammer Hamburg eröffnete er eine von lettischen und deutschen Banken gemeinsam mit der Stadt Riga initiierte Informationsveranstaltung zu Investitionsmöglichkeiten in Lettland. Bei den Gastgebern der Handelskammer Hamburg, einer Reihe deutsche Unternehmer aus dem Raum Hamburg, und den Mitarbeiter/innen des Hamburger Büros der lettischen Investitionsagentur LIAA fand er interessierte Zuhörer.

Wer schon einmal Gelegenheit hat, lettische Perspektiven und Wünsche aus erster Hand mitzubekommen, der lauscht vielleicht auf Zwischentöne. Denn die guten wirtschaftlichen Daten, die Lettland inzwischen zumindest beim Wirtschaftswachstum aufweisen kann (gegenwärtig das höchste aller EU-Mitgliedsstaaten - 10,2% im Jahr 2005), werden sich unter Fachkundigen inzwischen sowieso herumgesprochen haben. Die "Kehrseite" dieser Medaille macht momentan vor allem den Absichten Lettlands, den Euro einzuführen, Schwierigkeiten: "die Inflation ist gegenwärtig zu hoch, und lässt erwarten, dass der Euro nicht vor 2010 eingeführt werden wird" - so prognostiziert es zum Beispiel Martin Böhm von der HVB Bank Latvia.

Mentalitätsunterschiede?
Ein wenig schimmerten bei den verschiedenen Redebeiträgen von deutscher und lettischer Seite aber doch Mentalitätsunterschiede durch. Als "Plug & Play" (reinstecken, loslegen) wünschen sich Andris Ozols, Chef der LIAA Riga , und Ilgvars Francis, stellvertr, Leiter der Wirtschaftsverwaltung der Stadt Riga, die Herangehensweise von Investoren aus Deutschland. Martin Böhm (HVB Bank Latvia) zitierte dagegen genauso wie Roberts Stafeckis (AHK Riga) die Ergebnisse einer kürzlich durchgeführten Untersuchung der deutsch-baltischen Handelskammer in Riga, nach der die deutschen Geschäftsleute immer noch den hohen Einfluß lettischer Bürokratie im alltäglichen Geschäftsumgang beklagen. In den Reden der deutschen Wirtschaftsvertreter wurde ausserdem deutlich, wie sehr die deutsche Sichtweise immer noch die Brückenfunktion Lettlands zu Russlands als Geschäftsgrundlage voraussetzt. Dieser automatischen Betonung russischer Faktoren im Putin-freundlichen Deutschland versuchen lettische Amtsträger inzwischen mit ausgefeilter Rethorik zu begegnen. Ministerpräsident Kalvitis pointierte "our linguistic advantages", Rigas stellvertretender Bürgermeister Almers Ludviks, im Stadtrat Vertreter einer Partei, die rechtskonservative Werte besonders betont, konnte die Formulierungen ausgefeilter Powerpoint-Technik für sich sprechen lassen: "We are a multilingual city. Russian, English and German are widely spoken..."

Großstadt erleben, Natur erhalten?

Auch im Vortrag von Žaneta Jaunzeme, an mehreren Firmen beteiligte lettische Touristikerin, lenkte die Aufmerksamkeit der potentiellen Geschäftspartner nur kurz auf die durchschnittliche dünne Besiedlung Lettlands, auf die Ruhe und Beschaulichkeit, die vielfach in den lettischen Naturlandschaften anzutreffen sind. "Dort können Sie mehr Energie tanken, als Ihnen das Öl je geben kann!" So der von ihr geprägte Ausruf. Ob sie dabei an das litauische Mažeikiai gedacht hat, wo gerade die russischen Lieferanten die Ölpipeline "wegen dringender Reparaturen" völlig geschlossen haben (nachdem als Partner für Investitinoen in die dortige Raffinerie nicht ein russisches, sondern ein polnisches Unternehmen ausgewählt wurde)?

Ebenfalls nicht die Rede war vom Bestreben vieler in Riga erfolgreicher Jungunternehmer,
sich mit allen (legalen und illegalen) Mitteln Grundstücke direkt an Lettlands (eigentlich vor Verbauung gesetzlich geschützter) Ostseeküste zu beschaffen. Lettischerseits rechnet man wohl sowieso mit einem Naturverständnis, wie es eben vielbeschäftigte und gut verdienende Leute in Deutschlands Großstädten haben: auch das, was zwischen Autobahnen und industrieller Nutzung noch übrig bleibt, ist gewöhnlicherweise geordnet, sortiert, gezählt und garantiert umweltfreundlich.

Neue Trends - europäischer Einfluss
In Lettlands Medien macht diesertage der Beschluss der polnischen Regierung die Runde, den Zuzug von Hilfskräften aus Weißrussland und der Ukraine nicht mehr durch Visavorschriften einzuschränken. Steht Ähnliches auch in Lettland bevor?
Zwar steht jungen lettischen Universitätsabsolventen - auch durch Kooperationsabkommen mit deutschen Hochschulen und Industrieunternehmen - heute die Welt offen. Aber allzu oft richten sie sich dann trotz durchaus vorhandener Heimatverbundenheit "nach dem Markt" - also danach, wo ihnen gut dotierte Stellen angeboten werden. Die lettische Zeitschrift REPUBLIKA fasste es in einem Artikel in der Nummer 25 (4.8.2006) treffend zusammen: Lettland ist das EU-Land mit dem steilsten Wirtschaftsaufschwung und den niedrigsten Löhnen. Die Gegensätze wachsen also, und niemand möchte mehr zur "falschen" Seite gehören. Lediglich 129 Euro wird in Lettland als minimaler Monatslohn gezahlt - da zieht es Zehntausende bereits lieber als Hilfsarbeiter nach Irland (Minimallohn 1293 Euro).

Kein Wunder also, dass Martin Böhm für die Klienten seiner HVB Bank in Riga bereits Facharbeitermangel registrieren muss. Als weiterhin auffällig referierte Böhm auf der Hamburger Veranstaltung die weiter stark zunehmende starke Verschuldung privater Haushalte in Lettland. Jedes Jahr steige die private Kreditvergabe der Banken um 30-40%. Konsumsteigerung auf Pump?
Trotz aller schönen Zahlen und Statistiken wird man sich also um die Nachhaltigkeit des lettischen Wirtschaftswachstums Sorgen machen dürfen (und müssen).

Optimismus - eine Berufskrankheit?
Lettland-Freunde werden den von vielen aktiven und tatkräftigen lettischen Geschäftsleuten offen zur Schau getragenen Optimismus kaum kritisieren wollen. Nur allzu oft krankte die lettische Selbstdarstellung im Ausland in den vergangenen Jahren an mangelnder Professionalität und falsch verstandener Höflichkeit gegenüber wirtschaftlich potentiellen Finazgebern.
Nur allzu sehr ist auch bekannt, wie wenig Alternativen Lettland hat: sozialistischen Bauernfängern werden die Letten so schnell ebenso wenig wieder in die Arme fallen wollen wie allzu europafreundlichen Illusionisten. Bei aller Sympathie für eine notwendige positive eigene Perspektive für Lettland ist damit auch genug Grund gegeben, die Letten bei ihren energischen Anstrengungen, ihr Land umzustruktuieren und eigenständig zu verwalten, von deutscher Seite auch genauso entschieden zu unterstützen.

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