31. August 2018

Migrierendes Returnierpotential

Wer sich für Lettland in Europa interessiert, und noch dazu etwas Lettisch versteht, wird sich vielleicht oft schon gewundert haben, wie sich Lettinnen und Letten eigentlich fühlen, die in anderen Ländern Europas leben. Aus lettischer Sicht drehen die Deutschen das Thema um: es wird darauf geschaut, wie viele Zuwanderer (= Flüchtlinge) Lettland aufnimmt. Die Bilanz ist jedenfalls klar im negativen Bereich: immer noch verlassen Lettinnen und Letten ihr Land, in erster Linie auf der Suche nach angemessen bezahlter Arbeit. Und die gegenwärtige lettische Regierung, deren Amtszeit in wenigen Wochen endet, sieht sich einem dauernden Vorwurf ausgesetzt: warum wird es großen Firmen so leicht gemacht, in Lettland Steuern zu sparen, Land zu kaufen, und die Verdienste daraus in die eigene Tasche zu stecken - wenn gleichzeitig eine große Zahl der eigenen Bürgerinnen und Bürger keine Möglichkeit finden im eigenen Lande zu überleben?

Weggegangen, vergessen?

Dabei scheint aber die Zeit vorbei, als den Arbeitsmigrant/innen nur moralische Vorwürfe und Anklagen hinterherhallten. Im Parlament wird ein "Diaspora likums" diskutiert - ein Gesetz zur Unterstützung von lettischen Volksgruppen im Ausland. Ein Vorhaben, das nicht unumstritten ist. Warum werden nicht diejenigen unterstützt, die im Lande blieben, fragen sich manche, statt dessen aber die anderen, die ja offenbar anderswo inzwischen eigentlich anderswo gut verdient und ein schönes Leben hatten?

Rund um das Gesetz gibt es viele Unklarheiten. Das fängt schon beim ersten Satz, in §1 des Gesetzentwurfs an: Diaspora, das seien hiernach "zu Lettland zugehörige Gemeinden oder Individuen, die sich zugehörig zu Lettland erklären" (ārpus Latvijas pastāvīgi dzīvojoša Latvijas piederīgo kopiena un indivīdi, kuri savu piederību saista ar Latviju). Gründe der Zugehörigheit bleiben unklar, werden auch nicht zur Kontrolle vorgesehen. Hier passt die Bezeichnung "Tautologie" im doppelten Sinne: ("Tauta" lettisch = Volk) so bin ich Lette, oder ich bin Lette. Vermieden wird hier, von "Abstammung", "lettischem Blut" oder von "Staatsbürger" zu reden. Lediglich §14 bekräftigt, dass die Regelungen zum Erwerb der Staatsbürgerschaft auch in der Diaspora bekannt gemacht werden sollen. 

Projekte schreiben, Gruppen leiten lernen:
Trainingslager fürs Netzwerken mit der Heimat
In §5, der die Aufgaben der neuen "Diaspora-Politik" beschreiben soll, ist zwar von einer "lettischen Identität" die Rede, die gestärkt werden soll. An anderen Stellen dagegen bleibt es bei "Lettland" - zum Beispiel wenn von besserer Zugänglichkeit der "Kultur, Kunst und Musik Lettlands" in Aussicht gestellt wird.

Wurzeln schlagen, Wurzeln erhalten

Die förderungswürdigen Aktivitäten allerdings wirken eindeutig: Vieles dreht sich um Kenntnisse der lettischen Sprache. Auch Veranstaltungen für Jugendliche und Kinder sollen gefördert werden, darunter Austauschprogramme von "Diaspora-Kindern" mit Partnern in Lettland.

Einige ungewöhnlich klingenden Ziele sind hier zu finden. So soll auch "Unternehmertätigkeit" von Letten im Ausland in die Förderprogramme des lettischen Wirtschaftsministeriums eingebunden werden, und zwar besonders dort, wo es um die Erhöhung der Exportquote Lettlands, die Gästezahlen im Tourismus, ausländische Investitionen in Lettland und neue Technologien geht. Ganze acht (!) Ministerien sollen in die Umsetzung des "Diaspora-Gesetzes" eingebunden werden: das Außen-, Innen-, Kultur-, Bildung-/Wissenschafts-, Wirtschafts-, das Umwelt-, Gesundheits- und das Wohlfahrtsministerium. Vor allem ein Bürokratie-Monster also? 

Zusätzlich werden auch einzelnen Städten und Gemeinden in Lettland eigene Möglichkeiten eingeräumt, selbst Maßnahmen zur Unterstützung der "Diaspora" zu treffen - auch wenn es lediglich um "informelle oder nicht registrierte Initiativgruppen oder Interessenvereinigungen" geht.

Viel Handlungsfreiheit also für diejenigen, die das Geld ausgeben und bewilligen. Die Gesamtkoordination soll ganz beim lettischen Außenministerium verbleiben - es bleibt also eine staatlich streng kontrollierte Unterstützung. Zwar soll ein "konsultativer Beirat" gebildet werden, über dessen Zusammensetzung entscheiden aber wiederum ausschließlich die staatlichen Behörden. Ebenso bleibt die Festsetzung der Prioritäten ganz in staatlicher Hand. Zwar sollen "Diasporas pārstāvji" (Vertreter der Diaspora) an der Umsetzung der Maßnahme "mitwirken" - gemeint sind dabei aber lediglich unverbindliche  "Möglichkeiten" - keine Rechte, nicht einmal demokratischen Strukturen der Beschlußfassung oder der Wahl von Vertretern sind vorgesehen.

Slogan von Lettlands gegenwärtig aktivsten "Remigranten"-
Organisation: "Mit der Erfahrung der Welt in Lettland"
In Kraft treten soll das Gesetz im Laufe des Jahres 2019. Im Mai 2018 wurde der Gesetzentwurf im lettischen Parlament (Saeima) eingebracht.
Schätzungen zufolge leben etwa 240.000 Lettinnen und Letten (ca.15%) inzwischen dauerhaft außerhalb der Grenzen Lettlands. Im Ausland lebenden Lett/innen soll in Zukunft erlaubt werden, eine zweite Kontaktadresse in Lettland anzumelden, auch wenn es nicht der ständige Wohnsitz ist.

Remigranten gesucht

Bereits gegründet wurde an der Lettischen Universität in Riga ein "Migrations- und Diaspora-Forschungszentrum" ( LU Diasporas un migrācijas pētījumu centrs). Dort wurden u.a. die Regelungen anderer Länder untersucht. Andere Untersuchungen nehmen die Kommunikationsstrukturen in den Fokus. Über 90% der 15-34-Jährigen Lett/innen im Ausland nutzen Facebook - an solche Quoten kommen auch rein Lettischsprachige Internetforen wie "draugiem" oder "Latviesi" nicht heran, auch bei den Älteren ist Facebook das meist genutzte Portal. 

Beliebte Form innerlettischen Austausches: mit "3x3"
sind hier Treffen von drei Generationen gemeint
Inzwischen werden eine Reihe Schulungen angeboten. Kurse für "Projektbeantragung und Leitungstraining" scheinen praktisch orientiert, da es ja in Zukunft Geld für Projekte geben soll. Andere Workshops sind überschrieben mit "Ich bin ein Lette", oder "Aufklärung über Fake News in Lettland".

Ob allerdings die gegenwärtige Diskussion um ein "Diaspora-Gesetz" wirklich praktische Veränderungen bringen wird, muss sich erst zeigen. Für Kritiker ist das Thema auch einfach ein Werbemittel der gegenwärtigen Regierungsparteien, um Lett/innen im Ausland zur Teilnahme an der Parlamentswahl im Oktober zu bewegen - 2014 beteiligten sich nur 26,4% der Auslandsletten. Wer nach dieser Wahl aber die Überlegungen weiterführen wird, muss sich dann zeigen. Schon jetzt ist erkennbar, dass einigen Parteien der Sturz der gegenwärtigen Regierung weitaus wichtiger wäre als die Umsetzung eines "Diaspora-Gesetzes" - denn nur die gegenwärtige Regierung sei schuld daran, dass so viele ins Ausland gehen.
In einem Punkt gibt es schon jetzt etwas Neues: in lettischen Wörterbüchern hat das Wort "Remigracija" (Rückkehr von Emigranten) neu Aufnahme gefunden.

14. August 2018

Mit 16 kann man noch losen

Erst losen, dann wählen: lettische Demokratie-Rituale
Das lettische Wahlgesetz legt den Termin für die lettischen Parlamentswahlen automatisch fest: es muss immer am ersten Samstag im Oktober sein. Also wird es in diesem Jahr der 6.Oktober 2018 sein. Einige Monate vorher findet eine für deutsche Augen und Ohren vielleicht ungewöhnliche Zeremonie statt: die Vertreterinnen und Vertreter aller zugelassenen Wahllisten kommen mit dem Wahlleiter zusammen, um eine Art "Lotterie" zu veranstalten: die Startplatzvergabe.

Weiterhin viele fantasievolle Parteinamen

Bis zum 8. August mussten die Parteien ihre Kandidatenlisten abgegeben haben. Nun wissen die Wählerinnen und Wähler auch die "Startnummern" - sechzehn Listen insgesamt, drei mehr als bei der Wahl 2014.
Dieses Jahr wird es die "Latvijas Krievu savienība" LKS (Vereinigung der Russen Lettlands) sein, die sich nun auch "Liste 1" nennen kann - auf der "Pole-Position", sozusagen.
Es folgen als Nr. 2 die "Jaunā konservatīvā partija" (Neue Konservative Partei), als Nr. 3 die "Rīcības partija" (Aktions-Partei). Die "Nacionālajai apvienībai 'Visu Latvijai!' / Tēvzemei un Brīvībai/LNNK" (Nationale Vereinigung Alles für Lettland / für Vaterland und Freiheit LNNK) ist die Nr. 4. Es folgen die "Progressiven" auf Startplatz 5, ("Progresīvie"), "Lettlands Zentristische Partei" (Latvijas Centriskā partija) als Nr. 6, und der Abkürzungs-Zungenbrecher "LSDSP/KDS/GKL" als Nr. 7, eine Vereinigung aus den drei Parteien “Latvijas Sociāldemokrātiskā strādnieku partija” ("Lettlands sozialdemokratische Arbeiterpartei"), “Gods kalpot mūsu Latvijai” ("Ehre unserem Lettland zu dienen") und der “Kristīgi Demokrātiskā Savienība” ("Christlich-demokratische Vereinigung") - alles zusammen nennt sich nun "SKG".
Wenn nur die anderen lachen - dann ist wohl gerade
die 13 gezogen worden
Damit nicht genug: auf Startplatz Nr. 8 steht noch "Von Herzen für Lettland" ("No sirds Latvijai") zur Wahl, als Nr. 9 die "sozialdemokratische Partei Saskaņa" (die deutsch gern mit "Harmonie-Partei" übersetzt wird), und Nr. 10 ist die "Entwicklung / Dafür" (Attīstībai/Par). Die "Lettische Vereinigung der Regionen" (Latvijas Reģionu apvienība) loste sich selbst die Nr. 11, auf Liste 12 stehen noch die "Lettischen Nationalisten", und die - vielleicht ungeliebte - Nr. 13 erhielt "Neue Einheit" ("Jaunā Vienotība"). Und damit noch nicht genug: als Nr. 14 startet "Par alternatīvu" ("Für eine Alternative"), die Partei auf Startplatz 15 nennt sich "KPV LV", und ganz zum Schluß, mit der Nummer 16, kommt die gemeinsame Liste der Bauernpartei mit den Grünen (Zaļo un zemnieku savienība).

Weitere Regeln waren zu erfüllen. Inzwischen gilt die Vorschrift, dass Parteien, die sich zur Wahl stellen möchten, mindestens ein Jahr vor dem Wahltermin gegründet sein und mindestens 500 Mitglieder stark sein müssen.

Symbolik abgespeckt

Aufgrund der eingereichten Listen wurden auch schon einige statistische Auswertungen vorgenommen: diesmal sind 31,7% der zur Wahl Stehenden weiblich. 1470 Kandidatinnen und Kandidaten bewerben sich für die 100 Sitze im lettischen Parlament, der Saeima - das ist die höchste Zahl seit 1993. Der Wahlbezirk Rīga wird im künftigen Parlament 35 Abgeordnete stellen, Vidzemes 25, Zemgales 14, Latgale 14 und in Kurzeme wird über 12 Sitze entschieden werden.

Eine andere Tendenz scheint zu sein - um mal beim rein Formellen zu bleiben: kaum jemand setzt noch auf ein allzu eindeutiges Parteisymbol. Einmal ein Baum, einmal zarte Blütenblätter, dann die stilisierte Weizenähre, und zweimal sind lettische Ornamente im Einsatz - das ist schon alles. Andere Parteilogos setzen nur noch auf geometrische Anordungen, Linen (möglichst aufwärts weisend), oder - besonders die neu gegründeten Parteien - auf eine schicke Parteifarbe. Einzig die winzige "Alternative" (Nr. 14) gibt Rätsel auf: ein Zahnrad mit Hammer und Feuerfackel (wenn ich es richtig erkannt habe). Farblich sind 10 der 16 Parteien ganz oder teilweise auf ROT fixiert - zweimal gibt es pures Blau, einmal pures Gelb, einmal hellgrün.

Spaltung der Generationen?

Schauen wir uns nur mal diejenigen Parteien näher an, die beim Frauenanteil oder beim Alter der Kandidat/innen herausstechen. Da gibt es krasse Extreme. Den geringsten Frauenanteil (18,9%) hat diejenige Partei, bei der gleichzeitig 51,3% aller Kandidat/innen älter als 60 Jahre sind: die Partei, die sich "Alternative" (Nr.14) nennt. Was hier auf dem Programm steht: Wiedereinführung der Todesstrafe, Austritt aus der EU plus Schuldenschnitt für Lettland, "Verschlankung" des Staatsapparates um 90%, Steuerfreiheit für die Landwirtschaft und ein Verbot für alle Minster Parteien anzugehören. Außerdem die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland, da schon Donald Trump gesagt habe: "Ein Idiot, wer nicht Freund ist mit Russland".
Eine weitere Partei tritt mit auffälligem Anteil von Kandidat/innen im Pensionsalter an: bei den "Lettischen Nationalisten" (Nr.12) sind 48,5% der Bewerber über 60 Jahre alt. Hier steht erstaunlicherweise weder der Austritt aus EU noch NATO auf dem Programm.

Erstaunlich vielleicht, dass gerade bei der gemeinsame Liste der Grünen und Bauern (ZZS) nur 2 Menschen unter 30 Jahren sich anbieten (0,9%) - Minusrekord! Gleichzeitig werden hier nur 21.1% Frauen aufgeboten, die zweitniedrigste Zahl aller Listen. Ist es ein Zeichen dafür, wie etabliert und mit alten Kadern durchsetzt diese Partei inzwischen ist? Sie stellt gegenwärtig den Ministerpräsidenten.

Dringend gesucht: Polit-Helden mit
Wiederwahl-Potential
Die meisten jungen Kandidat/innen unter 30 Jahren hat die "KPV LV" vorzuweisen (Nr. 15). Manche bezeichnen sie auch als "Ein-Mann-Partei", denn bekannt ist vor allem das Gesicht von Arturs (genannt: Artuss) Kaimiņš, Schauspieler und Radiojournalist, der seine politische Karriere mit einer im aggressiven Stil durchgeführten Solo-Interviewshow nach dem Motto "Ich entlarve euch alle" vorbereitete. Da wurden Studiogäste auch schon mal heimlich gefilmt, und auf Youtube erreichte dies mehrere Zehntausend Zuschauer. Also eine Partei, die auch durch die Konzentration auf "soziale Medien" besonder viele junge Leute erreicht - die offenbar auch zu Kandidat/innen werden. Hier ist nur ein einziger Kandidat über 70 Jahre alt, weitere vier über 60 - das sind 4,4% insgesamt. Stattlliche 20% sind allerdings jünger als 30 Jahre alt, 61,7% unter 40 Jahren.

Probleme bei alten wie auch bei jungen Leuten hat offenbar die "Neue Einheit" (Nr.13), die mit Valdis Dombrovskis und Laimdota Straujuma auch mal erfolgreiche Ministerpräsidenten stellte, sich dann aber mehrfach spaltete. Offenbar sind hier sowohl die älteren Engagierten verloren gegangen wie auch keine jungen Leute dazu gekommen. Hier ballt sich das Kandidatenalter in der "Mittelschicht": 76,6% sind zwischen 30 und 60 Jahren alt.

Zumeist unentschieden

Aktuellen Umfragen im Juli 2018 zufolge hält momentan die “Saskaņa” (Nr.9) mit 21,4% Wählerzuspruch die Spitze, gefolgt von den "grünen Bauern" (ZZS, Nr.16) mit 12,4%, aktuell Regierungspartei. Dann folgt schon die KPV LV (Nr.15) mit 7%, gefolgt von der zweiten aktuell mitregierenden Partei, der "nationalen Vereinigung" (Nr. 4) mit 6,8%. 4,4% sprechen sich für die neu gebildete "Entwicklung - dafür" (Nr.10) aus, die teilweise die Scherben der alten Regierungspartei "Vienotiba" aufgesammelt hat. Meßbar sind auch noch 3,9% Zustimmung für die "Neuen Konservativen" (Nr.2) und 2,9% für die "Neue Einheit" (Jauna Vienotība, Nr. 13). (lsm) Alles zusammengerechnet ergibt das nur 58,8%. Was wählt der Rest? Viele lieben eben weder Parteien noch Politiker/innen, gehen aber aus demokratischem Pflichtgefühl zur Wahl. Aber wie sie entscheiden werden? Gegenwärtig steht ein sehr "buntes" Wahlergebnis in Aussicht.

Mehr zu den Kandidat/innen-Listen gibts bei der Lettischen Zentralen Wahlkomission.