23. Juni 2008

Der verlorene Sohn ...

... und Zuverlässigkeit lettischer Behörden

Lettland horcht auf, ist erstaunt, erschüttert. Vor 16 Jahren war einer jungen Frau in Daugavpils, der zweitgrößten Stadt des Landes nahe der weißrussischen Grenze während des Einkaufs der vor dem Geschäft abgestellte Kinderwagen samt Säugling entführt worden. Die Polizei konnte den Fall nicht aufklären, doch die Mutter hatte all die Jahre erklärt, sie sei überzeugt davon, daß ihr Kind lebe, und zwar gar nicht weit entfernt.Nun stellte sich heraus, daß die Frau Recht hatte. Der verlorene Sohn wurde gefunden. Allerdings nur durch einen Zufall. Die den Jungen während dieser Jahre erziehende Dame mußte sich wegen eines anderen Vergehens vor Gericht verantworten und konnte für ihren Sohn weder einen (in Lettland existierenden) Personenkode angeben, noch seine Existenz durch eine Geburtsurkunde nachweisen.Diese Umstände werfen ein fahles Licht auf den lettischen Staat. Daß die Polizei das Kind nicht hatte finden können – der verlassene Kinderwagen wiederum war damals kurz nach der Entführung in einem Treppenhaus nahe des Geschäftes wieder aufgetaucht – mag vielleicht noch weniger überraschen, denn Säuglinge sehen sich ähnlich und sind schwierig zu suchen. 

Was aber verblüffender ist, der Junge lebte tatsächlich all die Jahre in seiner Heimatstadt, und weder Arztbesuche noch Schulanmeldung stellten auch ohne Geburtsurkunde ein Problem für die Ziehmutter dar.Vor diesem Hintergrund mögen ihre eigenen Rechtfertigungen, der inzwischen verstorbene Mann habe das Kind eines Tages mitgebracht und behauptet, er habe es aus Dagestan geholt, schon gar nicht weiter verwundern. Es kann ja sein, daß diese Frau so naiv ist, daß sie ihrem Mann keine weiteren Fragen stellte, etwa, wer die Mutter des Kindes ist und er eventuell sogar der uneheliche Vater. Auch mag man glauben, daß die Frau intellektuell nicht in der Lage war zu begreifen, daß 1992, bereits ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Übersiedlung eines Kindes aus dem zu Rußland gehörenden Dagestan in das nunmehr unabhängige Lettland ohne Papiere wenig glaubwürdig klingt. Der Säugling kann schließlich schlecht im Koffer eingeführt werden. Angesichts dieser Umstände liegt natürlich die Vermutung nahe, daß die Frau das Kind doch selbst entführt hat.In der Politikwissenschaft wird seit den 90er Jahren mit neuen Begriffen operiert. Defekte Demokratien, schwache oder gescheiterte Staaten wurden als Bezeichnungen eingeführt, um zu kategorisieren, in welchen Staaten die offizielle demokratische Ordnung keine wirkliche Mitbestimmung für die Einwohner garantieren oder wo die Regierung ihre Staatsgewalt nicht zu Gunsten aller Bürger ausübt respektive überhaupt dazu nicht in der Lage ist. 

Einstweilen gilt Lettland für keine dieser Phänomene als Beispiel. Innerhalb der EU entwickelt es sich jedoch den Standards entsprechend mehr und mehr zum Sorgenkind.Die lettische Regierung muß sich nach den Geschehnissen in Daugavpils die Frage gefallen lassen, ob sie einen funktionierenden Staat lenkt, ob die Behörden ihre Aufgaben erfüllen, schließlich handelt es sich hier nicht um einen einfachen Korruptionsfall. Und dies geschieht ausgerechnet im Jahre eines runden Geburtstages. Lettland feiert im November den 90. Jahrestag der Proklamation der Unabhängigkeit. Die international nie anerkannte Inkorporation in die Sowjetunion hat die Staatlichkeit juristisch nicht unterbrochen, weshalb die Letten sich auch nicht in einer zweiten Republik sehen.Der Geburtstag fällt generell in eine Zeit, in der die Bevölkerung ihrer politischen Führung nach den Skandalen in Jūrmala, dem Fall Gulbis, der geplanten Änderungen im Gesetz über die nationale Sicherheit und schließlich der versuchten Absetzung des Chefs der Anti-Korruptionsbehörde zutiefst mißtraut, was das Faß im Herbst vergangenen Jahres zum Überlaufen brauchte. Es folgte die sogenannte „Regenschirmrevolution”, das erste Mal seit der Zeit des „Nationalen Erwachens“ unter Gorbatschow gingen die Menschen wieder auf die Straße; viele Letten sahen darin ein déjà vu, obwohl es doch einen wesentlichen Unterschied gab: damals demonstrierte man für die eigene Regierung, dieses Mal gegen sie. Erst mit diesem Ereignis erkannten die benachbarten Esten, daß Lettland innenpolitisch ganz anders funktioniert als ihr eigenes Land, wovon die öffentliche Meinung bis dahin nicht ausgegangen war. Was zunächst wie der Ausdruck einer funktionierenden Zivilgesellschaft aussieht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß infolge von fast 60 Jahren Diktatur – bereits vor der sowjetischen Okkupation auch während der autoritären Herrschaft unter Kārlis Ulmanis – in der Gesellschaft Spuren hinterlassen haben. 

Die Bevölkerung sehnt sich weniger nach mehr Mitbestimmung als nach dem starken Mann.Daß nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 die Letten so wie die baltischen Nachbarn zunächst auf ihr Schicksal hingewiesen haben, ist verständlich, denn jahrzehntelang durfte darüber nicht gesprochen werden. Nunmehr wird die neue Unabhängigkeit bald volljährig, und Lettland muß den Vergleich mit Estland zu scheuen beginnen. Während die Regierung dort umfassende Reformen durchführte, blieben solche In Lettland in vielen Bereichen aus. Die Bewertung Lettlands in internationalen Publikationen bezüglich der Korruption ist schon lange die positivste nicht. Nun aber schlittert das Land außerdem auch noch in eine handfeste ökonomische Krise. Die Politik hat ihre Hausaufgaben nicht nur nicht gemacht, sondern sie geflissentlich ignoriert und sich statt dessen so intensiv mit sich selbst und der Monopolisierung der Macht beschäftigt, daß nicht einmal der Moment, als sogar den politisch den passiven Letten der Kragen platzte, sichtbare Folgen zeitigt. Es ist weitgehend alles beim Alten geblieben und wieder ruhig geworden. Nunmehr wird anhand dieser Kindesentführung greifbar, daß im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen ist, wenn sich dieser vorwiegend vergangenheitsbezogen als Heulsuse profiliert. 

In Lettland gibt es zwar keine Inflationsbekämpfung aber klare Vorschriften, an welchen Trauertagen, und das sind zahlreiche geflaggt werden muß – üblicherweise zur nationalen Trauer auch mit Trauerflor. Nun möchte man meinen, daß Flaggen an öffentlichen Gebäuden zu verschiedenen Daten kein Problem darstellen, aber anstelle mit Familien-, Bildungs- oder Gesundheitspolitik beschäftigen sich die Behörden mit der Verfolgung des Verstoßes dagegen, daß nämlich auch an Privatgebäuden geflaggt werden muß. Dafür zuständig ist die Munizipalpolizei, die als eine Art aufgerüstetes Ordnungsamt statt um Gewalt in der Familie oder Schlägereien vor Diskotheken zu kümmern weitere völlig unsinnige Vorschriften wie das Verbot des Alkoholkonsums auf der Straße und den Verkauf während der Nacht überwacht. Statt den Alkoholismus einzudämmen, versammelt diese Maßnahme das einschlägige Publikum in der Nähe von Geschäften mit Ausnahmegenehmigungen – und die muß es natürlich geben, denn sonst wäre der Korruption die Grundlage vollkommen entzogen. Die Staatsgewalt setzt diesen grundlegenden Problemen, Aggressionen als Demonstration der Transformationsgewinner wie auch Protest der Transformationsverlierer kaum etwas entgegen. 

Darum haben die in Lettland allgegenwärtigen Verkehrsrowdies auf Landstraßen, wo die Straßenverkehrsordnung weniger gilt als das Recht des größeren Wagens – gerne auch einmal ein Hummer – meistens freie Fahrt. Zurück zu dem Fall des entführten Jungen, dessen Entdeckung auch durch die internationale Presse ging. Die Bevölkerung in Lettland reibt sich besonders deshalb verwundert die Augen, weil Paragraph 126 des Strafgesetzbuches die Verjährung der vorliegenden Tat nach zehn Jahren vorsieht, die in Haft sitzende Ziehmutter also für diese Tat nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden kann.Der Junge, welcher 16 Jahre lang von seiner Ziehmutter Ruslan gerufen wurde, hegt keinen Haß gegen sie, hat nunmehr seine leibliche Mutter mehrfach getroffen und erfahren, daß er eigentlich Vladimir heißt. Zukünftig, so sagte er, wolle er beide Namen tragen. Wo er leben wird, ist einstweilen noch offen und abhängig von seiner Entscheidung. Sei leiblicher Vater, der inzwischen mit einer anderen Frau zusammen lebt, würde ihn auch zu sich nehmen wollen. Ruslan Vladimir, der sich langsam an die neue Situation gewöhnt, klagt darüber, daß die Psychologen ihn eher störten als Unterstützung bedeuteten, derweil der schwerste Schlag für ihn darin besteht, daß sich viele Freunde von ihm abgewandt haben.

12. Juni 2008

Irland stimmt ab - Lettland sehnt sich nach Abstinenz

Irland stimmt über den neuen EU-Vertrag ab. Zehntausende Lettinnen und Letten sollen inzwischen - günstige Arbeitsmöglichkeiten und besserer Löhne als im Heimatland locken - in Irland zumindest vorübergehend ihren "Lebensmittelpunkt" gefunden haben. Aber Diskussionsbeiträge zur irischen Haltung gegenüber der EU wird man lange suchen müssen. Zu groß ist wohl die Angst, selbst zum Thema zu werden (lettische Billigarbeiter Schuld an Arbeitsligkeit in Irland?). Oder man schließt sich der Idee der lettisch-irischen Webseite "Baltic-Irland" an: am besten wäre eine eigene Insel für Esten, Letten und Litauer zusammen. - Ein Teil der lettischen Presse in Riga meint jedoch ganz klar zu sehen, was Lettland von Irland hat: in erster Linie besoffen herumtorkelnde irische Touristen, die in Riga gern auch mal über die Stränge schlagen und alle anderen gehörig annerven.

Das solche Schlagzeilen in Lettland existieren (siehe TVNet 12.Juni), hat nun auch die irische Presse bemerkt: "We're sick of all you Irish drunks" werden dort Aussagen von genervten Rigensern zitiert, und die lettische Presse registriert es mit Befriedigung. Aussagen von irischen Touristen werden zitiert: "Wo Bier ist, da trinkt der Ire es auch!" Im vergangenen November sie ein irischer Tourist schon mal daran gehindert worden, Lettland wieder zu verlassen - da er eine gegen ihn verhängte Geldstrafe von 700 Lat noch nicht bezahlt habe. Nun könnten es auch Gefängnisstrafen sein, wenn sich der "Houliganismus" wiederholt. Die Schilder "no stag parties" hängen in Riga vielerorts, und der lettische Innenminister Mareks Segliņš bezeichnete die irischen und britischen Sauftouristen auch schon mal als "Schweine".

Die Botschaften beider Länder bemühen sich inzwischen, Informationen zu "verantwortungsvollem Tourismus" zu verbreiten - vor allem an den Flughäfen. Im Internet, in Blogs und auf den Seiten der Medien, dort finden sich dann auch entsprechende Kommentare (TVnet). Auch Letten würden sich ja gern mit billigem Alkohol versorgen - vor allem Männer - wenn es irgendwo nur hübsch gemütlich und möglichst schön sonnig ist, so heißt es da. - Bei den Letten in Irland taucht die Bezeichnung "austrumu gudrais" auf (so etwa wie "Klugscheißer aus dem Osten") - für diejenigen die meinen, nur die Iren hätten immer die Schuld (Baltic-Irland.eu). Viele befürchten, dass der ganze Vorgang im Grunde nur wieder ein besseres Image Lettlands in Europa verhindert. Gründe werden auch genannt: Billigflieger nach Riga, billiger Alkohol und "billige Frauen", Mangel an öffentlichen Toiletten im Stadtzentrum von Riga.

Zur Nebensache wird da offenbar, ob die Menschen in Irland sich heute für oder gegen den EU-Vertrag aussprechen. Iren als "EU-Gegner", die dann die sich daraus ergebenden Vorteile nicht sofort ausnutzen (z.B. Reisefreiheit, gemeinsame Währund), können sich Letten wohl nur schlecht vorstellen. Liegt es daran, dass die Letten selbst inzwischen fast alle paar Wochen eine neue Volksabstimmung über irgendein Thema haben, und dennoch niemand glaubt, dass dadurch plötzlich alles besser werden könnte?

6. Juni 2008

Ostseerat in Riga: Politik ohne M und M

Nur alle zwei Jahre treffen sich die Regierungschefs der Ostseeanrainerstaaten zum sogenanten "Ostseegipfel". Da liegt der Gedanke nah, es könnte so etwas wie der Höhepunkt der Zusammenarbeit im Ostseeraum sein.
Doch weit gefehlt: die Zeiten haben sich geändert. Die Ostsee- region wirkt eher wie "globali- siert" - Beamte, Mandats- träger und Wirtschaftsmanager fliegen ständig hin und her, persönliche Treffen scheinen für die Diplomatenprofis alltäglich und unwichtig geworden zu sein. Und - das kennen nun die Nachbarn an der Ostsee zur Genüge - aus deutscher und aus russischer Sicht ist es immer noch eine Frage der Rang- und Reihenfolge. Riga ohne M & M - Merkel und Medwedjew. Sorry, Riga: wenn Putins Marionette uns als ersten in Westeuropa die Ehre eines Besuches geben will - dann müssen wir so ein Regionaltreffen in der lettischen Haupstadt eben sausen lassen ...

Gibt es die Ostsee aus deutscher Sicht überhaupt noch? Es hatte den Anschein, als ob auch alle deutschen Journalisten schon auf den Treppen- stufen des Berliner Kanzler- amtes warteten - Ostseerat? Was kann es da schon Neues geben?

"Ohne Merkel und Putin, aber mit Gazprom und Ruhrgas" - so titelte die lettische Zeitung "Neatkarīga" (3.6.08). Nein, der Ostseegipfel sei durch die Abwesenheit der deutschen und russischen Regierungsspitzen nicht beeinträchtigt, beeilte sich Aussenminister Riekstins der lettischen Presse zu erklären. "Unser Land gewinnt schon dadurch, dass wir eine solch hochrangige Konferenz überhaupt ausrichten, und nebenbei sorgen wir noch dafür, dass wichtige Wirtschaftskontakte geknüpft werden können," - so sah es Wirtschaftsminister Kaspars Gerhards (NRA 3.6.08).

Genügsame Letten. Gut, die Verkehrsstaus waren diesmal nicht so lang wie beim NATO-Gipfel (aber die Preise sind seit letztem Jahr schon wieder um 15% gestiegen!). Stolz meldet die Mercedes-Zentrale Riga: 66 (in Worten: sechsundsechzig) blitzblanke neue Limousinen wurden den Staatschefs während des Gipfels zur Verfügung gestellt. Beim NATO-Gipfel waren es noch 300 gewesen - das klärt die Dimensionen.

Ansonsten war es offenbar ein energiegeladener Gipfel. "Kritische Töne" gegen die Ostsee-Pipeline gebe es kaum noch, vermeldete Aussenminister Steinmeier stolz in der Heimat (AFP). Während aus baltischer Sicht die Sorge besteht, wie man überhaupt den krass steigenden Energiepreisen (Gas, Öl) entkommen kann (auch der Neubau eines Atomkraftwerks würde riesige Summen verschlingen), bemühen sich die komplett versammelten Nordstream-Manager den gesamten Planungs- und Durchführungsprozess ihres Ostsee-aufwühlenden Projekts für "durchsichtig" und "nach höchsten Umweltstandards" zu erklären. Perestroika und Glasnost für die Ostsee? Da gehört doch auch der Spruch "wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" dazu. In diese Logik passt es, dass deutsche wie russische Pipeline-Protagonisten ihren kleinen Nachbarn noch ein paar ökonomische Brosamen zuwerfen möchten. Schlag nicht dem die Hand ab, woran du mit verdienst - so wird es wohl ausgehen. Konsequenterweise wurde auch nur ein Business-Forum parallel zum Gipfel aufwendig inszeniert - Öffentlichkeitsbeteiligung wäre mühsamer gewesen.

Ach ja - reformiert wurde auch. Allerdings eher nach der Devise "es kreiste der Elephant und gebar eine Maus". "Die nächste Ostseerats-Präsidentschaft (Dänemark) wird die Reform weiter führen müssen," so der klarste Teil der Aussage. Ob ein Ostseerat eigentlich nur für Beamte und Banker geschaffen wurde - darum kreisen die Reformgedanken offenbar kaum. Warum es kein einziges Projektförderprogramm gibt, dass alle Ostseeanrainerstaaten gleichermaßen und gleichberechtigt umfasst, und dabei nicht nur staatliche Instutitionen fördert - kein Thema beim Gipfel.
Na dann - bis zum nächsten Mal! 

Ergebnisse des Ostseegipfels: die Abschlußerklärung

Ergebnisse des Ostseegipfels: Erklärung zur Reform des Ostseerats