In den Jahren 2005 bis 2006 wurde in Riga eine Untersuchung durchgeführt, an der 89 russischsprachige Jugendliche und Heranwachsende teilgenommen haben. Wir haben uns bemüht, dass diese Auswahl der Befragten alle beteiligten Unterrichtseinrichtungen gleichmäßig repräsentieren, dort wo gleichermaßen in lettischer wie in russischer Sprache unterrichtet wird.
Ziel der Untersuchung war eine Analyse zur Identität von russischsprachigen Heranwachsenden und Jugendlichen, doch im Rahmen dieses Berichts werden keine eng begrenzten Fachbegriffe oder Statistiken verwendet, die wir an dieser Stelle auch nicht tiefgehender erläutern könnten, sondern wir sehen uns einige interessante Aspekte an, die nicht nur in den Interviews berührt wurden.
Wir versuchen von den Russen zu erzählen. Einige Beobachtungen sind offensichtlich und bestätigen nur bereits bekannte Fakten, andere waren aber auch für uns selbst unerwartet.
Schon über mehrere Jahrzehnte zieht sich ein Streit in der Ethnologie darüber hin, was als „Nationalität“ angesehen werden sollte. Die Herkunft? Das, was im Pass steht? Oder das, was dem Zugehörigkeitsgefühl jedes Einzelnen entspricht?
Eine Mehrheit der Soziologen ist heute der Ansicht, dass die ethnische Zugehörigkeit des Menschen (falls überhaupt die Notwendigkeit besteht, etwas darüber auszusagen, worüber große Zweifel bestehen) von seinem eigenen Gefühl der Zugehörigkeit bestimmt wird, und die Grundlage dafür sind weitere objektiven Faktoren. Ethnische Gruppen tauchen auf und verschwinden wieder, konstruiert von Politikern und der öffentlichen Meinung. Zum Beispiel reden viele Wissenschaftler heutzutage von der Bildung einer neuen Gruppe „Russen in Lettland“ – diese unterscheidet sich sowohl von den Russen in Russland, als auch von den Letten. Genau von dieser Gruppe wollen wir reden.
Unter weltweiten Maßstäben ist eine sehr kleine Gruppe ausgesprochen heterogen. Die in Lettland lebenden Russen sind völlig unterschiedlich. Sie bezeichnen sich selbst sehr unterschiedlich. Von den von uns Befragten bezeichnete sich eine Mehrheit als Russen, doch im Verlauf der Unterhaltung ergänzten sie präzisierend: „ein Russe in Lettland“, oder „Russischsprechender in Lettland“. Sehr oft redeten die Befragten über ihre gleichzeitige Zugehörigkeit zu zwei Kulturen und darüber, dass ihnen das wichtig sei.
Viele sehen sich als „Weltbürger“, als Europäer. Unabhängig davon, ob eine Nationalität im Pass ihrer Eltern steht, schließen einige Jugendliche jegliche ethnische Zugehörigkeit aus, oder verwenden bei der Charakterisierung ihrer selbst Begriffe wie „zur Hälfte“, „teilweise“, „eher Russisch“, „halbrussisch“, „etwas in der Mitte“, oder „nicht Lette, nicht Russe“.
Wenn wir von den Kennzeichen einer ethnischen Gruppe reden, dass sie gegeben sei „mit dem Blute“, dann sind unter den lettischen Russen viele, von denen man solche Kennzeichen nicht benennen kann. Es ist bekannt, dass während der Zeit der Lettischen Sowjetrepublik viele Ukrainer und Weißrussen ins Land kamen, und noch vor ihnen lebten viele Juden in Lettland. Dennoch neigt die heutige zu Verallgemeinerungen neigende Gesellschaft dazu, alles nach einheitlicher Schablone zu messen und alle als Russen zu benennen, ob das nun ihnen entspricht oder nicht. Wo es einmal Russen sind, da sind es Russen: „Worüber streitet ihr euch? Mir ist das nicht wichtig, unter meinen Ahnen war kein Russe ...“. Sie bezeichnen sich selbst als „Russischsprachige“, „zur russischen Kultur gehörig“.
Einer der Befragten charakterisierte sich folgendermaßen: „Ich bin ein russischsprachiger Jude Lettlands. Zusammengenommen: ein Rigenser.“ Rigenser zu sein, das ist wichtiger als russisch, lettisch, jüdisch oder ukrainisch zu sein.
Aber was sind die Vorlieben, was die Abneigungen der russischsprachigen Jugendlichen Lettlands? Auf was sind sie stolz, für was schämen sie sich? Was wünschen sie sich, und was macht ihnen Angst?
Ehrlich gesagt, spiegelt das im Folgenden Gesagte eher automatische Stereotypen wieder als die Realität, aber es macht dennoch Sinn es genauer zu betrachten.
Es ist einfach zu erraten, auf was in ihrem „Russentum“ die Befragten am meisten stolz sind: Kultur und Sprache. Die absolute Mehrheit wertet die russische Sprache sehr hoch und sind stolz darauf. Das Wichtigste ist den Jugendlichen die Kultur. Wenn sie über die Kultur sprechen, erwähnen sie die große russischen Schriftsteller und Wissenschaftler, die Errungenschaften Russlands in Kultur und Wissenschaft. Hauptsächlich werden russische Schriftsteller genannt: Puschkin, Lermontow, Dostojewski; Arbeiten, auch Errungenschaften in Wissenschaft und Sport: der Flug Gagarins, die Erfolge des russischen Eiskunstlaufens.
Die Jugendlichen erwähnen auch, dass viele der in Lettland lebenden Russen mehr über die russische Kultur wissen als ihre Altersgenossen in Russland. Sie erwähnen mit Ironie, dass ihre Sprache sie nicht nur von den Letten, sondern auch von den Russen in Russland unterscheidet: wenn Lettlands Russen nach Russland fahren, bemerken die Verwandten an ihrer Aussprache den baltischen Akzent und wundern sich über die Entlehnungen aus dem Lettischen, zum Beispiel über максать (maksat – bezahlen), und аплиециба (apliecība – Bescheinigung, Zeugnis).
Überhaupt waren die Unterschiede zwischen Lettlands Russen und den Russen in Russland ein sehr beliebtes Thema. Indem über die eigenen Unterschiede zu den Russen in Russland geredet wird (ich erinne daran, dass diese selbst in sich natürlich auch sehr große Unterschiede aufweisen), vergleichen die erwähnten Jugendlichen, zum Beispiel, ein kennzeichnendes unterschiedliches Temperament: “In Russland sind die Menschen sehr energisch, lebhaft – uns hat sich schon der Stempel der baltischen Langsamkeit auferlegt“, «wir sind verschlossener ... aber auch nicht so nervös wie die Russen in Russland», und, mit einem Schuß Sarkasmus: “in Russland halten sie alle auf den Straßen ihre Palaver ab!“
Darüber hinaus sehen die Befragten die Russen Lettlands als toleranter, “multikultureller“, und, als Einwohner Lettlands, unabhängig von nationaler Zugehörigkeit, “ andere Völker besser verstehen und annehmen“. Viele reden davon, sie seien in Lettland „europäisierter“ als die Einwohner Russlands.
Bei vielen Politikern Russlands wie auch Lettlands ist der Eindruck entstanden, die Russen Lettlands hätten feste Verbindungen mit Russland und sie fühlten sich einzig als Bestandteil Russlands. Die Untersuchung zeigte jedoch, dass dies überhaupt nicht der Fall ist. Einigen ist in der Tat eine emotionale Verbindung mit Russland gemeinsam, Grundlage dieser Aussagen sind dann Sätze wie “meine Seele ist dort“, „ich liebe Russland, auch wenn es für mich nichts bedeutet.“ Dennoch haben einige auch einen völlig entgegengesetzten Standpunkt: “mit Russland verbinde ich gar nichts.“
Auf die Frage, ob sie in der Zukunft nicht vorhätten, nach Russland zu ziehen, kam manchmal nicht eine bestätigende Antwort – im Extremfall „ich möchte schon – aber wer wartet denn dort auf mich?“Noch ein weiteres in der Gesellschaft verbreitetes Mythos kündet davon, dass die Russen weit mehr als die Letten von der sowjetischen Vergangenheit zugewendet sind. Von den von uns Befragten stimmten nur sehr selten jemand dem zu. Sicherlich laufen in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken momentan ähnliche Prozesse ab: es wächst eine junge Generation auf, zu Zeiten der Unabhängigkeit geboren, deren ethisches Selbstverständnis von der sowjetischen Vergangenheit nur unwesentlich berührt wird.
Vielsagend ist, dass einige Menschen nicht nur der Ansicht sind, dass alle Russen Schuld sind an dem vergangenen Sowjetsystem, aber auch die Kinder der Schuld der Eltern zugerechnet werden. Viele unserer Befragten, befragt nach den unangenehmen Gefühlen, die mit ihrer nationalen Zugehörigkeit verbunden sind, erzählten zum Beispiel von Lehrern die “die ganze Zeit diese Okkupation durchkauen“ – was sehr unangenehm anzuhören ist.
Ausnahmslos alle Befragten, die das Thema der Okkupation berührten, waren der Ansicht diese sei Vergangenheit, und sie selbst stünden damit in keinerlei Zusammenhang.
Die von uns Befragten standen jeder Art von Nationalismus ausnahmslos stark ablehnend gegenüber. Darüber hinaus war es ihnen nicht wichtig, welche nationalistischen Sprüche verwendet werden. “Es ist gleichermaßen widerwärtig, wenn die Letten sagen „Lettland den Letten“ und die Russen sagen „Russland den Russen“ – Schande sowohl für die einen wie die anderen.“
Wenn das Gespräch auf das Thema des Nationalismus kommt, sind alle Befragten der Ansicht, dass sich der Nationalismus in Lettland abschwäche. Wir können nicht wissen, was in 20 oder 200 Jahren sein wird, aber heute fällt die Schärfe der nationalen Frage und die geteilte Identität etwas in sich zusammen. Auf der Tagesordnung stehen nicht nur die ökonomischen und die sozialen Fragen, sondern auch die Frage „wann wird es endlich Frühling in diesem Jahr?“
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