26. April 2020

Maigrimmen

Bis zum 12. Mai gelten vorläufig die von der lettischen Regierung verhängten Einschränkungen, Ausgangssperren und Geschäftsschließungen. - Wer Lettland kennt weiß, dass Anfang Mai immer eine ereignisreiche Zeit bevorsteht: der 1.Mai (gefeiert entweder als Tag der Arbeit, oder auch als lettischer Verfassungstag), dann der 4. Mai (als Tag, an dem die Mehrheit der lettischen Volksfront 1990 die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands beschloss), und dann auch noch der 8.Mai, nach russischer Zeitmessung der 9.Mai - der Tag des Kriegsendes, bzw. der Befreiung vom Faschismus (bzw. "Sieg gegen den Hitlerfaschismus"). Aus lettischer Sicht muss hinzugefügt werden: nein, es war eher eine erneute Besetzung, die sowjetisch erzwungene Dominanz dauerte bis 1990/91.

Nun entsteht neuer Raum für Spekulationen. Hat die lettische Regierung die Restriktionen wohl bewußt schon jetzt auf mindestens bis zum 12. Mai festgesetzt? Da wird spannend zu beobachten, wie denn dieses Jahr der 4.Mai offiziell gefeiert wird - schließlich ist es genau 30 Jahre her, dass der damalige Oberste Sowjet mit der Mehrheit der "Volksfront"-Sympthisant*innen die Erklärung zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands verabschiedete. Aber, wie auch Verteidigungsminister Bergmanis bereits bestätigte: auch die üblichen Militärparaden wird es am 4.Mai diesmal nicht geben (LA). Gleichzeitig zeigte sich der Minister auch zufrieden aus der Perspektive der allgemeinen Sicherheit, dass die einschränkenden Maßnahmen eben sowohl den 4.Mai, wie auch den 8.+9.Mai gleichermaßen einschließen (NRA).

Befürworter der Feiern zum 9.Mai plädieren für Kerzen als Ausdrucksmittel - in den Fenstern der privaten Wohnungen (lsm). Das würde allerdings bedeuten, sich weitaus mehr persönlich identifizierbar zu machen, als wenn man eben einfach Teilnehmer*in einer Massenveranstaltung an zentralem Ort ist. Andere Aktionsaufrufe, wie der nach Spenden für die Veteranen, sind da weitaus unauffälliger zu unterstützen. Großveranstaltungen mit Zehntausenden von Menschen sind für den 9.Mai definitiv abgesagt; Vadims Baraņņiks, Sprecher des "Vereins 9.Mai" schließt jedoch nicht aus, dass Einzelne dennoch am Denkmal im Uzvaras Parks Blumen niederlegen werden - zur Wahrung der Tradition, und unter Beachtung der Sicherheitsregeln. (Tvnet).

Dieser "Corona-Mai" wird vielleicht auch ein Gradmesser werden, ob sich Neid und Hass in den digitalen Netzwerken weiter verbreitet haben - oder ob das vielleicht, angesichts der allgemeinen Notlage, doch wieder rückläufig ist. Aber eines ist klar: gerade im Internet bleibt die Aufteilung ja je nach verwendeter Sprache bestehen: jeder schimpft unter vermeintlichen Gleichgesinnten.

Die Pro-europäische Bewegung Lettlands organisiert in diesem Jahr am 7., 8. und 9. Mai ein sogenanntes "Europa-Examen". Im Jahr 2019 haben sich bereits 20.000 Menschen daran beteiligt - zumeist Schülerinnen und Schüler. Es werden 20 Fragen zu Europa gestellt und Punkte für richtige Antworten verteilt. Vorteil dabei: alles bleibt digital.

24. April 2020

Ein Sommer ohne Ausländer?

Lettland hat in den vergangenen Jahren viel in den Tourismus investiert. Zahlen des lettischen Statistikamts zufolge waren Anfang 2019 insgesamt 318 Hotels in Lettland registriert, dazu 20 Camping- oder Wohnmobilplätze. Die Mehrzahl aber - insgesamt 493 Betriebe (also beinahe 60%) sind kleinere Gästehäuser, auch Bauernhöfe (csp). Allerdings übernachteten nur 11,6% der Gäste in den Jahren 2016-2018 in diesen Gästenhäusern, der "Löwenanteil" (85%) entfällt immer noch auf die Hotels (in den Städten, 61% übernachten nur in Riga!).

Nein, der Storch im Hintergrund deutet hier in diesem Fall kein
freudiges Ereignis an - sondern Verstimmung zwischen
Finanzminister und ländlichem Tourismus
(Grafik: lsm)
Mit Beginn der Covid-19-Krise wird auch in Lettland über Unterstützung und Erstattungen für lettische Unternehmer*innen diskutiert. Dabei fiel Finanzminister Jānis Reirs mit der Äußerung auf: "Im Tourismus wird sich die Situation nicht so schnell verbessern, da müssen wir gerade was Riga angeht mit längeren Zeiträumen rechnen, gerade wenn die Grenzschließungen in Europa bis Jahresende andauern", hatte sich der Minister zitieren lassen (apollo.lv, lsm). Der Gesamtschaden für den Tourismus in Lettland werde auf 800 Millionen Euro geschätzt - 2,9% des lettischen Bruttosozialprodukts. Das lettische Wirtschaftsministerium schätzt, dass in diesem Bereich etwa 3000 kleine oder mittlere Betriebe betroffen sein werden.

Aber dann behauptete Minister Reirs, für den Landtourismus sähe die Situation anders aus, die Nachfrage scheine da gesättigt zu sein. Und nicht nur das: er schlug vor, vor allem diejenigen zu unterstützen, die sonst mit Gästen aus dem Ausland arbeiten.

Asnāte Ziemele, Chefin bei "Lauku Ceļotajs" (Verbandes für Landtourismus), widerspricht energisch. "Zuletzt gingen die Stornierungen geradezu lawinenartig bei uns ein!" betont sie. "Die Einnahmen bei unseren Mitgliedern sinken gegenwärtig um 80-100%, und viele sind der Verzweiflung nahe. Es besteht das große Risiko, dass viele Betriebe diese Krise nicht überleben." Zu dieser Lage trügen auch besonders die vielen abgesagten Gruppenveranstaltungen bei, so wie Seminare, Hochzeiten, oder andere Feiern. Zwar würden viele aus dem Ausland auch derzeit noch nach freien Unterkünften fragen, aber das seien noch keine Buchungen.

Eine andere Schwierigkeit: zwar räumen die Banken spätere Rückzahlungstermine für Kredite ein - die Zinsen laufen jedoch bisher ungemindert weiter. Rücklagen gäbe es nur in wenigen Fällen. Inzwischen habe man auch Angestellte entlassen müssen - und könne den Bestand an Arbeitskräften selbst im Falle eines Neustarts nur langsam wieder hochfahren. Die einzige Hoffnung bestehe darauf, dass wenigstens für den Inlandtourismus im Sommer die Einschränkungen langsam aufgehoben werden können.

Gerade Lettland ist ja auch sehr zentralistisch organisiert - fast alles scheint im touristischen Bereich über Riga zu laufen. Andererseits: wer nur Riga sieht, hat Lettland nicht gesehen! Und gerade für die abseits wichtiger Verkehrsverbindungen gelegenen Orte war der Landtourismus sowohl wichtiger Geschäftszweig wie auch Überlebensstrategie. Gibt es Vorschläge zur Krisenbewältigung? Eigentlich brauchen wir eine Unterstützung in Höhe von 75% des Jahresumsatzes, meint der Landtourismusverband. Auch wer nun verstärkt auf lettische Gäste setzt, wird vielleicht enttäuscht werden - denn wenn die Finanzen knapp sind, wird am Urlaub zuerst gespart, meint Asnāte Ziemele. Die Hoffnung besteht, dass bald wenigstens wieder Veranstaltungen unter freiem Himmel erlaubt werden - unter Einhaltung der Sicherheitsregeln natürlich.

Momentan hat Lettland den Ausnahmezustand bis zum 12. Mai verlängert - in diesem Rahmen ist jeglicher Passagierverkehr über die Flughäfen, Autobusse, Bahnhöfe und Häfen untersagt.

16. April 2020

Wo liegt das Land "Diaspora"?

Diaspora - der Gläubige im Land der Ungläubigen. So könnte es der gewöhnliche (gläubige) Mensch verstehen, oder? Für die katholische Kirche in Deutschland, in diesem Fall in Paderborn, liegt die Diaspora unter anderem in .... Lettland und Estland (Domradio). In Litauen natürlich nicht, denn da leben ja die Katholiken - jedenfalls den Statistiken zufolge.

eine Grafik zur lettischen Sendung
"der globale Lette" (lsm)
Wer die eigentliche Wortherkunft ergründen will, greift vielleicht zum Lexikon - oder sieht nach bei Wikipedia. Der dortigen Definition zufolge ist Diaspora "die Existenz religiöser, nationaler, kultureller oder ethnischer Gemeinschaften in der Fremde, nachdem sie ihre traditionelle Heimat verlassen haben". Paderborner in Lettland?

Die Bundeszentrale für politische Bildung weist auf einen Bedeutungswandel des Begriffes hin (altgriechisch διασπορά "Verstreutheit"). Lange Zeit habe der Begriff immer nur im Zusammenhang mit den nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem vertriebenen Jüdinnen und Juden Verwendung gefunden. In den 1960iger und 70iger Jahren seien dann andere "Vertreibungsgeschichten" hinzugekommen - von der Versklavung der Afrikaner*innen, über die Auswanderung der Ir*innen, über das Schicksal der Armenier, die Palestinenser in Israel bis hin zu den "deutschen Ostgebieten".

Nun sind ja die Lettinnen und Letten eigentlich sehr begierig, auch neu eingeführte Fremdworte ("svešvārdi") gleich zu "lettisieren", also neue, aber lettische Worte dafür zu schaffen - als Beispiel dafür mag schon die Einführung der europäischen Währung gelten, die in der lettischen Sprache eigentlich niemals hätte "Euro" heißen dürfen (oder "Eiro"), viel lieber "Eura" oder "Eira". Oder, anderes Beispiel: Liebhaber*innen des Lettischen reden auch nie beim "einkaufen gehen" von "šopings" – sondern von "iepirkšanās".
Der Begriff der "Diaspora" hat aber alle Wirren überstanden. Aus lettischer Sicht ist die "Diaspora" immer dort, wo Lettinnen und Letten fern der Heimat leben (müssen). Eines ist klar: die Angst, das eigene Heimatland wieder zu verlieren, ist aufgrund der Sowjetzeit in Lettland viel frischer als in Deutschland. Dennoch - die "Corona-Krise" hat auch hier Änderungen gebracht.

Bisher, also seit spätestens 1991, war ja eher das "Weggehen" fast zur Selbstverständlichkeit geworden. Zuerst vielleicht zur Pilzernte nach Irland, seit 2011 dann war auch der deutsche Arbeitsmarkt offen (auf den aktuellen Notstand an Pflegekräften braucht ja wohl nicht extra verwiesen zu werden). Die Umfragen waren immer eindeutig: fast ein Drittel aller jungen Lettinnen und Letten konnten sich vorstellen, Arbeit im Ausland zu suchen. Da bleibt dem Rest nur noch, rückhaltlos neidisch zu sein (mangels eigener Möglichkeiten), oder Arbeitsmigrant*innen als eine Art "Vaterlandsverräter" zu brandmarken.

Nun geht es also anders herum. Kaum war die Corona-Krise aufgebrochen, steckten Hunderte Lettinnen und Letten auf dem Weg zurück nach Lettland auf Flughäfen, an Grenzen und Meeresufern fest. Glücklich "zu Hause" angekommen, soll es Fälle gegeben haben, wo die Einwohner*innen von Dörfern auf dem Lande sich geweigert haben, diese "Rückkehrer" wieder in ihr Dorf zu lassen, und Betroffene erst mal in Hotels in Riga sich einmieten mussten.

Plötzlich auch gern online im Direktkontakt:
Lett*innen außerhalb Lettlands
Aber es gibt auch positive Beispiele. Waren bisher alle möglichen Gerüchte im Umlauf, dass Bekannte und Verwandte durch irgendwelche Tricks im Ausland plötzlich reich geworden seien (und die Betroffenen erzählten zu Hause lieber nicht allen, wie es wirklich war), so hat nun ein ganz neues Interesse eingesetzt, wie es Lettinnen und Letten eigentlich geht, die in anderen Ländern leben. Jetzt, wo doch "dīkstāve" (Stillstand) herrscht. Überall. Auch im lettischen Radio und Fernsehen ist das inzwischen gewohnte Bild der "Home-Office-Sendungen" nun häufig genutzt. Die Sendung "Globalais Latvietis" (der globale Lette) schaltete kürzlich live ins "Homeoffice-Zimmer" von Lettinnen in Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland - mit Ton und Bild.

Zu hören und zu sehen sind hier allerdings auch teilweise seltsame Thesen. So hätten es die Letten im Ausland angeblich leichter, mit dem Virus umzugehen, weil sie "schon wissen wie es ist in Isolation zu leben". - "Ich kann schon seit 16 Tagen nicht mehr auf die Straße gehen", berichtet Natalija aus Spanien.
"Aber wir haben hier gehört," so die Frage aus dem Studio in Riga, "dass in großen Mehrfamlienhäusern bei euch schon alle Leute anfragen mit dem einen Hund rausgehen zu dürfen, den es im ganzen Haus gibt, nur damit sie mal einen Grund haben rausgehen zu können!" - "Ja, die Leute hier entwickeln einen sensationellen Sinn für Humor," schallt es aus dem digitalen Raum zurück. "Aber nein, bei uns werden noch keine Hunde vermietet."

"Wir dürfen nicht mehr als dreimal die Woche einkaufen gehen", erzählt Elena aus Italien. "Und wir dürfen die Haustiere 200m weit ausführen, also etwas weiter als in Spanien. Und, damit die Leute verstehen, das es kein Spaß ist: alles wird mit Drohnen überwacht." Liene, in Frankreich wohnend, aber in Genf arbeitend, muss die Regeln von gleich zwei Ländern beachten und berichtet von scharfen Grenzkontrollen. "Was ich hinzufügen kann," so kommt es von Elina aus Berlin, "ich bin nun tatsächlich Hausfrau, Hauslehrerin, Heimarbeiterin und Hauspsychologin in einem!" - Und nach dem Durchhaltevermögen gefragt, ergänzt Elena aus Italien: "Wir haben jetzt zu Hause sogar angefangen, Nudeln und Süßigkeiten selbst herzustellen, und abends tanzen wir zusammen - das erhält die gute Laune!"
Während der Sendung muss das lettische Radio sich auch durch ein paar technische Schwierigkeiten kämpfen - europaweit gleiche Leitungsqualität ist noch eine Illusion. Aber Lettinnen und Letten in Europa miteinander verbinden - die Krise bringt es offenbar voran.

9. April 2020

Lettisches Ostern: anhaltende pašizolācija

Es sind wirklich andere Verhältnisse eingekehrt in Lettland.Und seit auch hier bereits Poltiker*innen in Quarantäne sitzen, weil sie sich mit dem Corona-Virus angesteckt haben, zeigt sich auch eine Art Überbietungswettberb an Regeln für das öffentliche Leben. Die neue Parole heißt: mājas, ziepes, divi metri (zu Hause, Seife, 2 Meter).Das andere neue Wort heißt "Dīkstāvē" (was soviel heißt wie "Stillstand" - im Deutschen wird da oft von einem "Corona-Lockout" geschrieben). 

YouTuberin Anete Germane versucht, auch Ausländern
in Lettland zum Überleben des Corona-Virus zu verhelfen
Der Blickwinkel dabei ist klar: das Virus kam aus dem Ausland, also ist alles was aus dem Ausland kommt, zunächst verdächtig.Das merkten zuerst die in Eile nach Hause zurückgekehrten Lettinnen und Letten, die teilweise extra gecharterte Sonderzüge und Schiffe nutzen mussten, um bis zu ihrem Heimatland zu gelangen. Nun beschloss das lettische Ministerkabinett, dass aus dem Ausland einreisenden Personen auch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel komplett untersagt wird. (LA) Auch das Aufnehmen von Gästen und private Besuche sind diesem Personenkreis untersagt. Inzwischen muss jeder Einreisende vorher seinen Namen, die persönliche ID-Nummer, eine Telefonnummer und die Adresse seines Aufenthaltes in Lettland angeben. Außerdem muss eine schriftliche Versicherung abgegeben werden, dass sich jede/r Einreisende 14 Tage lang in Selbstisolation aufhalten wird. Es sind Strafen vorgesehen für den Fall, dass diese Personen sich an anderen als den angegegbenen Orten aufhalten.

Der in Lettland ausgerufene Ausnahmezustand ist inzwischen bis zum 12. Mai verlängert worden. Ausnahmen vom Einreiseverbot müssen gegenwärtig vom lettischen Verkehrsministerium genehmigt werden. In der vergangnen Woche hatte das lettische Fernsehen vom Flughafen Riga berichtet, dass dort viele der ankommenden Passagiere wie gewöhnlich mit dem Linienbus ins Rigaer Stadtzentrum fahren.

Auch in Lettland warnen die Behörden, Ostern nur im privaten Familienkreis zu feiern, bzw. mit "Personen die zusammen leben". Das betreffe sogar Personen, die an einem Ort arbeiten, deren Familie aber an einem anderen Ort wohne - diesen Personen wird empfohlen, sich für die Ostertage für einen der beiden Orte zu entscheiden. Ausnahmen soll es nur für geschieden lebende Paare geben, die noch nicht volljährige Kinder haben.

Das lettische Parlament hatte sich am 2. April eine Sitzung als Video-Schaltkonferenz verordnet. Die 100 Abgeordneten befanden sich dabei in verschiedenen Räumen des Parlamentsgebäudees und wurden per Video zusammengeschaltet (lsm / saeima). Dies wurde aber als "Zwischenlösung" bezeichnet - man arbeite an einer technischen Lösung für dringliche Situationen in der Zukunft, wo dann alle Abgeordneten auch außerhalb des Parlamentsgebäudes bleiben können. Gleichzeitig sollen solche Schaltkonferenzen online im Internet übertragen werden.