19. Januar 2025

Alles für die Katz

Wird 2025 ein gutes Jahr für Lettland? Schon am fünften Tag des neuen Jahres waren viele überzeugt: ja, ganz bestimmt! An diesem Tag wurden die "Golden Globes" verliehen, und als Ergebnis könnte man ausrufen: "Alles im Flow!". 300 in Hollywood akkreditierte ausländischen Pressejournalistinnen und -journalisten aus etwa 80 Ländern stimmten ab über die Filme des Jahres 2024. (lsm)

"Flow" ist der Titel eines Animationsfilms, ein Produkt belgisch-französisch-lettischer Produktion: das Studio "Dream Well" in Lettland (extra für diesen Film gegründet), "Sacrebleu Productions" aus Frankreich und "Take Five" aus Belgien. Der lettische Titel "Straume" ("Strom / Strömung") weist auf das Grundthema hin: Tiere fliehen vor einer riesigen Flutwelle. (Trailer). Nun also auch mit dem "Golden Globe" prämiert, als erster Film aus Lettland überhaupt. 

Kein Stubentiger

Regisseure und Produzenten, von links: der Franzose
Ron Dyens, Gints Zilbalodis und Matīss Kaža
Für "Straume" steht vor allem Gints Zilbalodis: Regisseur, Drehbuchschreiber (zusammen mit Matīss Kaža) und Co-Produzent (zusammen mit Matīss Kaža, Ron Dyens, Gregory Zalcman). Und zusammen mit Rihards Zaļupe stammt auch die Musik von ihm. Das belgische Studio „Take Five“ war für einen Teil der Postproduktion von „Flow“ verantwortlich. "Vielen Dank, dass Sie sich für unseren kleinen Katzenfilm entschieden haben", so wird Regisseur Zilbalodis nach der Preisverleihung zitiert (fold).

"Flow" feierte in Cannes seine Weltpremiere und hatte als Deutschlandpremiere die 66. Nordischen Filmtage Lübeck eröffnet. Von lettischer Seite wird gerne auch die vermeintliche "Moral" der Filmgeschichte, die ganz ohne Dialoge und Sprache auskommt, betont: Tiere nutzen ihre Fähigkeiten und kooperieren - eine tierische Schicksals-Gemeinschaft trotzt auf einer Arche der Sintflut. Auch die belgische Seite betont ihren Anteil am Erfolg: "Da der Film keine Dialoge enthält, ist die Intensität des Klangs sehr entscheidend für das Endergebnis und die Wirkung auf den Zuschauer." (vrt)

Lettisches Produkt in schwierigen Zeiten

48 weitere Preise habe der Film zwischen der Premiere in Cannes und dem "Golden Globe" bereits eingesammelt, so die lettische Presse - und inzwischen sei es Tradition beim Filmteam, nach jeder Preisverleihung einen ordentlichen "Burger" zu essen (IR / Facebook). Schon im November 2024 wurde Gints Zilbalodis zum "Rigenser (Einwohner Rigas) des Jahres" ernannt. (tv3) Im Dezember kam auch noch der Titel als "Europäer des Jahres" (verliehen von der Europabewegung Lettlands) hinzu.

Sehr besonders sei auch, dass der Film mit Software erstellt wurde, die im Prinzip überall kostenlos erhältlich sei, so heißt es. Angebote, in Hollywood zu arbeiten, habe Gints Zilbalodis ablehnt - er arbeite bereits an seinem nächsten Film, möchtet aber nicht nur als "Regisseur von Katzenfilmen" in Erinnerung bleiben, kündigt er an (Jauns). 

auch Karikaturist Gatis Šļūka thematisiert
die neuen lettischen Filmhelden

"Wir haben den Film ja in einer sehr unruhigen Zeit hergestellt,"sagt Produzent Matīss Kaža. "Erst die Covid-Pandemie, und dann der Krieg in der Ukraine." Es sei außerdem eine Zeit beängstigender Veränderungen, die nur mit Hilfe von Empathie, Verständnis und Zusammenarbeit überstanden werden könne. (IR) "Eigentlich schien doch schon die Nominierung für den 'Golden Globe' der größte Erfolg für die lettische Filmindustrie zu sein, gerade neben diesen Multimillionen-Dollar-Giganten", so Kinokritikerin Dita Rietuma; ihr kam die Preisverleihung wie ein ganz besonderes Geschenk vor, denn sie fand genau am Tag ihres Geburtstages statt.

Ganz tierisch

"Was bewegte Sie dazu, diesen Film zu machen?" wird Zilbalodis nach der Preisverleihung gefragt. Antwort: "Meine Katze" (Interview) und er verrät auch: "Alle meine bisherigen Filme waren ohne Dialoge. Und wir haben die Tiere sich wie Tiere verhalten lassen, nicht wie Menschen." (siehe making of) Zilbalodis betont auch, dass aufgrund des engen Finanzrahmens sehr exaktes Arbeiten gefragt war: "Wir haben nichts gedreht, was wir später wieder vernichtet hätten," meint er.


"Wir haben uns bei unserer Story keine Gedanken darüber gemacht, wo denn in dieser Geschichte die Menschen geblieben sein könnten", meint Gints Zilbalodis (Interview). Mit den eigenen Ängsten zu leben, dass lerne seine tierische Hauptfigur im Laufe des Films, meint er. Und die Zuschauer sollen lernen, genau hinzusehen. Erst kurz vor der Premiere in Cannes sei der Film fertig geworden, und es sei dann doch sehr befriedigend gewesen wie das Publikum dort reagiert habe, meint er - und freut sich, dass "Flow" nun wohl der am meisten in der ganzen Welt verbreitete Film aus Lettland sein wird, ganz ohne die Mühe einer Überetzung. 

Symbolik im Trend?

Steht der Erfolg dieses Films auch für andere gesellschaftliche Trends? Für den Kampf fürs Klima und gegen drohende häufige Überschwemmungen? Von lettischer Seite ist dazu nichts zu hören oder lesen. Im Film ist das auch kein Thema. Notwendigkeit zur Zusammenarbeit, Gemeinschaft, Mitgefühl, Liebe - das ja. "Eine großartige emotionale Reise, die in der heutigen zynischen Welt äußerst selten ist", meinte eine lettische Kinokritikerin schon im August 2024, als der Film in die lettischen Kinos kam (IR). Die lettische Zeitschrift "Kinoraksti" fragt sogar nach einem möglichen "Zeitalter der Katzenhaftigkeit", mit Bezug auf die Häufung niedlicher Katzenvideos im Internet - und bemerkt aber auch, das in diesem Film die Katze völlig namenlos bleibt. 

Das Filmteam auf dem Rückflug nach Lettland, unterstützt
auch von der heimischen "Air Baltic"

Bereits viel diskutiert wurde offenbar in den lettischsprachigen sozialen Netzwerken über die Farbe der Katze im Film: schwarz, oder doch eher dunkelgrau? "Eher dunkelgrau", stellt der Schöpfer des Tieres klar (Facebook). Die lettische Presse berichtet indessen begierig über weitere lettische Erfolge: so habe "Straume / Flow" allein in Mexiko innerhalb von nur zwei Wochen schon eine Million Zuschauer gehabt. (LA)

Lettische Sintflut auch für deutsche Kinos?

Was sagt das deutsche Publikum? Erst Anfang März wird "Flow" in den deutschen Kinos zu sehen sein. Einige Kritiken gibt es schon: Joachim Kurz sieht sich für "Kino-Zeit" auf "Augenhöhe mit einer namenlosen Katze" und diese "als Illustration und Umsetzung von Überlegungen über die Erde ohne den Menschen einerseits und über die Folgen des Klimawandels andererseits". Und "Polyfilm" (Österreich) titelt: "Wie die Katze ihre Angst vor dem Wasser verlor."

Nicht so überzeugt wirkt die Schweizerin Viktoria Engler für "What the film".  Zwar outet sie sich als "eingefleischte Animationsfilm-Liebhaberin", Bei knapp 90 Minuten Film konstatiert sie "biblische Ausmaße" - vielleicht wegen dem Boot, das ähnlich einer Arche Tiere vor der Sintflut rettet? Lob gibt es für "das viele Wasser" im Film, das "schwierig zu animieren" sei. Die Handlung jedoch sei stark von der visuellen Atmospähere getragen, weniger von spannendem Verlauf. "Zu seicht" - so hier das Urteil, mit etwas milderem Fazit: "Es gibt zu wenige Werke, die sich auf nicht-Menschliches konzentrieren; mit solchen Filmen kann man eventuell ein grösseres Verständnis für die Natur und ihre Bewohner schaffen."

Der "Goldene Globus" hat - unter Katzenbewachung -
bereits einen Platz im Nationalen Kunstmuseum gefunden

Prädikat "Besonders wertvoll" heißt es bei der "Deutschen Film- und Medienbewertung" (FBW). Die Jury formuliert es so: "eine fesselnde Fabel, die nicht nur durch ihre eindrucksvolle Animation und ihr starkes Sounddesign überzeugt, sondern auch durch ihre tiefgreifenden Themen von Umweltzerstörung, Vergänglichkeit und zwischenmenschlichen Beziehungen." (freigegeben ab 6 Jahren)

Anfang März 2025 wird "Flow" auch in die deutschen Kinos kommen. Der Film ist auch für den "Oscar" nominiert. Zu den vielen Kooperationspartnern gehörte das Nationalen Lettischen Filmzentrum, die Staatlichen Kulturstiftung Lettlands, Eurimages, das Französische Nationale Filmzentrum, Arte, Canal+ sowie verschiedene regionale Stiftungen und Förderprogrammen in Frankreich und Belgien.

27. Dezember 2024

Wer dreht am Rad?

Ein Riese für alle

Es sollte eine der größten Attraktionen der Stadt Riga werden: bei gutem Wetter sollte es möglich werden, von hier aus das Meer (die Ostsee) zu sehen. 10 Millionen Euro soll es gekostet haben und ist heute für alle, die von Rigas Altstadt aus über die Daugava auf die andere Flußseite blicken, unübersehbar. Am Rande dessen, was früher "Siegespark" ("Uzvaras parks") hieß, steht nun Rigas 65m hohes "Panorama-Rad".
Über den Bauherrn und Eigentümer hieß es anfangs nur, es sei eine Firma "RPR operator”, die in Litauen registriert sei. (lsm / LA) Deren Repräsentant Dimitrijs Uspenskis vertritt die Betreibergesellschaft auch gegenüber der Presse. 

Inzwischen ist "RPR Operators" auch als Unternehmen in Lettland registriert und wurde ursprünglich von Dmitrijs Uspenskis gegründet. Doch nun ist der eigentliche Nutznießer der in Russland geborene Geschäftsmann Rustam Gilfanov, der seit März 2022 die Anteilsmehrheit des Unternehmens übernahm. Über "Racoonstruction Holding Limited", ein in Malta registriertes Unternehmen, besitzt er 55 % der Kapitalanteile von RPR Operator, während die anderen Eigentümer das Unternehmen "Panoramica" (Dimitrijs Uspenskis, Darja Uspenska und Anatolys Predkel) sind.

Nach Geldquellen wird nicht gefragt

Mitte Dezember wurden die letzten Bauarbeiten am neuen Riesenrad beendet, nun soll noch eine Sicherheitsprüfung folgen bevor alles der Öffentlichkeit übergeben werden soll. Aber Fragen nach dem Investor bei RPR, der dieses Projekt jetzt finanziere, werden nicht so gerne beantwortet - so ein Bericht in der lettischen Zeitschrift "IR".
Rustams Gilfanovs, 1983 in der Gegend des russischen Perm geboren, ist auch schon der lettischen Sicherheitspolizei bekannt: seine befristete Aufenthaltserlaubnis wurde nur wegen seinen Investitionen in die lettische Wirtschaft verlängert. ("IR") Bekannt ist über ihn, dass er Studienabschlüsse in Rechtswissenschaften an der Staatlichen Universität Udmurtien vorweisen kann, und zusammen mit anderen Geschäftspartnern früher schon mal mit "Lucky Labs" in der Glückspielbranche (Software) tätig war, auch in der Ukraine. Nach dem von Russland in der Ostukraine  begonnenen Krieg habe Gilfanovs dann bis 2018 auf der Sanktionsliste der Ukraine gestanden, berichtet "IR". Laut lettischem Unternehmensregister ist aber seit 2022 als ständiger Wohnsitz Lettland angegeben; als russischer Staatsbürger taucht er nun nicht mehr auf, denn inzwischen ist er Bürger eines Karibikstaates geworden: der Föderation des Inselstaats St. Kitts und Nevis. Diversen Internetseiten zufolge lässt sich diese Staatsbürgerschaft gegen Zahlung einer gewissen Geldsumme erwerben. (IR / lsm)

so stellen sich die Erbauer den Ausblick vom
neuen Riesenrad auf Riga vor

2019 erhielt die Firma "RPR Operators" die Baugenehmigung für das Riesenrad, als einzige Bewerberin auf eine entsprechende Ausschreibung. Im Oktober 2019 wurde ein Vertrag mit 30 Jahren Laufzeit abgeschlossen, die gesetzlich maximal mögliche Dauer. Zu dieser Zeit war das Bürgermeisteramt gerade von Nils Ušakovs auf Oļegs Burovs (GKR) übergegangen, der das Projekt mit den Worten bewarb: "Wollt ihr Pārdaugava entwickeln, dann müsst ihr dafür stimmen." Und Vladimirs Ozoliņš, Chef des Immobiliendezernats der Stadtverwaltung meint: "Wir hoffen, dass dieses Riesenrad 30 Jahre hält." Einige Medien berichten, nach Ablauf der 30 Jahre Vertragslaufzeit gehe die Anlage in das Eigentum der Stadt Riga über (Jauns / LTV).

Recherchen der Zeitschrift "IR" zufolge hatte RPR bis Anfang 2024 Schulden in Höhe von 300.000 Euro angehäuft. "Die Stadt Riga hat keine Möglichkeiten zu überprüfen, aus welchen Quellen das Geld eines Invetors stammt," meint Vladimirs Ozoliņš. "Wir überprüfen ihre Bankkonten nicht", sagt er und fügt hinzu, 2019, als über das Projekt entschieden worden sei, seien bezüglich des Unternehmens keine Unregelmäßigkeiten festgestellt worden.

Neue Skyline

Der Vertrag sah vor, dass die Bauarbeiten innerhalb von drei Jahren abgeschlossen sein sollten - aber durch die Pandemie traten Verzögerungen ein, das Bauamt prüfte die Unterlagen fast ein Jahr lang. "Wir sind ja kein Land mit vielen solchen Riesenrädern, die Bauverwaltung hatte wenig Erfahrung mit solcher Art Ingenieursarbeiten," sagte Ozoliņš, nicht ohne einen Vergleich zu wagen mit dem Eiffelturm in Paris.

Lange wurde überlegt, welchen Effekt das neue Bauwerk auf die Stadtsilhouette am linken Daugavaufer haben würde, und wie man es für einen möglichst positiven Eindruck ausrichten müsste. Anfang 2023 begannen dann die Bauarbeiten. Aber eigentlich hat der Boden dort seine Tücken - durch die in der Nähe fließende Mārupīte bleibt der Boden schlickhaltig. Der Bau wurde durch 122 Pfähle stabilisiert, die Hälfte davon bis zu 30m tief im Boden verankert. Auf diese Weise soll das 65m hohe Riesenrad auch starken Windböen trotzen können. 1200 m³ Beton wurden verbaut. 

"Weltweit ist unsere Anlage eher mittelgroß," meint RPR-Vertreter Dimitrijs Uspenskis, "denn London, Las Vegas oder in Skandinavien sind andere Maßstäbe gesetzt worden. Aber unser Riesenrad ist groß im Verhältnis zu unserer Stadt“. Es gibt 30 beheizte Kabinen mit jeweils acht Sitzplätzen. Splittergeschütztes Spezialglas wurde aus Spanien geliefert. "Wir hoffen, dass auch diese Bauweise zu einem Exportprodukt werden kann," erläutert Uspenskis, "anderswo in Europa sind ja Riesenräder in Betrieb, die aus den 1970iger und 1980iger Jahren stammen." (IR)

Die Rigaer Variante ist von der Architektengruppe A.I.D.E. entworfen worden, unter Leitung von Jānis Rinkevičs. Monteure kamen auch aus den Niederlanden und Polen, die Aufsicht hatte der deutsche TÜV Rheinland. 

Vergnügungsaussichten

Eine Fahrt im "Panorama-Rad" soll zukünftig 15 Minuten dauern, und so 10 - 12 Euro kosten - allerdings je nach Saison unterschiedlich. Um die 25 Angestellte wird es benötigen, das Rad jeden Tag, Sommer wie Winter, in Betrieb zu halten. "Wir wollen einen Platz schaffen, wo sich Menschen mit der ganzen Familie mehrere Stunden aufhalten können", sagt Uspenskis. Und er betont auch, dass die Stadt Riga hier keine Steuergelder für ein Projekt ausgeben musste - aber von den Betreibern jährlich 24.500 Euro Miete einnimmt. Mindestens alle sechs Jahre soll die Höhe dieser Miete überprüft werden - von zertifizierten Gutachter/innen.

Haben die Planungsbehörden den richtigen Standort gewählt? Es gibt durchaus Menschen, die ganz in der Nähe wohnen - bisher sind von den Bewohner/innen dort nur Sorgen um mögliche Geräuschbelastung und zunehmenden Straßenverkehr zu vernehmen. Anfangs waren auch andere Standorte, wie zum Beispiel an der Esplanāde nahe der großen orthodoxen Auferstehungskirche geprüft, aber wieder verworfen worden. "Beachtet muss vorallem die Erreichbarkeit, denn dieser Ort wird täglich von Hunderten Menschen besucht werden," meint Stadtplaner Viesturs Celmiņš. Er macht sich Sorgen, dass wegen fehlender Parkmöglichkeiten die Besucher/innen dann überall die Straßen in der Nähe zuparken könnten. 

Es wird aber sicher Leute geben, die ungeduldig auf die Eröffnung warten. Umfragen ergaben, dass 62% der lettischen Bevölkerung das Riesenrad "bestimmt" oder "wahrscheinlich" nutzen würden (TV3 "ganz bestimmt nicht" antworteten 11%). Andere fragen sich, ob die Tatsache, dass der Investor möglichweise auf einer Ukraine-Sanktionsliste zu finden ist, das fast fertiggestellte Projekt doch noch verhindern kann. Der aktuelle Rigaer Bürgermeister Vilnis Ķirsis sagte kürzlich in einem Interview: "Die Stadt Riga hat mit diesem Bauvorhaben nichts zu tun." (LA) Die Stadt sei keine Ermittlungsbehörde (jauns).

22. Dezember 2024

Sitzen bleiben, bitte!

Im lettischen Parlament (der Saeima) gelten strenge Regeln. Natürlich gibt es Regeln für die Parlamentsarbeit, und die sind in der Parlamentsordnung festgelegt - erstmals beschlossen 1994, zuletzt geändert 2019. "Die Saeima besteht aus einhundert Volksvertreter/innen", so finden wir es beispielsweise dort formuliert. Jedes Parlamentsmitglied muss vor Amtsantritt durch einen Schwur (in lettischer Sprache) versichern, Lettland gegenüber loyal zu sein, seine Souveränität und die lettische Sprache als einzige Amtssprache zu stärken, Lettland als unabhängiges Land und den demokratischen Staat zu verteidigen und die Verfassung und die Gesetze Lettlands einzuhalten.

Gewählt um dabei zu sein

Jedes Mitglied der Saeima ist aber auch verpflichtet, sich an der Arbeit der Saeima zu beteiligen - für den Fall unangekündigten Nichterscheinens drohen Geldstrafen oder Gehaltsabzug. Wer es dem Parlamentspräsidium vorher mitteilt, darf auch mal eine Woche fehlen. Dabei werden Transportkosten extra vergütet. Im Gegenzug wird die Anwesenheit von Parlamentsmitgliedern bei den Sitzungen gleich mehrfach kontrolliert: nicht nur bei Beginn, sondern eigentlich bei jeder Abstimmung, wo die Beschlussfähigkeit eines Gremiums festgestellt werden muss. 

Parlament aus der Ferne

Dennoch gibt es offenbar in den seitenlangen Vorschriften noch Lücken. Die pandemischen (Corona-)Zeiten brachten es mit sich, dass viele ihre Arbeit im "Homeoffice" (lett. "attālināti", aus der Entfernung) erledigen mussten oder wollten. Schon 2015 beschloss das lettische Parlament Änderungen im Gemeindeverwaltungsgesetz, die eine Teilnahme an Ausschußsitzungen auch per Videokonferenz möglich machte - damals sicher als "modernes Zugeständnis" an den Trend zur Digitalisierung gedacht (saeima)

Gegenwärtig aber wirken online Zugeschaltete wohl eher als "teilweise Abwesende". Besonders negativ fällt auf, wenn die Qualität der Ton- und Bildübertragungen zu wünschen übrig ließen, und im Ergebnis dann einzelne Meinungsäußerungen und Wortmeldungen nur schlecht oder gar nicht zu verstehen waren. Einige lettische Medien und Internetportale haben Aufzeichnungen solcher Ausschußsitzungen veröffentlicht, wo per Internet zugeschaltete Teilnehmer/innen fast gar nicht zu verstehen waren, und die jeweiligen Ausschußvorsitzenden dann froh waren, wenigstens das Abstimmungsergebnis korrekt wiedergeben zu können (de facto). 

Regionale Termine gegen zentrale Sitzungen?

Nun haben aber einige Abgeordnete schon sehr oft nur "online" an Sitzungen teilgenommen; wer zum Beispiel im Küstenort Liepāja wohnt gibt gern als Argument an, für eine einzelne Sitzung 2x drei Stunden Autofahrt in Kauf nehmen zu müssen. Bei einer Sitzung des Ausschusses für Europafragen im November sollen gleich neun von 14 Personen nur "zugeschaltet" anwesend gewesen sein. Die Beschlußfähigkeit hat das bisher nicht beeinträchtigt, und einige Abgeordnete argumentieren auch, auf diese Weise "mehr Zeit für den Kontakt zur Wählerschaft vor Ort" zu haben.

Wer sich aber bemüht, bei Sitzungen auch persönlich dabeizusitzen,  könnte sich auch benachteiligt fühlen, wenn Kolleginnen und Kollegen sich entscheiden lieber nur online präsent zu sein - und es sich zu Hause "bequem machen", oder sich sogar aus dem Auto zuschalten lassen. Es entstehen auch rechtliche Fragen: laut Gesetz soll immer gleichzeitig abgestimmt werden; wenn aber zwischen einer Abstimmung vor Ort und der Feststellung des übrigen Abstimmungsergebnisses Zeit vergeht besteht auch die Gefahr, dass das eine das andere beeinflussen kann. So haben dann einige Gremien beschlossen: aus der Ferne teilnehmen geht, aber abstimmen kann nur, wer vor Ort anwesend ist. Schließlich könne ja niemand wissen, was abseits des Bildschirmausschnitts vor Ort bei jemand vorgeht (sitzt vielleicht jemand daneben mit einer Pistole?) (defacto)

Regel oder Ausnahme?

Gegenwärtig werden Gesetzesänderungen vorbereitet, die eine Teilnahme online an Sitzungen nur noch in Ausnahmefällen oder Krisensituationen erlaubt. Denn die Begründungen, warum einzelne Abgeordnete teilweise mehr als 10x innerhalb von zwei Monaten nur "aus der Ferne" teilgenommen haben, fallen bisher recht simpel aus: "Es ist einfacher", oder auch: "Ich habe noch andere Termine". Das erinnere doch an Lügen in der Schule, meint Verfassungsrechtler Edgars Pastars. "Herr Lehrer, mein Hund hat mein Aufgabenheft gefressen - so an diese Art Entschuldigungen erinnert es doch," meint er. (TVNet) Immerhin bekämen die einfachen Parlamentsmitglieder in Lettland gegenwärtig 4220 Euro netto - und das sei auch für entstehende anfallende Kosten am Sitzungsort gedacht, heißt es. (lsm)

12. Dezember 2024

Neues für Wahlwillige

Für diejenigen, die vielleicht zweifeln, ob es in Lettland wirklich demokratisch zugeht, ist es vielleicht lehrreich sich mit dem Ablauf so einer Wahl in Lettland mal zu beschäftigen. Meist haben wir ja nur die eigenen Erfahrungen im Kopf: Erststimme, Zweitstimme, das war's (und wird im Februar 2025 wieder sein). Gewählt wird 2025 aber auch in Lettland: am 7. Juni 2025 stehen für ganz Lettland Kommunalwahlen an. Bis zum 8. April spätestens müssen die Wahllisten von Parteien oder Parteigruppierungen eingereicht werden.

Wählerinnen und Wähler können in Lettland nicht nur für eine Parteiliste stimmen, sondern ergänzend dazu bei allen Kandidat/innen auch positive Wertungen (durch ein + neben ihrem Namen) oder negative Wertungen (durch Streichen ihres Namens) Liste abgeben. Diese Vorzugsstimmen beeinflussen dann auch das Gesamtergebnis. 

Zettelwirtschaft, neu sortiert

Also, wer in Lettland wählen möchte sollte wissen, dass es nun im Detail kleine Änderungen bei diesem Verfahren gibt. In Deutschland ist es meist nur ein einziger Wahlzettel (der auch aus mehreren Teilen bestehen kann), den aber alle Wählerinnen eines Wahlbezirks bekommen und, ergänzt durch ihre Wahlkennzeichnung, auch wieder in die Wahlurne stecken. Was aber in Lettland anders ist: nach der Identitätsbestätigung im Wahllokal erhält jede/r Wähler/in einen vollständigen Satz Stimmzettel mit allen für den Wahlkreis zugelassenen Wahllisten, dazu einen Wahlumschlag mit dem Stempel der zuständigen Wahllokalkommission – ein ziemlich dickes Paket. Aus den zur Verfügung stehenden Parteilisten wird dann die Liste der eigenen Wahl herausgesucht - und kann auch ganz ohne Markierungen oder Ankreuzen in die Wahlurne gesteckt werden. Wer möchte, kann dann auf diesem selbst ausgewählten Wahllistenzettel die oben erwähnten Personenstimmen bzw. Kennzeichnungen hinzufügen - und nur dieser Zettel findet den Weg in die Wahlurne. 

Um diesen Vorgang zu erleichtern, hat das zuständige lettische Wahlamt nun eine neue Optik für zukünftige Wahlzettel entworfen. Bisher konnten die Wählenden zum Beispiel Namen von unerwünschten oder negativ beurteilten Kandidatinnen oder Kandidaten auf dem Wahlzettel einfach durchstreichen. Nun werden grüne und rote Farbfelder eingeführt für die Pro- oder Kontra-Stimmen. 

Im Unterschied zu manchen Wahlverfahren bei deutschen Kommunalwahlen (wie zum Beispiel in Bremen) können hier nur Namen auf der bereits ausgewählten Parteiliste, die man auch wählen möchte, gekennzeichnet werden. 

Ziel: alles automatisch

Grund für die Änderung ist die Vorbereitung des lettischen Wahlamts auf zukünftig automatisierte Auszählverfahren - die neue Gestaltung soll für alle zukünftigen Wahlen gelten. (lsm / kuldigasnovads / CVK ) Durch die Einführung neuer Stimmzettel werde sichergestellt, dass die Wahlergebnisse zeitnah erfasst werden und die manuelle Auszählung der Stimmen entfalle, so erklärt Kristīne Saulīte, Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission. So werde die Durchführung der Wahlen erleichtert und der menschliche Faktor - also die Wahrscheinlichkeit von Fehlern - bei der Erfassung der Wahlergebnisse erheblich minimiert.

22. November 2024

Harmonie für's Kongreßhaus

Wer sich die aktuellen Entwürfe ansieht, meint vielleicht, am Kalpaka Boulevard in Riga solle gleich eine neue Stadt aus dem Boden gestampft werden. 

Seit langer Zeit schon wurde über den Bau eines neuen Konzerthauses geredet und gestritten - zunächst meinte man sich auf einen Bau mitten in der Daugava geinigte zu haben (siehe Bericht), dann schien der Bau der Nationalbibliothek wichtiger (die 2014 eröffnet wurde). 

Von der langen Bank - auf die lange Bank

Die Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat änderten sich mehrfach, und es kamen immer neue Vorschläge dazu, welcher Ort am geeignesten für ein Konzerthaus sein könnte. Schließlich wurden alle davor liegenden Beschlüsse verworfen und man begann wieder bei Null. Nun wurden insgesamt 36 verschiedene Orte in Riga wurden geprüft. Inzwischen scheint die Sache klar: schon innerhalb der nächsten zwei Jahre sollen entscheidende Schritte getan sein, das bisherige Kongreßhaus als "Rīgas Filharmonija" (Philharmonie Riga) umzubauen. Abreissen konnte und wollte man dieses 1982 im postmodernen Stil gebaute Haus nicht - das wurde als Rahmen einer internationalen Ausschreibung festgelegt, bei der sich über 120 Architekturbüros bewarben, davon fast 100 aus dem Ausland.

Das Projekt soll nun durch ein internationales Team vorangetrieben werden, das aus etwa 100 Personen besteht, auch ein Aufsichtsrat wurde geschaffen. Zögerlich ist man noch bei der Benennung der genauen Umbaukosten: zunächst müsse man die "Entwurfsarbeiten fertigstellen", heißt es, und über die notwendigen Mittel für den Bau der Rigaer Philharmonie müsse dann die Regierung noch entscheiden.

Neue Pläne und Ziele

Am 20. November wurden die Pläne bei einer öffentlichen Veranstaltung im Rigaer Rathaus präsentiert. Einiges davon wirkt, mit deutschen Augen gesehen, fast ein wenig wie die große Verhüllung des Reichstags in Berlin - nur diesmal nicht als Kunstprojekt, eher als Prestigeprojekt der Musikstadt Riga. 

Das neue Haus soll dann auch als Tourismus-Magnet wirken; die Stadtoberen stellen es gern in eine Reihe mit Konzerthäusern in Kopenhagen, Amsterdam, Oslo und auch - besonders was lange Planungs- und Bauzeiten angeht -  mit der Elbphilharmonie in Hamburg. Das Unternehmen „Mark arhitekti und Mailītis arhitekti“ soll das Bauvorhaben koordinieren und bis 2026 sollen alle administrativen Voraussetzungen erfüllt sein um mit dem Bau zu beginnen. (lsm)

Ein Haus als Heimat für viele

Eine Fläche von 19.561 m² soll das neue Haus umfassen. Im jetzt gebildeten Aufsichtsrat sind auch künftige Nutzer vertreten, wie z.B. das Nationale Symphonieorcheter ("Latvijas Nacionālā Simfoniskā orķestra" LNSO) und "Latvijas Koncerti" als Veranstalter. Auch der lettische Radiochor und die Bigband des lettischen Radios soll dann hier ihr neues Zuhause finden. Die Fertigstellung des Umbaus soll, bisherigen Plänen zufolge, bis 2030 abgeschlossen sein. (lsm)

Das LNSO tritt bisher im Haus der "Großen Gilde" in Riga auf, das 1936 mit luxuriöser Holzausstattung ausgestattet und 1965 nach einem Brand zuletzt restauriert wurde. Aber auch für die 3576.40 m² Fläche dort, hinter der beeindruckenden mittelalterlichen Fassade, gibt es aktuellen Renovierungsbedarf (Kostenschätzung; 14 Millionen Euro). Danach hofft man, auch dort an mindestens 100 Tagen im Jahr Konzerte veranstalten zu können, mit einer Gesamtzahl von 7500 Besuchern. 

Ein weiterer, realtiv neu gestalteter (ebenfalls traditionsreicher) Ort für Konzerte ist gegenwärtig in Riga der sogenannte "Hanzas Perons" ("Hanse-Bahnsteig"), ein ehemaliges Lagerhaus der Eisenbahn. Immerhin ist hier Raum für bis zu 1200 Sitzplätze. 

Wer in Lettland gar nicht mehr den richtigen Konzertsaal findet, aber die Nutzung von digitalen Angeboten liebt, kann übrigens sich in das Projekt "Konzertsaal zu Hause" (Mājas Koncertzāle) einschalten. (Bisher) kostenlos, und sicherlich mit genügend "Appetithäppchen" - nicht nur aus dem Bereich der Klassik.

29. Oktober 2024

Mehr als ein 0:1

Was Sportbegegnungen zwischen Lettland und Deutschland angeht, so sind vor allem Basketball und Eishockey im Gedächtnis deutscher Sportfans: als Deutschland 2023 überraschend Weltmeister im Basketball wurde, gab es im Viertelfinale den "Thriller in Manila", den knappen 81:79 Sieg Deutschlands, mit einem verworfenen Dreier der Letten in letzter Sekunde. Und obwohl im Eishockey meistens Deutschland bei den Länderspielen gegen Lettland die Oberhand behält (eine WM-Begegnung gewann Lettland zuletzt 2012), sind es doch immer Spiele auf Augenhöhe. Als 2023 Deutschland sensationell Eishockey-Viceweltmeister wurde, gewann Lettland - mindestens ebenso sensationell - die Bronzemedaille

Bollwerke und Zwerge

Aber Fußball? Wer alt genug ist, sich zu erinnern, muss vielleicht an "Rumpelfußballer", ein Begriff der um die Jahrtausendwende herum aufkam, denken. Und beim 0:0 im Spiel gegen Lettland bei der EM des Jahres 2004 schien nichts besser geworden zu sein. "Gescheitert am lettischen Bollwerk", so schrieb der "Spiegel" damals. "Blamage" war wohl eine häufig verwendete Vokabel für die Leistung der Deutschen, galt doch Lettland als "Fußball-Zwerg" (sport1). Im Vorfeld des Spiels war Torhüter Oliver Kahn als "Viertel-Lette" bezeichnet worden, was einigermaßen Aufsehen erregte (Kahn: "Meine Großmutter ist Lettin und mein Vater wurde dort geboren“). Teil der lettischen Mannschaft damals: der lettische Rekord-Nationalspieler Astafjevs ebenso wie Stürmer Māris Verpakovskis, von dem es hieß, dass er die deutsche Abwehr "in Angst und Schrecken versetzte". 

Rigas Schule für Europa

Bankett für die Gäste: die lettische Fußball-Delegation in Frankfurt

Nun spielt also eine lettische Mannschaft aus Riga in der UEFA Europa League - und wer die drei Buchstaben RFS aufzulösen und zu deuten vermag, wird es mit "Rigas Fußball-Schule" übersetzen. Also ein Nachwuchs-Team? Eigentlich nicht. Wichtig vielleicht der Unterschied zwischen "RFS" (Rigaer Fußballschule) und FK RFS (Fußball-Klub Rigaer Fußballschule). Und wer ist Generaldirektor beim lettischen Europaleague-Teilnehmer? Der "alt bekannte" Māris Verpakovskis. "Uns fehlt natürlich noch ein wenig die Erfahrung, in solchem Rahmen und vor solchem Publikum zu spielen", gibt er zu (IR). So ging das erste Spiel in Bukarest mit 1:4 verloren, aber beim Heimspiel gegen Galatasaray aus der Türkei wurde immerhin ein 2:2 Unentschieden erreicht (kicker). Und zu Gast bei Eintracht Frankfurt "nur" 0:1 zu verlieren, erscheint ebenfalls als sehr respektable Leistung. 

Seltene Gelegenheiten

Schon 15 Jahre ist es her, dass ein lettischer Klub in der UEFA-Europa-League spielen konnte - damals war es FK Ventspils (der inzwischen, nach einigen Skandalen, nicht mehr existiert). 2009 gab es noch eine Aufteilung in Gruppen, und Ventspils spielte unter anderem einmal Unentschieden gegen Hertha BSC.  Der "Kicker" schrieb als Spielbericht: "Viel Krampf, wenig Spektakel: den biederen Letten genügten die Grundtugenden, um indisponierte Berliner in Schach zu halten." Die "BILD" schrieb von "lettischen Nobodys". 

Nach dem Spiel von RFS gegen Frankfurt fallen die Berichte doch etwas anders aus, und es wurde sorgsam registriert, dass 56.600 Zuschauern im Stadion waren (die größte Zuschauermenge, vor der RFS bisher je gespielt hatte), und dass auch 600 Letten dabei waren (RFS).Und, siehe da: auch von einem "lettischen Bollwerk" war wieder die Rede (sportschau). Fünf Millionen Euro habe RFS allein schon für das Erreichen der Europa-League von der UEFA eingenommen, verrät Manager Verpakovskis, und für ein Unentschieden gibt es immerhin noch einmal 150.000 Euro (IR)

Homeground im Winter

Spezielle Vorbereitungen wird der Rigaer Fußballklub unternehmen müssen, um laut UEFA-Spielplan am 23. Januar 2025 das Europaleague-Spiel gegen Ajax Amsterdam in Riga austragen zu können. Im Stadion Daugava in Riga sei kürzlich aber eine Rasenheizung verlegt worden, die Ende November in Betrieb gehen werde, meint Verpakovskis. Zusätzlich wolle man den Platz rechtzeitig vorher gegen Schnee abdecken (IR). Die UEFA-Regeln schreiben vor, dass gespielt wird, solange die Außentemperatur nicht unter -15 Grad fällt. In der obersten lettischen ersten Fußball-Liga (Virsliga) dauert der Spielbetrieb in der Regel von Mitte März bis Anfang November - aktuell führt Rīgas FS zwei Spieltage vor Schluß die Tabelle mit sechs Punkten Vorsprung an (Kicker).

Was wird passieren, wird Verpakovskis gefragt, wenn trotz aller Mühen ein Fußballspiel in Riga im Januar nicht möglich sein wird? - Wir schauen uns schon nach Möglichkeiten in Tallinn oder Vilnius um, so die Antwort. "Und wenn das nicht geht, spielen wir in einem anderen neutralen Land." Und dann erinnert sich der Ex-Goalgetter doch tatsächlich an die Qualifikationsspiele zur Teilnahme an der Europameisterschaft 2004. "Da haben wir ein Länderspiel in Riga gegen die Türkei Mitte November gehabt. Der Boden war gefroren, das kannten die Türken nicht". Lettland gewann 1:0, das Rückspiel endete 2:2. Torschütze in beiden Spielen: Māris Verpakovskis. (IR)

27. Oktober 2024

Unheilig

Es gibt Wallfahrtsorte in Lettland - mindestens einen. Jedes Jahr zum Maria-Himmelfahrt-Tag im August versammeln sich Tausende Pilger in Aglona, rund 45 km nordöstlich von Daugavpils gelegen.

In der 1780 fertiggestellten Kirche des 1700-Einwohner-Ortes Aglona befindet sich das Heiligenbild  „Die Gottesmutter Wundertäterin von Aglona”, das nur zu den feierlichen Anlässen während der religiösen Feste hervorgeholt wird und dem Gläubige heilende Kräfte zusprechen. Aglona gilt als "Herz des Katholizismus in Lettland" (Latgale-Travel), Noch zu Sowjetzeiten wurde 1986 hier der 800. aJahrestag des Christentums in Lettland gefeiert.
Kurz vor dem Besuch von Papst Johannes Paul II. in Lettland wurde 1993 der gesamte Vorplatz der Kirche planiert und gepflastert, Bäume abgeholzt und eine als "heilig" geltende Quelle nebenan ganz in Beton eingefasst, auf dass alles für die Massennutzung vorbereitet sei. Der Papst verlieh der Kirche den Titel einer "kleinen Basilika", und 2018 besuchte auch Papst Franziskus den Ort. Und für Gruppen bis zu 53 Personen hält die örtliche katholische Gemeinde jederzeit Übernachtungsmöglichkeiten und Catering bereit. 

Aglona, ein Sehnsuchtsort? 

Zwar ist die Einwohnerzahl der 1995 gegründeten katholischen Diözese Rēzekne-Aglona stark rückläufig (im Jahr 1999 noch 400.000 Menschen, 2022 nur noch 276.000), aber mit 28,7% ist der Anteil der Katholiken konstant und einer der höchsten in Lettland. Die Anzahl der katholischen Priester ist im selben Zeitraum dort sogar von 53 auf 60 gestiegen. Aber die Kirche in Aglona macht inzwischen auch ganz andere Schlagzeilen.

Pāvils Zeiļa, geboren 1945, als Priester ordiniert 1977, ist seit 2005 sogar Ehrenbürger der Stadt Rēzekne. Anfang 2019 wurde Zeiļa jedoch von seinen Aufgaben als Priester der Gemeinden "Unsere lieben Frauen" in Rēzekne, der Mariengemeinde in Dugstigala und der Simon-und-Juda-Gemeinde in Prezma entbunden - aus gesundheitlichen Gründen, wie es hieß.  

Kurz darauf, am 7. März 2019, erhob die lettische Staatsanwaltschaft Anklage in einem Strafverfahren wegen sexueller Gewalt und Menschenhandel - mit Priester Zeiļa als einem der Verdächtigen. Die ersten Presseberichte waren schon 2018 aufgetaucht: ein Mann in "hilflosem Zustand" sei sexuell missbraucht worden, insgesamt gäbe es drei Verdächtige, darunter der Priester. Auch von "Menschenhandel" war die Rede. Zeiļa verbrachte einige Zeit in Untersuchungshaft, wurde jedoch später gegen eine Kaution von 5.000 Euro freigelassen. Mehr als fünf Jahre später, am 27. September 2024, erging endlich ein Urteil: Zeiļa wurde  zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt. 

Knast für den Sittenwächter

Hat das Strafverfahren Aufklärung gebracht, was da genau passiert ist?  Anfangs hatten noch Priesterkollegen, so wie Dainis Kašs, Zeiļa in Schutz nehmen wollen. "Gemeindemitglieder rufen mich weinend an und sagen, das ist nicht wahr!" Zeiļa können nicht einmal mit einem Computer umgehen, so Kašs, und habe zu Hause lediglich einen Fernseher. "Ich kenne ihn schon 30 Jahre, und halte ihn für absolut vertrauenswürdig", so Kašs (lsm). Katholische Gläubige schrieben 2018 sogar einen offenen Brief an den damaligen Ministerpräsidenten Kučinskis und seinen Innenminister Kozlovskis in dem sie die Verhaftung des Pfarrers als "Provokation gegenüber Latgale" bezeichneten - Ziel sei es, "ganz Latgale kurz vor dem Pabstbesuch zu erniedrigen" (LA / Jauns) Papst Franziskus wurde Ende September 2018 zu einem Kurzbesuch in Lettland erwartet (vatikannews). Valdis Tēraudkalns, Professor der Theologie an der Universität Lettlands in Riga, sah die Sache gelassener: "Etwas derartiges war doch zu erwarten," sagte er, "warum soll es in Lettland anders sein als in anderen Ländern der Welt? Je offener wir darüber sprechen, desto besser wird es für die Kirche sein." (IR)

Ein Jahr später allerdings berichtete das lettische Fernsehen LTV, der angeklagte Priester halte weiterhin Gottesdienste und nehme auch Gläubigen die Beichte ab. (TvNet) Jānis Bulis, Bischof der Diözese Rēzekne-Aglona, zog sich damals auf die Aussage zurück, Zeiļa sei eben nicht bei der Diözese, sondern der Marianischen Kongregation angestellt (mariani.lv). Kurz darauf bestätigte Bulis aber, Zeiļa sei inzwischen "in Rente" gegangen, also nicht mehr aktiv (delfi).

Im August 2021 erschien in der Zeitschrift "IR" ein Interview mit Pāvils Zeiļa. Ein Kloster in Italien habe die Kaution für seine zwischenzeitliche Freilassung bezahlt, gab er an (IR); die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen bezeichnete er als "Fantasien". 

In Angesicht des Eisbergs

Nun also sechs Jahre und zehn Monate Gefängnis - und noch vier Jahre und sechs Monate "Bewährung unter Aufsicht" oben drauf. Der 79-jährige Pāvils Zeiļa wurde der sexuellen Gewalt (einer Gruppe von Personen) gegen einen geistig behinderten Mann für schuldig befunden. Ein weiterer Angeklagter erhielt neun Jahre und zehn Monate Gefängnis und fünf Jahre Bewährungsaufsicht. Ihm wird sexuelle Gewalt gegen ein weiteres, damals minderjähriges Opfer vorgeworfen. Ein dritter Angeklagter ist inzwischen verstorben. 

Von Seiten der katholischen Kirche Lettlands gibt es nur spärliche Kommentare. „Bis zu einem endgültigen Urteil des Gerichts verzichtet die Kirche auf weitere Kommentare“, heißt es immer noch. Auch Priesterkollege Dainis Kašs, ebenso wie Zeiļa ein Marianer, gibt keine weiteren Interviews. Zwei bisher nicht benannte Personen kommen ins Spiel: Ieva Leimane-Veldmeijere leitet eine Organisation, die der betroffene behinderte Mann um Hilfe bat. Und dem Anwalt Uldis Lapiņš werden mehrere Versuche vorgeworfen, den Mann von einer Aussage vor Gericht abzuhalten. Leimane-Veldmeijere erklärt den Grund für die Einwilligung, ihren Namen jetzt öffentlich zu nennen, so: "Ich möchte allen Verschwärungsgerüchten und -theorien entgegentreten, die bezüglich dieses Falles im Umlauf sind." Eigene Beschuldigungen habe ihre Organnisation keine erhoben: "Das ist alles Ergebnis polizeilicher Ermittlungsarbeit." Oft wüssten eben Betroffene nicht, wohin sie sich wenden sollten, und da viele Fälle gar nicht zur Anzeige gelangen, sei der Fall des Priesters Zeiļa "nur der sichtbare Teil des Eisbergs". (IR)

Priester Zeiļa wurden Fälle sexueller Gewalt vorgeworfen, beide Male traf er das Opfer im Pfarrbüro in Rēzekne. Er ist aber nicht der einzige und nicht der erste Geistliche in Lettland, dem sexuelle Gewalt vorgeworfen wird. 2023 wurde ein anderer katholischer Priester wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs eines Kindes verhaftet, und ein Geistlicher einer baptistischen Gemeinde wurde wegen Gewalt gegen fünf Mädchen (das jüngste Opfer sieben Jahre alt) zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. (IR)

Ein anderer Fall war 2010 der Fall eines katholischen Pfarrers, der erst zur evangelischen Kirche übertrat und dann im Verdacht des sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Waisenhausschülern stand. Die damaligen Untersuchungen endeten 2015 nach dem Tod des Beschuldigten. 

Von kirchlicher Seite wurde angekündigt, dass nunmehr alle Personen in Diensten der Kirche, die mit Kindern umgehen, zur Teilnahme an Seminaren zum Thema Kinderschutz verpflichtet werden sollen. "Fahren sie nicht allein mit einem Kind im Auto oder halten sich in geschlossenen Räumen ohne die Anwesenheit von Erziehungsberechtigten auf", heißt es da, "schützen Sie sich selbst und setzen Sie sich nicht unnötigen Verdächtigungen aus." (IR)

21. September 2024

Neues vom Strand

Kennen Sie Bilderlingshof, Kiefernhalt oder Karlsbad?  Lettisch würden wir heute sagen: Bulduri, Priedaine und Melluži. Aktuell Teil der Stadt Jūrmala. Dabei ist Priedaine sogar der älteste bewohnte Ort, denn dort wurden bei Ausgrabungen zwei steinzeitliche Siedlungen gefunden, weiß die lettische Presse (lsm). 

Tradition Badestrand

Bis zum Jahr 1920 gab es hier nur verschiedene Badestellen am Ostseestrand, aufgereiht am Ufer. Bilderlingshof (Bulduri), Edinburg (Dzintari), Majori, Dubulti und weitere. Schon 1838 war in Ķemeri ein Kurort gegründet worden. Nun wurde, im frisch unabhängig gewordenen Lettland, eine Stadt Jūrmala gebildet. 1946 gliederte dann die Regierung der Lettischen SSR zunächst Jūrmala als eigenen Bezirk der Stadt Riga ein. In Priedaine zum Beispiel wurden 1949 alle Straßen, mit Ausnahme des Lielais-Prospekts, umbenannt. 10 Jahre später kamen dann die nächsten Änderungen: am 11. November 1959 wurden noch Kurort und Papierfabrik eingegliedert - Ķemeri und Sloka - wobei Sloka schon seit 1878 eigene Stadtrechte besaß. 

Insgesamt ist Jūrmala also weniger traditionsreich als andere Städte. Die Stadt noch einmal komplett umkrempeln, warum also nicht? Die Stadtverwaltung möchte nun gleich acht Straßen umbenennen. Es sind die Andreja Upīša iela, Puškina iela, Partizānu iela, Pētera Pāvila iela, Leona Paegles iela, Oškalna iela, Sputņika iela, und die Jāņa Sudrabkalna iela. Bis zum 6. Oktober sind die Einwohnerinnen und Einwohner aufgerufen, ihre Meinung zu den Änderungsvorschlägen kund zu tun, die eine Arbeitsgruppe der Stadt bereits vorbereitet hat. (apollo)

Acht Ungeliebte

Liegt es daran, dass die lettische Bauernpartei (Zaļo un Zemnieku savienība / ZZS) bei den Kommunalwahlen für lettische Verhältnisse ungewöhnliche 50,56% der Stimmen und 8 von 15 Mandaten errungen hatte? Danach schien manches leichter zu sein, wie zum Beispiel sich selbst eine kräftige Gehaltserhöhung zu genehmigen (lsm), oder einen umstrittenen Bürgermeister, der zurücktreten musste, als Berater wieder einzustellen (bnn)

Was soll verschwinden? Die Befürworter der Umbenennung meinen, lettische Straßennamen sollten grundsätzlich nur noch an Flüssen, Bergen, Tieren oder Namen orientiert sein, die mit historischen Ereignissen verbunden sind, die eindeutig für Lettland von Bedeutung sind (NA). Also: Sputnik = Technik der Sowjetunion. Puschkin =  Dichter Russlands. Andrejs Upīts = lettischer Schriftsteller, aber Vertreter des sozialistischen Realismus und 1919 Unterstützer einer lettischen Sowjetrepublik. 

Leons Paegle = Lehrer, Dichter, Literat - aber auch Kommunist, der den Versuch von 1919, eine lettische Sowjetrepublik zu bilden, untertstützte. Janis Sudrabkalns, noch ein Dichter, der vom lettischen Literaturinformationszentrum immerhin als einer der "bedeutendsten Autoren der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts" bezeichnet wird. Aber: als sich die UdSSR 1940 Lettland einverleibt hatte, wurde Sudrabkalns zum Anhänger des Sowjetsystems und, sozusagen, zu einem der bekanntesten lettisch-sowjetischen Dichter. Auch Otomārs Oškalns war zunächst Lehrer, wurde 1934 verhaftet und wurde dann 1940 Deputierter des Obersten Rates der Lettischen SSR, 1942 dann Mitglied von antifaschistischen Partisanengruppen, nach Kriegsende 1946 dann Minister der Lettischen SSR.

Aber die Pētera Pāvila iela? Peter Paul Straße? Von der Citadeles iela in Riga ist bekannt, dass sie auch mal Pētera Pāvila hieß (russisch "Petropawlowskaja-Straße"). Ist also vielleicht der Ort Petropawlowsk in Russland hier Namensgeber? Oder die "Peter-und-Paul-Festung" (Petropawlowskaja Krepost) in St.Petersburg? Von der gleichnamigen Straße in Riga ist bekannt, dass die Straßenbenennung 1785 nach dem Bau der Kirche St. Peter und Paul in Riga erfolgte (LNB).- Nun gibt es ja tatsächlich auch in Ķemeri eine orthodoxe Kirche mit Namen Peter-und-Paul-Kirche (Pētera un Pāvila Ķemeru pareizticīgo baznīca) - nur wenige Hundert Meter entfernt von der Straße, die den Namen Peters und Pauls nun verlieren soll. Ob nun der nationalistische Eifer die Kirche mit umbenennen wird? 

Alternativen: Ärzte, Dichter, Architekten

Zur Wahl für die Umbenennung steht zunächst die "Nationale Partisanen-Straße" (denn gegen Partisanen hat man offenbar nur dann etwas, wenn sie sozialistisch oder kommunistisch gesinnt sind). (jurmala.lv). Personen, nach denen Straßen benannt werden sollen: Eižens Laube (ein Architekt, schuf viele Gebäude in Jūrmala), Jānis Lībietis (ein Arzt, Direktor der Schwefelquellen in Ķemeri), Mihails Malkiels (Gründer des Rehabilitationszentrums „Jaunķemeri"), Eduards Kalniņš (ein Künstler und Professor an der lettischen Kunstakademie), Niklāvs Strunke (ebenfalls Künstler), und schließlich auch die erst kürzlich verstorbene Dichterin Amanda Aizpuriete. Mit dabei auf der Vorschlagsliste ist auch der in Görlitz gebürtige Rigaer Lokalhistoriker und Zeichner Johann Christoph Brotze - Begründung: er habe mehrere Ansichten und Karten von Kauguri und Sloka gezeichnet. (jurmala.lv)

Andere Vorschläge klingen eher nicht danach, dass deshalb Straßennamen extra geändert werden müssen: "Kurortstraße" (weil Ķemeri mal ein Kurort war), "Kupferstraße" (weil Kupfer häufig für Dächer und Fassaden verwendet wurde), "Webspulenstraße" (wohl als Hinweis auf altes Handwerk), oder "Seeschwalbenstraße" (diese Vögel werden wohl auch schon in Jūrmala herumgeflogen sein - aber "Nationalparkstraße" hat bisher niemand vorgeschlagen). Es wird deutlich: es gibt aktuell nichts, wonach dringend Straßen benannt werden müssten (Aizpuriete mal ausgenommen). Es ist wohl eher die Lust an der "nationalen Bereinigung".

Bei einer ähnlichen Straßenumbenennungsaktion im lettischen Valka stellte übrigens die Stadt die Straßenschilder für die Anwohner/innen kostenlos zur Verfügung, und auch die Eintragung ins Grundbuch geschah ohne weiteren Aufwand (digital). Und in Riga sind zu Jahresanfang Moskau, Lomonossow, Puschkin, Gogol, Lermontow und Turgenjew von den Straßenschildern verschwunden. Veranschlagte Kosten: 80.000 Euro.

Also warten wir mal ab, was die Einwohnerinnen und Einwohner von Jūrmala im Oktober entscheiden. Einzig in einem Fall steht die Möglichkeit zur Auswahl, den Namen beizubehalten - mit einer winzigen Änderung: aus der "Pētera Pāvila iela" würde dann die "Pētera–Pāvila iela", womit es unter Zuhilfenahme des Bindestrichs dann so aussehen würde als seien nur zwei Vornamen gemeint. Also: es geht voran, am Strande Lettlands!

16. September 2024

Darmstädter Waldluft

Wo liegt eigentlich der Darmstädter Kiefernhain? Eine Frage, mit der selbst gut trainierte Suchmaschinen Schwierigkeiten haben. Denn nein, es ist nicht das Naturdenkmal in Darmstadt-Eberstadt, und auch nicht die KITA Kiefernhain. Gemeint sind schon richtige Bäume, angepflanzt Ende des 19. Jahrhunderts. Es sind Kiefern, die in einem Naturschutzgebiet wachsen, und inzwischen also um die 120 Jahre alt sind (Darmštates priežu audze). Das Saatgut wurde aus Deutschland nach Lettland gebracht, die lettische Naturschutzverwaltung beschreibt das Gebiet inzwischen so: "ein gescheiterter Versuch Darmstadt-Kiefern anzubauen, die für die klimatischen Bedingungen Lettlands ungeeignet sind." Und die lettische Forstverwaltung schreibt: "dies ist der einzige Darmstädter Kiefernwald in Lettland." 

Oberförster eigenwillig

Das Gebiet steht schon seit 1977 unter Naturschutz, ist 4,69 ha groß, liegt am Ufer des Flusses Lielupe und zählt heute zum Gebiet der (1959 gegründeten) Gemeinde Jūrmala. Ein Naturschutzkonzept bezeichnet das Gebiet als "dendrologische Besonderheit", denn besonders schützenswerte Tiere oder Pflanzen gibt es in diesem Gebiet nicht.

Das Saatgut sei Ende des 19.Jahrhunderts von einer Firma Keller aus Darmstadt bezogen worden, heißt es. Verantwortlich für die Anpflanzung war damals Eižen Ostvalds (Eugen Ostwald), deutschstämmiger Oberförster der Region Riga, der sich geweigert haben soll, den Wert lokaler Saatguterzeuger anzuerkennen. Er hoffte auf schnelles Wachstum und Gewinne durch den Holzverkauf - aber das Gegenteil trat ein. "Schon nach 10 Jahren war zu sehen, dass die Anpflanzungen mehr Äste und Zweige aufweisen - also nicht so gutes Holz ergeben," bestätigte auch der Dendrologe und Landrat Max Sivers (1857-1919). Und ein Teil der Anpflanzungen sollen schon den harten Winter 1887/88 nicht überstanden haben.

Krumm und schepp

Es soll damals hitzige Diskussionen in der Presse Lettlands zu diesem Thema gegeben haben. Der Darmstadter Firma wurde sogar unterstellt, die Samen billig aus Südfrankreich eingekauft und nicht einmal selbst hergestellt zu haben. "Kein Forstmann kann es verantworten, der Nachwelt Krüppelbestände zu hinterlassen", so urteilte Landrat Sivers in einer Forstfachzeitschrift. Die meisten dieser Anpflanzungen wurden später wieder entfernt. Heute ist nur die Anpflanzung in Jūrmala noch erhalten. 

Eigentlich gibt es auf diesem Gebiet auch keine Besiedlung. Allerdings befindet sich in der Nähe, auf dem Grundstück Bražuciems 0701, schon seit der Sowjetzeit eine sogenannte "Sommerzeltstadt", inzwischen auch mit mehr als nur Zelten - und es ist unklar, wieviele Menschen dort eigentlich auch ständig wohnen. (lsm)

Spenden für Darmstadt?

Vielleicht könnte Jūrmala ja heutzutage ein paar gute Kiefernsamen "zurückspenden" an Darmstadt? Die heimische Presse dort schreibt inzwischen vom "Kieferntod in Darmstadts Wäldern" (echo/ FAZ) Allerdings kennt man sich in der Ex-Residenzstadt offenbar schon lange mit krummen Kiefern aus: dort gibt es die "Schepp Allee", wo schon im 18. Jahrhundert Kiefern an Straßenrändern angepflanzt wurden, um die hochherrschaftlichen Kutschen vor dem überall herumfliegenden Sand zu schützen (Stadtlexikon). Ergebnis: lange hielten sich die Kiefern nicht. 1879 soll es 210 echte scheppe (schiefe) Kiefern gegeben haben, und 1954 waren noch 30 Kiefern übrig, die in ihren so ungewöhnlichen Wuchsformen überdauert hatten und, wie es heißt, Kindern einen idealen Kletterplatz boten  (stadtundgruen) (siehe Abb. Stadtarchiv Darmstadt)

Eine Partnerstadt in Lettland hat Darmstadt ja auch schon - seit 1993 ist das Liepāja. Ob es bei Besuchen aus Hessen bald regelmäßig Ausflüge zu den "Darmstädter Kiefern" gibt? Wohl eher nur für ganz eifrige Dendrologen.

6. September 2024

Morgenrot macht Roggenbrot

... so.oder so ähnlich könnte der Slogan gewesen sein. Da legt doch das lettische Landwirtschaftsministerium ein spezielles Förderprogramm auf, um Vorschulkindern und Schülern der ersten bis neunten Klassen das Roggenbrot als traditionelles, wichtiges und regionalspezifisches Brot und seine Bedeutung für die Ernährung näher zu bringen. 300.000 Euro wurden bereitgestellt. Allerdings wurde auch schon die Sinnhaftigkeit dieser Ausgaben in Frage gestellt. Die Förderung der Verwendung von Roggenbrot in der Ernährung solle schon von Kindesbeinen an selbstverständlich werden, so Landwirtschaftsminister Armands Krauze (ogrenet)

Brot für alle - oder doch nicht?

"Die Öffentlichkeit zweifelt an der Sinnhaftigkeit dieser Ausgaben", so berichtet die lettische Presse (ogrenet). Bis Ende 2024 sollte Roggenbrot kostenlos an Schülerinnen und Schüler verteilt werden. Bildungseinrichtungen sollten außerdem eine Befragung junger Menschen durchführen, um Daten über die Beliebtheit von Roggenbrot und den Wissensstand über seinen Wert zu erhalten. Es war geplant, dass das Projekt mindestens 50 % der Zielgruppe, also etwa 140.000 Kinder und Jugendliche, einbeziehen solle. Doch nun rudert das Ministerium zurück: das Projekt wird gestoppt (NRA / Diena)
Nun heißt es schlicht: der Antragsteller habe seinen Förderantrag zurückgezogen. Begründung: ein Teil der Gesellschaft habe eine unklare und besonders negative Haltung gegenüber der Umsetzung des Roggenbrotprogramms gehabt (lad.gov).

Gefangen im Roggen

Der Verzehr von Brot, einschließlich Roggenbrot, ist in Lettland generell rückläufig, so das Landwirtschaftsministerium (zm.gov) In Lettland werden bereits Obst, Gemüse, Milch und Milchprodukte im Rahmen verschiedener Förderprogramme kostenlos an Schulen verteilt. 

Interessant, dass im Rahmen des neuen Förderprogramms auch Bedingungen formuliert wurden, wie genau "förderungsfähiges Roggenbrot" auszusehen habe. Genannt werden folgende Punkte: a) es wird auf dem Gebiet Lettlands in einem beim Lebensmittel- und Veterinäramt registrierten Unternehmen hergestellt; b) es hat die Form eines Klons; c) wird aus natürlicher Hefe hergestellt; d) das Brot besteht aus mindestens 80 Prozent Roggenmehl; e) das Mindesthaltbarkeitsdatum beträgt am Tag der Veranstaltung noch mindestens vier Tage; f) es erfüllt die Qualitätsanforderungen der Verordnungen über Ernährungsnormen für Studierende von Bildungseinrichtungen.

Brot als Kulturgut

Muss jetzt vielleicht auch der Brotpreis in lettischen Bäckereien mal genauer angeschaut werden? Im Zusammenhang mit der jetzt abgesagten Brotkampagne sind keine Gründe aufgeführt, warum Lettinnen und Letten weniger Roggenbrot konsumieren. Lettisches Roggenbrot (Rudzu maize) ist Teil des sogenannten "Kulturkanons", wo versucht wird typisch Lettisches zu definieren und aufzulisten. Dort heißt es: "Traditionelles Roggenbrot ist ein wichtiger Teil der materiellen und spirituellen Kultur der Letten, der mit der Identität der Nation verbunden ist und ein wichtiges Symbol dafür ist." Aber schon zwei Sätze weiter klingt es nicht mehr ganz so attraktiv, wenn beschrieben wird: in schlechten Zeiten hätte man dem Mehl auch Spreu, Moos, Baumrinde oder Sägemehl beigefügt. Roggenbrot also als Ermahnung an die vielen schlechten Zeiten, die Lettland schon überstehen musste? (so nach dem Motto: ein Roggenbrot kriegen wir immer noch irgendwie hin?)

Brot als Touristenattraktion?

Der lettische Reiseveranstalter "Lauku ceļotājs" bietet eine eigene Sektion "Roggenbrotveranstaltungen" an - vor allem durch ein EU-gefördertes Projekt namens "Rudzu ceļš" (Roggenweg). Hier gibt es Mühlenfeste, Brotfestivals und eine Brotstraße anläßlich des Rigaer Stadtfests. Es bleiben aber zwei Fragen. Findet das alles statt, weil es finanzielle Unterstützung gibt, oder ist es echte touristische Nachfrage? Und wie groß ist der Anteil der einheimischen und lokalen Gäste bei solchen Veranstaltungen? 

Gut, es gibt Umfragen zum Thema. "Latvijas Maiznieku biedrība" (LMB), so etwas wie die lettische Bäckerinnung, machte 2020 ein Umfrage, in wieweit die Covid-Pandemie die Konsumgewohnheiten an Brot beeinflußt. Nicht repräsentativ wahrscheinlich (75% der Teilnehmenden waren Frauen), und gefragt wurde nach der bevorzugten Brotsorte in pandemischen Zeiten. Ganz vorn: Roggenbrot! (36,1%). Zweiter Platz: Roggenbrot mit Samen (20,7%). Gibt es in Lettland überhaupt anderes Brot? Irritierend vielleicht die Antwort aus derselben Umfrage: 22,9% der Befragten gaben an, ihr Brot im Kühlschrank aufzubewahren ... 

Brot plus das gewisse Etwas

Aussagen von Seiten der Herstellerfirmen lassen vermuten, dass zunächst einmal Großbäckereien und auch die Tendenz der Kundschaft, ihr Brot im Supermarkt statt beim Bäcker zu kaufen, erhebliche Veränderungen mit sich brachten. Viele kleine Bäckereien müssen einfach schließen. "Die Kunden kaufen weniger Roggenbrot, statt dessen 'Körnerbrot'", so ein Vertreter der Firma “Liepkalni” aus dem Kreis Valmiera (valmierazinas

Zahlen des lettischen Statistikamtes zeigen teilweise erstaunliche Tendenzen: einerseits setzt sich Weizenbrot langsam gegenüber dem Roggenbrot durch. Andererseits wird auf dem Lande viel mehr Brot gegessen als in der Stadt - und der Vorsprung von Weizenbrot zu Roggenbrot ist gerade auf dem Lande größer geworden. Der Anteil von selbst gebackenem Brot ist in dieser Statistik allerdings nicht erfasst. 

Oft im Sonderangebot

Aussagen des finnisch-lettischen Unternehmens "Fazer" zufolge wählen gerade junge Leute in Lettland gern "Roggenbrot mit Mehrwert" - also Brot mit Samen, Körnern oder Kleie. Das sei ein Trend zur gesunden Ernährung, der sich allerdings auch beim Weizenbrot zeige. Insgesamt sei aber für die Verbraucher in Lettland der Preis des Brotes der wichtigste Faktor. In einer zusammen mit der Agentur SKDS durchgeführten Umfrage erklärten 35% der Befragten den Preis für den entscheidenden Faktor beim Brotkauf - diese 35% kauften vorwiegend Brot aus dem Sonderangebot. Entscheidend ist dabei wohl für die Herstellerfirma, dass gerade diejenigen, die Aktionspreise wahrnehmen, auch am meisten Brot konsumieren. Dieser Umfrage zufolge essen fast drei Viertel (74 %) der Bevölkerung Lettlands täglich Brot zum Frühstück, fast die Hälfte der Bevölkerung (42 %) isst Brot zum Mittagessen und 39 % zum Abendessen.

Vielleicht sollten wir ja dem Ministerium eine andere Aktion vorschlagen: Touristen kaufen ja auch gerne kurz vor dem Abflug am Rigaer Flughafen noch ein paar Scheiben "echtes lettisches Roggenbrot" als Mitbringsel. Wie wäre es da, den Preis dort einfach um 20% zu erhöhen, und die Packungen mit einem Aufdruck zu versehen: "Mit ihrem Kauf unterstützen Sie kostenlose Mittagessen an lettischen Kindergärten und Schulen - dafür herzlichen Dank!"