18. März 2023

Dienen, oder wegbleiben

Im vergangenen Jahr machte sich zuerst der damalige lettische Verteidigungsminister Pabriks die Idee zu eigen: Lettland soll die allgemeine Wehrpflicht wieder einführen. Zwar sei die Entscheidung des zuständigen Ministeriums richtig gewesen, 2007 sich vom allgemeinen Wehrdienst zu verabschieden und den lettischen Beitrag zur NATO mit einer Berufsarmee aufzubauen, meinte Pabriks damals auf seiner Webseite. Nun aber habe der russischen Angriffskrieg in der Ukraine gezeigt, dass sich Lettland nicht nur auf eine kleine Berufsarmee verlassen könne - es solle nun wieder für alle ein Dienst zur Staatsverteidigung ("Valsts aizsardzības dienests VAD) geschaffen werden. 

Nun ja, Pabriks scheiterte bei den Parlamentswahlen mit seiner Partei knapp an der 5%-Hürde. Aber auch die neue Regierung plant offenbar, bis 2027 den allgemeinen Wehrdienst wieder einzuführen. Daraus entsteht nun eine sehr interessante Frage: wenn ALLE Wehrdienst leisten sollen, gilt das denn auch für Lettinnen und Letten die im Ausland leben? 

Vor 2027 soll niemand zwangsverpflichtet werden. Danach soll der Dienst für Frauen auf freiwilliger Basis angeboten werden, auch ein Zivildienst wird eingerichtet. Lettland hat inzwischen Struktur gebracht in die sogenannten lettischen "Diaspora-Gemeinden" im Ausland: 2018 wurde ein eigenes "Diaspora-Gesetz" verabschiedet, das 2019 in Kraft trat. Dort wird unter anderem die Sicherstellung des Schulzugangs für Kinder von Auslandslett/innen für den Fall sichergestellt, dass sie nach Lettland ziehen. Allerdings: von Militärdienst war dort keine Rede. 

Das soll nun anders werden. Pläne der Regierung, auch Kinder von Lettinnen und Letten, die im Ausland leben, zum Militärdienst zu verpflichten, erregen sehr unterschiedliche Reaktionen, so auch in der Radiosendung "Globālais latvietis" ("der globale Lette"). Jānis Eglīts, Mitarbeiter im lettischen Verteidigungsministerium, erläuterte in der Sendung das Ziel der Regierung, alle Bürgerinnen und Bürger Lettlands auf eine umfassende Landesverteidigung vorzubereiten. Er kündigte an, dass schon im nächsten Jahr der Unterricht in Landesverteidigung an den lettischen Schulen obligatorisch werden wird. Ob Ähnliches auch für die Lettinnen und Letten im Ausland (sogen. "Diaspora") gelten soll, darüber müsse man aber noch mit den betreffenden Gruppierungen reden. 

Eine dieser Gruppierungen vertritt Laima Ozola aus Irland. "IMLO Lat-Ireland" ist für den Aufbau des Portals www.baltic-ireland.ie verantwortlich, das seit 2007 existiert und wo man sich für etwa 60.000 in Irland lebenden Lettinnen und Letten zuständig fühlt. Dort wird auch über eine Debatte im lettischen Parlament zum neuen Gesetz berichtet. Da werden Befürchtungen laut, Einzuberufende könnten auf die Staatsbürgerschaft verzichten, um der Einberufung zu entgehen. Sogar von "Feiglingen" sei im lettischen Parlament die Rede gewesen: "wem die Steuern oder die Studiengebühren zu hoch, oder die Miete zu teuer, der kann ja die Staatsbürgerschaft zurückgeben". Laima Ozola berichtet von Plänen, auch in Irland einen dreitägigen Kurs zur Landesverteidigung auszurichten, allerdings sei deren Finanzierung noch unklar.

Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass der Militärdienst in Lettland in Zukunft auf eine von drei Arten geleistet werden kann: entweder 11 Monate in den regulären Streitkräften der Nationalarmee oder der Einheit der "Zemessardze" (Nationalgarde, bisher eine reine Freiwilligeneinheit), oder fünf Jahre Dienst bei der "Zemessardze", inklusive nicht weniger als 21 Tage individuelle Ausbildung und nicht mehr als sieben Tage kollektive Ausbildung pro Jahr. Als Drittes bleibt den Universitäts- und Hochschulstudenten noch die Möglichkeit, innerhalb von fünf Jahren eine Gesamtdienstzeit von nicht weniger als 180 Tagen als Studium zum Offizier der Reserve zu absolvieren.

"Wenn ich richtig nachgezählt habe, gilt also ein Einberufunsdatum ab 2017 für alle 2009 und später Geborenen", meint Linda Ozola. "Die Meinungsäußerungen unter den in Irland lebenden Letten sind allerdings bisher sehr unterschiedlich," berichtet sie. "Einige sagten, sie würden dann, als Inhaber doppelter Staatsbürgerschaft, auf die lettische Staatsbürgerschaft verzichten". Und sie wirbt auch für Verständnis für diejenigen Menschen lettischer Staatsbürgerschaft, die nun schon länger in Irland leben, oder sogar dort aufgewachsen sind. „Irland ist kein NATO-Land, hier gibt es keine Armee, und wenn ein junger Mensch hier geboren und aufgewachsen ist, fühlt er sich hier nicht bedroht wie in Lettland, daher ist es klar, dass es für junge Menschen schwierig ist, Motivation dafür zu finden dem Nationalen Verteidigungsdienst beizutreten. Es gibt Bürger, potenzielle Rekruten, die selbst erst ein paar Mal in Lettland waren. Sie sprechen Englisch, sie kommen aus Irland, sie verstehen vielleicht nicht, was Nationaler Verteidigungsdienst bedeutet", erklärte sie. (lsm)

Jānis Skrebels wiederum, Vertreter der 2020 in Norwegen gegründeten lettischen Jugendorganisation "EJ - Eiropas jaunieši" ("Jugendliche Europas"), äußert sein Unverständnis demgegenüber, dass der lettische Staat beim Militärdienst nach Geschlecht sortiert. Außerdem sei da eben eine große Unsicherheit was nun zu erwarten sei sowie das Gefühl, dass sich die ganze Diskussion eben nur um die in Lettland lebenden Letten und Lettinnen drehe, denn denen werde der Erhalt des Studien- oder Arbeitsplatzes auch nach dem Militärdienst garantiert - was mit den Auslandsletten in diesem Fall passieren soll, sei dagegen unklar. 

Öffentliche Protestaktionen gegen die Einführung einer allgemeinen Wehrdienstpflicht gab es in Lettland bisher nur wenige. Bei einer Demonstration am lettischen Freiheitsdenkmal versammelten sich (bei heftigem Schneetreiben) am 4. März nur wenig mehr als 10 Personen (lsm / TVnet) Dabei wurden als Gründe gegen den Militärdienst u.a. auch eine angebliche Zwangsverpflichtung zur Impfung bei der Armee genannt. 

Ab dem 1. Juli 2023 werden die ersten 300 jungen Erwachsenen auf freiwilliger Basis in Lettland ihren Militärdienst beginnen.

12. März 2023

Lernen, oder gehen

Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs in der Ukraine änderte das lettische Parlament (Saeima) im vergangenen Jahr das Einwanderungsgesetz: die neuen Bestimmungen sehen vor dass Personen, die Bürger oder Nichtbürger Lettlands waren und die Staatsbürgerschaft Russlands oder Weißrusslands angenommen haben, bis September 2023 ein Dokument zum Nachweis der Kenntnis der Landessprache Lettlisch vorweisen können müssen. Als Frist wurde der 1. September gesetzt.

Um weiterhin eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu behalten, müssen Einwohner Lettlands mit einem russischen oder belarussischen Pass bei der Direktion für Staatsbürgerschafts- und Migrationsangelegenheiten (Pilsonības un migrācijas lietu pārvaldē PLMP) einen Nachweis über Kenntnisse der Landessprache mindestens auf dem Niveau A2 (unterste Stufe, Grundkenntnisse) vorlegen. Die Sprachtests werden vom "Staatlichen Zentrum für Bildungsinhalte" (Valsts izglītības satura centra VISC) organisiert. 

Als das Gesetz verabschiedet wurde, ging man noch davon aus, dass etwa 22.300 Menschen von der neuen Regelung betroffen sein werden. Wer über 75 Jahre alt ist von der Sprachprüfung ausgenommen. Dies berücksichtigend, dazu einige andere Ausnahmen, werden etwa 18.000 Menschen diese Lettisch-Prüfung ablegen müssen, wenn sie weiter mit unbegrenzter Aufenthaltserlaubnis in Lettland leben wollen. "Wir sind uns bewußt, dass das für uns eine riesige Herausforderung wird," meint Liene Voroņenko, Leiterin des VISC, gegenüber der Zeitschrift "IR". In lettischen Zeitungen werden schon Anfragen etwa dieser Art laut: "Meine Frau ist russische Staatsbürgerin - wenn sie die Sprachprüfung nicht besteht, wird sie dann deportiert oder muss ich mich scheiden lassen?" (LA

Eine von 10.439 Bürgerinnen und Bürgern unterstütze Eingabe an das lettische Parlament, die neuen Sprachregelungen wieder aufzuheben, wurde am 2. Februar mit Mehrheit abgelehnt (siehe auch: manabalss.lv). "Wir sind loyal gegenüber dem Staat Lettland", betonte Olga Petkeviča, eine der Initiatorinnen. Der Gebrauch der russischen Sprache sei einfach ein Mittel zur gegenseitigen Kommunikation, keine Loyalitätserklärung gegenüber Russland oder Putin.

Viele werden sich also zu einer Sprachprüfung anmelden müssen - und dafür auch selbst zahlen. Die zu entrichtende Geführ wird auf 52 Euro beziffert. Immerhin werden kostenfreie Lehrmaterialien bereitgestellt, die genauen Anforderungen für Level A2 sind im Internet einsehbar. Gleichzeitig wird von bereits jetzt existierenden langen Warteschlangen berichtet. Die Anmeldung ist seit dem 1. Februar möglich (siehe VISC), aber Termine werden vom zuständigen PLMÜ oft nur langfristig vergeben. PMLP-Mitarbeiterin Madara Puķe zufolge sind 48 zusätzliche Mitarbeiter und zusätzliche Finanzmittal von 2,3 Millionen Euro nötig, um die Änderungen des Einwanderungsgesetzes umzusetzen.(IR)

Warum haben überhaupt Menschen die russische Staatsbürgerschaft angenommen? "Ja, einige mögen vielleicht auch irgendwann einmal für Putin gestimmt haben", gibt auch Aktivistin Petkeviča zu, "aber was für eine Bedrohung der Staatssicherheit soll heute von alten Leuten ausgehen?"
Die Zeitschrift "IR" zitiert das Beispiel der Irēna Birjukovska aus Daugavpils. Damit ihre Tochter arbeiten und ihren Lebensunterhalt verdienen konnte, beschloss sie, sich um ihr Enkelkind zu kümmern. Zu dieser Zeit hatte sie sich auch von ihrem Mann scheiden lassen. „Ich muss die Wohnung bezahlen, aber es gab keine Arbeit, und die Rente war noch in weiter Ferne“, skizziert sie ihre finanzielle Situation. Dies veranlasste ihn, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Durch einen solchen Schritt könnte die Rente (aus Russland) ab dem 55. Lebensjahr bezogen werden. Das ist nun 10 Jahre her. "Ich bin allein, habe keine Arbeit, da sind die Chancen für eine Aufenthaltserlaubnis wohl nicht besonders hoch ..." (IR)

Von Innenminister Māris Kučinskis (AS) waren inzwischen Andeutungen in der Presse zu lesen, die strengen Regelungen vielleicht etwas zu lockern, schon allein wegen begrenzter Kapazität an Arbeitskräften bei der PMLP. Er deutete an, die Behörden könnten vielleicht jeden Einzelfall gesondert behandeln, anstatt stur am 1.September den Schlußstrich zu ziehen (tvnet)

18. Februar 2023

Es windet sich

Die Journalistin Jana Altenberga wagt sich für die Zeitschrift "IR" an eine Zwischenbilanz der Windenergie in Lettland. Bisher wurden Windparks mit einer Kapazität von 136 MW installiert, schreibt sie - das ist fast fünfmal weniger als in Litauen (671 MW) und nur halb soviel wie in Estland (320 MW). Im Jahr 2021 wurde nur 2,5 % der gesamten Strommenge durch Windkraft erzeugt. 

Dass Windenergie nun auch in Lettland stärker in den Fokus gerückt wird, liegt an den erhöhten Energiekosten, meint Toms Nāburgs, Vorsitzender der lettischen Windenergieverbands. "Durch die technologische Entwicklung und den Anstieg der Strompreise ist eine Förderung von Strom aus Windenergie nicht mehr erforderlich - die Kosten von rund 40 Euro pro Megawattstunde können endlich mit den Marktpreisen konkurrieren. Aber bisher sind auch unsere Staatsoberhäupter zu diesem Thema noch nicht über ein paar schöne Reden hinausgekommen."

Dem Bericht von Altberga zufolge plant der private Netzbetreiber "Augstsprieguma Tīkls AS" Projekte von insgesamt 6.287 MW, davon 1346 MW für Windenergie. Offenbar ist der für Solarenergie vorgesehene Anteil deshalb größer, weil bei Windenergieanlagen die Umweltverträglichkeitsprüfung in Lettland wesentlich umfangreicher ist. Zudem gab es bisher einige Beschränkungen und Verbote, die die verfügbaren Flächen für den Bau von Windparks erheblich einschränken. So durften zum Beispiel Anlagen von mehr als 2 MW nicht näher als 800 Meter von Wohngebäuden und öffentlichen Gebäuden entfernt sein. 

Auch ein neues Unternehmen, die "lettische Windpark GmbH" (“Latvijas vēja parki”), gemeinsam gegründet am 22. Juli 2022 von der Verwaltung der lettischen Staatswälder (Latvijas valsts meži) und dem lettischen staatlichen Energieversorger "Latvenergo" deutet wohl darauf hin, dass in Zukunft auch in Gebieten mit Staatswald gebaut werden soll. Bis 2030 sollen so Anlagen von 800 MW entstehen. Das hat zur Folge, dass offenbar eine Diskussion darüber begonnen hat, "welchen Investoren der Wald zuerst geöffnet wird" - naturfreundlich klingt anders. Raimonds Čudars, gerade frisch im Amt als "Minister für Energie und Klima", scheint vor allem Wert auf gleiche Wettbewerbschancen der verschiedenen Firmen zu legen. 

Ilvija Boreiko, Vorstandschefin bei "Latvijas vēja parki", gibt sich gut vorbereitet: "Wir führen zur Zeit verschiedene ökologische Studien durch, ornothologisch, zu Fledermäusen und anderen Tier- und Pflanzenarten, damit durch Windparks möglichst die biologische Vielfalt nicht beeinträchtigt wird." Diese Studien seien nicht auf Kurland und die Küste nördlich von Riga beschränkt. "Es geht uns nicht darum, wo die stärksten Winde wehen, sondern uns interessiert der Wind in 200-300m Höhe; darauf bezogen ist das Potential in ganz Lettland etwa gleich. Ich denke, wir können bis zu 120 Windturbinen produzieren." Die ersten fertigen Anlagen sollen demnach 2026 in Betrieb gehen. (latvenergo) Dem gestiegenen Interesse entspricht auch, dass Lettland im April 2023 Gastgeber der "WindWorks" sein wird, der bisher größten Zusammenkunft von Expertinnen und Expertinnen der Windenergie in den baltischen Staaten. 

Für den Bau von Windenergieanlagen auf See (offshore) sieht sich Lettland allerdings derzeit noch nicht vorbereitet. Bisher gibt es nur ein einziges Projekt von "Elwind", einem estnisch-lettischen Joint-Venture. Weitere ähnliche Projektanträge wurden vom zuständigen Ministerium bisher abgelehnt. Minister Čudars erklärt das mit noch fehlenden entsprechenden Verordnungen, nach welchen Regeln solche Küstengebiete für Windenergieanlagen freigegeben werden könnten. Das Ministerium arbeite daran. (IR)

1. Februar 2023

Neu vereinigt in Riga: Team Stadtplanung

17 Jahre verbrachte Architekt Pēteris Ratas außerhalb seines Heimatlandes: er war Teilhaber eines Büros in New York, und arbeitete auch an Projekten in den chinesischen Städten Shenzhen und Schanghai. Zuvor hatte er an der Technischen Universität Riga und dann am Technologischen Institut in New Yersey in den USA studiert. Nun wird er "Rigas Dirigent" - der Stadtarchitekt.

Drei Kandidaten und eine Kandidatin hatten sich um das Amt in einer offenen Ausschreibung beworben: Agate Eniņa, die mit einer Arbeit über die Architektur künsterischer Gebäude an der Rigaer Technischen Universität (RTU) ihren Doktorgrad verliehen bekommen hatte (Mākslu ēku arhitektūra Latvijā”), Ingurds Lazdiņš, Architekturdozent an der RTU, und Uldis Sedlovs, der außer der Arbeit für viele verschiedene Architekturbüros auch einen Magisterabschluss im Fach Philosophie vorweisen kann. (a4d.lv)

Der Ausschreibung vorausgegangen waren Beschlüsse des Stadtrats Riga, die Arbeit der Rigaer Stadtentwicklung neu zu organisieren. Wo früher Baubehörde, Stadtentwicklung und Stadtarchitekt getrennt voneinander arbeiteten, so sollen sie dies in Zukunft gemeinsam unter dem Dach der Stadtentwicklungsabteilung tun. Die Änderungen sollen die Entwicklungs- und Bauprozesse der Stadt effektiver verwalten und kontrollieren, die zuvor in drei separaten Institutionen überwacht und diskutiert wurden, was häufig zu Widersprüchen führte und die Prozesse verlangsamte, und vielleicht auch die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit von Riga im Kontext der größeren Region verringerte. (a4d.lv)

Bereits seit einem Jahr gibt es in Riga mit Evelīna Ozola auch eine "Hauptdesignerin", ein ganz neu geschaffenes Amt. Auch Ozola ist ausgebildete Architektin, hat aber ihr Studium im Fach "Urban Design" an der TU Delft in den Niederlanden fortgesetzt. Sie beschreibt ihre Aufgaben im Interview mit dem lettischen Radio so: "Meine direkteste und klarste Aufgabe ist es, bei der Auswahl der am besten geeigneten Landschaftsgestaltungselemente zu helfen. Vereinfacht gesagt sind dies verschiedene Bänke, Mülleimer, Fahrradständer und auch Zäune." Aber auch die Umgestaltung des Stadtraums im Zuge des "Rail Baltica"-Projekts sei eine aktuelle Aufgabe. (lsm)

Als weiteres Teammitglied bei der Rigaer Stadtentwicklung gibt es auch eine "Haupt-Landschaftsplanerin" (deutsch würden wir vielleicht sagen "leitende Landschaftsplanerin"). Das ist Indra Purs, ebenfalls mit Grundausbildung in Architektur. (rdpad.lv

Das, was heute im Stadtentwicklungsbüro zusammengeführt werden soll, wurde 2009 bewusst getrennt - als eine der Konsequenzen aus einem Korruptionsskandal, in den damals der Direktor der Stadtentwicklungsabteilung Vilnis Štrams zusammen mit vier weiteren Beamten verwickelt war. Er hatte Bestechungsgelder in Höhe von mehreren Hunderttausend Euro von Firmen im Zusammenhang mit der Umsetzung von Bauplänen gefordert - und auch bekommen. Unter Verdacht standen damals auch mehrere Politiker, unter anderem der Ex-Bürgermeister Gundārs Bojārs; deren Verfahren wurden aber sämtlich aus Mangel an Beweisen eingestellt. (IR / delna)

21. Januar 2023

Bei Jakob Land unter

Der Jahresanfang geriet in der lettischen Stadt Jēkabpils aufregend: der winterliche Wärmeeinbruch nach einer Frostperiode brachte Straßen- und Schulschließungen, und nach ausgiebigem Regen ansteigende Fluten der Daugava. Das Eis des bis dahin zugefrorenen Flusses war in in Bewegung geraten, aber am Ufer noch gefroren - also schoben sich die Eisplatten aufeinander und hinderten den Abfluss des Wassers. Weitere Bereiche der Stadt standen unter Wasser. Etwa 50 Menschen mussten für einige Tage ihre Häuser verlassen, sie kamen größtenteils bei Freunden und Verwandten unter. 

1670 wurden der heute eher beschaulich gelegenen lettischen Stadt Jēkabpils die Stadtrechte verliehen - vom kurländischen Herzog Jakob Kettler - daher der Name (deutsch =  Jakobstadt). Prägend für die Partnerstadt von Melle / NRW ist die Funktion der Stadt als Verkehrsknotenpunkt, sowohl der Straßen wie auch des Bahnverkehrs. Auf der anderen Seite der Daugava liegt Krustpils (Kreutzburg), das in alten Urkunden schon seit 1237 erwähnt wird. Jēkabpils, so wie es heute aussieht, entstand erst 1962 nach dem Bau einer neuen Brücke über die Daugava, die Krustpils mit Jēkabpils verband.

Einige Tage lang stieg nun der Wasserstand der Daugava immer mehr an. Der Schutzdamm hielt den Wassermassen an einige Stellen nicht stand, dort versuchte die Feuerwehr mit Wasserpumpen Wasser aus der Gefahrenzone zu bringen. "Noch nie war der Wasserstand mitten im Winter so hoch", meint Wasserbauexpertin Daina Ieviņa. "Deshalb bricht und verdichtet sich das Eis in schmaleren Untiefen, wie es in der Nähe von Zeļķie, unterhalb von Jēkabpils, geschehen ist. Je niedriger der Wasserstand, desto größer die Eisstaus. Der Regen und die Wärme heben dann das Wasser an und das Eis gerät in Bewegung." Und sie schaut auch voraus: Wenn dann die Wassermassen weiterfließen zum Staudamm, bilde sich dort bei Frost eine neue Eisdecke und könne den Druck im Frühjahr noch verstärken – besonders wenn es dann schnelles Tauwetter geben solte. (IR) Das lettische "Zentrum für Umwelt, Geologie und Meteorologie" (Latvijas Vides, ģeoloģijas un meteoroloģijas centrs) warnt weiter vor schwierigen Wetterverhältnissen bis voraussichtlich März.

Die größte Flutkatastrophe  ereignete sich in Jēkabpils aber im Jahr 1981. Damals fielen den Fluten über 1000 Rinder und 10.000 Hühner zum Opfer, 700 Häuser wurden überflutet, 800 Menschen evakuiert und mehrere Höfe durch dicke Eisschollen zerstört. (IR) Aktuell hatte am 16. Januar der Wasserstand bei 8,24m über Normalnull gelegen, am 14. Januar sogar bei 8,92 m - nur 5cm weniger als bei der großen Flut des Jahres 1981.

Als Konsequenz aus der Katastrophe damals wurde ein Damm gebaut und bis 1986 verstärkt. In den Jahren 2010 bis 2014 wurde alles noch einmal saniert und ausgebaut und oben mit einer beleuchteten Promenade versehen. Die letzte Ausbauphase war aber gegenwärtig noch nicht ganz beendet. Auch an anderen Stellen in Lettland sollte der Hochwasserschutz noch ausgebaut werden, warnen Experten. So müssten bei Ogre, an der Gauja und an der Lielupe noch mehr Überschwemmungsflächen eingerichtet werden, wo das Wasser gefahrlos über die Ufer treten könnte. 

Inzwischen haben in Jēkabpils Aufräumarbeiten begonnen. Maßnahmen zur weiteren Verstärkung des Damms sollen möglichst noch in diesem Jahr abgeschlossen werden. Präsident Levits lobte bei einem Besuch vor Ort den umsichtigen Umgang der Gemeindeverwaltung mit der Krisensituation und sagte für die notwendigen Baumaßnahmen staatliche Hilfe zu (lsm). Raivis Ragainis, Bürgermeister von Jēkabpils, gab eine notwendige Vereinfachung einger Verwaltungsvorschriften zu Bedenken, um den Hochwasserschutz schnell verbessern zu können. Metereologin Laura Krūmiņa ist sich sicher: "Wir haben es hier auch mit direkten Folgen der menschengemachten Klimaveränderungen zu tun. Wir müssen damit rechnen, dass es weitere Jahre mit instabilen Wintern geben wird." (liepajniekiem)

11. Januar 2023

Wer ist Eldars Mamedovs?

Der Name ist ungewöhnlich, aber nicht schwer zu finden: auf dem Portal "Internationale Politik und Gesellschaft" (IPG), betrieben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, wird Eldars Mamedovs als "politischer Berater der Sozialdemokraten im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments" ausgewiesen, zuständig für "die interparlamentarischen Beziehungen zu Iran, Irak, der Arabischen Halbinsel und Maschrik". 

"POLITICO" berichtete allerdings schon am 22. Dezember, die Fraktion der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament habe Mamedovs suspendiert (siehe auch: Le Point). Man habe ihn den belgischen Behörden zur weiteren Strafverfolgung übergeben, steht da zu lesen. Mamedovs ist offenbar lettischer Staatsbürger, und so berichtete die Presse der baltischen Staaten entsprechend, ebenfalls noch vor Weihnachten (lsm / err / bnn /jauns).

Mamedovs Positionen seien aber teilweise "weit entfernt von lettischen nationalen Interessen", urteilte schon im August 22 das Portal "viss-skaidrs". Dort werden Quellen aus Aserbeidschan zitiert die darauf hinweisen, Mamedovs habe sich schon 2007 für eine Zusammenarbeit mit dem Iran entschieden. Danach habe sich Mamedov lange als überzeugter Liberaler und damit als Gegner der iranischen Regierung positioniert, parallel dazu sei er aber auch mehrfach in der iranischen Botschaft in Belgien gesehen worden – auch in den Jahren 2010 bis 2012, mitten in der USA-Iran-Krise. Zu Anfang seiner Karriere soll Mamedovs dieser Quelle zufolge im Bankgewerbe gearbeitet haben, unter anderem als Leiter des Büros der lettischen Parex-Bank in Aserbaidschan. Mamedovs ist geboren am 13. Dezember 1972 in Riga, stammt aber aus Lankaran in Aserbeidschan und ist Sohn des Unternehmers Adigjozals Mamedovs.

Für die sozialistische Franktion im Europaparlament soll Mamedovs schon seit 2009 gearbeitet haben. Mamedovs habe diese zu einer "eher milden" Haltung gegenüber Katar bewegen wollen - ähnlich wie im Fall der Korruptionsaffäre rund um die griechische Ex-EU-Parlamentsvize Eva Kaili (tagesschau / WDR / Spiegel). Es geht um den Verdacht, dass Entscheidungen der Europäischen Union mit hohen Geldsummen beeinflusst worden sein könnten. In diesem Zusammenhang gab es noch einige weitere Untersuchungen, bei denen nun offenbar auch Mamedovs in Verdacht geraten ist. Er soll unter anderem kostenlose Tickets für die WM in Katar erhalten haben (Politico). Weitere Einzelheiten über die konkreten Vorwürfe gegen Mamedovs sind bisher offenbar nicht öffentlich zugänglich.

Auf lettischen Portalen sind noch einige ältere Beiträge von Mamedovs zu finden. In einem Beitrag vom Januar 2014 kritisiert er den deutschen Bundespräsident Joachim Gauck und dessen Entscheidung, nicht zu den Olympischen Spielen ins russische Sotschi zu fahren - und lobt den lettischen Amtskollegen Andris Bērziņš, der sich pro Sotschi entschieden habe. Allerdings schrieb damals sogar die deutsche FAZ, Gauck würde mit seinem Fernbleiben "die große Mehrheit der russischen Bevölkerung kränken." 

Im Mai 2014 trat Mamedovs auf der Liste der "Saskaņa" zur Europawahl an - und landete im Ergebnis auf dem 16. und letzten Platz der Liste. Mamedovs findet sich damals auch als Unterzeichner einer "Selbstverpflichtung" für mehr Transparenz, Integrität, und mehr Schutz für Hinweisgeber in Fällen von Korruption. Auch die lettische "Delna", der lettische Zweig von "Transparency International", reagierte positiv auf diese Initiative. Und für die lettische "Providus", die sich ja auch Korruptionsbekämpfung als Thema vorgenommen hatten, schrieb Mamedovs etliche Beiträge. 

Derweil übt sich der heutige Parteichef der "Saskaņa", Jānis Urbanovičs, in Distanzierungsversuchen. "Mamedovs war nie Mitglied bei uns", behauptet er. Weiterhin habe "Saskaņa" auch nichts mit dem Amt bei der EU zu tun, was Mamedovs ausgeübt habe. Rigas Ex-Bürgermeister Nils Ušakovs gibt immerhin zu, mit Mamedovs einige Jahre zusammengearbeitet zu haben. (tvnet) - ansonsten sei Mamedovs, so stellt es Urbanovičs dar, "einfach ein Karrierediplomat" gewesen.

5. Januar 2023

Blick nach Süden

Zu Jahresanfang 2023 mahnt Roberts Mencis in der Zeitschrift "IR" alle Lettinnen und Letten mit der These: Ja, haben uns jetzt auch die Litauer schon überholt? Zum einen sei man ja schon gewöhnt, dass schon seit den 1990iger Jahren immer vom steilen Wirtschaftsaufschwung des nördlichen Nachbarn Estland die Rede gewesen sei. Dafür habe man in Lettland ja immer Gründe gefunden: angefangen damit, dass die Esten eben schon zu Sowjetzeiten immer finnisches Fernsehen hätten schauen können, bis dahin, dass Estland eben weitsichtig die Chancen der Digitalisierung genutzt habe. 

Nun aber habe offensichtlich im vergangen Jahrzehnt auch Litauen dem nördlichen Nachbarland in vielen Punkten den Rang abgelaufen. Das zeigt schon die Hauptstadt: Vilnius wächst, und wird in wenigen Jahren die Bevölkerungszahlen von Riga wohl übertreffen (Beitrag)

Mencis hat einige Zahlen zusammengestellt. Schon 2008 sei das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner auf gleichem Niveau gewesen: Litauen habe damals 88% des EU-Durschnitts erreicht - Lettland nur 71%. Als Grund für den relativen Erfolg Litauens gegenüber Lettland hätten Ökonomen insbesondere die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und die Steigerung des Exports genannt, so Mencis. Dennoch: die Weltwirtschaftskrise 2009 / 2010 habe damals Litauen eigentlich noch härter getroffen als Lettland. Aber: seit damals habe in Litauen stetiges Wirtschaftswachstum begonnen, zuletzt zwischen 2017 und 2021 jedes Jahr um 4%. Und der Export des produzierenden Gewerbes, also zum Beispiel Möbel, Mineraldünger, Lebensmittel, Holz und chemische Produkte, der 2010 34% des Warenexports Litauens ausgemacht habe, läge heute bereits bei 50%. 

Sogar die verschiedenen Krisen des vergangenen Jahrzehnts hätten eher dazu beigetragen, bestehende Absatzmärkte zu erweitern. Nach der russischen Annexion der Krim veranlassten von Russland verhängte Handelsbeschränkungen für bestimmte litauische Waren die Hersteller, die Exportmärkte zu diversifizieren und sich stärker auf die Produktqualität zu konzentrieren. So sei es litauischen Herstellern wie z.B. "Vilniaus Baldai" oder der VMG-Gruppe zum Beispiel gelungen, IKEA zu beliefern und so Litauen zum viertgrößten Möbelhersteller der Welt zu machen. Und sogar während der Pandemie gab es gute Beispiele: durch die Beteiligung des Unternehmens "Thermo Fisher Scientific Baltics" (eine Tochtergesellschaft des US-Unternehmens Thermo Fisher Scientific“) am Impfstoffproduktionsprozess habe sich der Export von chemischen Produkten verzehnfacht. (siehe auch: Invest Lithuania)

"Litauen hat außerdem viel für die Digitalisierung und die Modernisierung von Produktionsanlagen getan, und auch der Hafen von Klaipeda hat sich neu positioniert," sagt Vidmantas Janulevičius, Präsident des Verbandes der litauischen Industrieverbandes. (IR) So betrug der Frachtumschlag in Klaipeda 2010 noch 31 Millionen Tonnen, und lag damals in etwa auf dem Niveau des Hafens in Riga. 2021 stieg die Zahl aber bereits auf 45 Mill. Tonnen, was damit höher liegt als der Gesamtumsatz der drei größten lettischen Häfen zusammen (2022 dann etwas beeinträchtigt durch Sanktionen gegen Russland, Belarus und China).

Janulevičius meint aus seiner Sicht, Litauen sei es eben gelungen lebensfähige Industrieunternahmen zu erhalten, während Lettland viel auf Finanzdienstleistungen setzte und auch zwischenzeitlich Nutzen zog aus dem "grauen Markt", also halblegalen Investitionen von russischer Seite."Wir haben auf die Stärkung eines transparenten, auf Recht und Gesetz basierenden tranparenten Geschäftsumfelds gesetzt," so Janulevičius. (IR

Für die Ölraffinerien, die Möbel- und Mineraldüngerproduktion Litauens sei es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion leichter gewesen, den Qualitätssprung hin zu westlichen Produkten zu schaffen, heißt es. Aber in Lettland stellten große Industrieunternehmen, wie beispielsweise im Elektroniksektor, ihre Arbeit fast vollständig ein. Da gab es einfach auch die große Konkurrenz mit Japan oder Korea auf dem Markt.

Pēteris Strautiņš, Chefökonom bei der Bank "Luminor", schreibt außerdem einer aus Sowjetzeiten übrig gebliebenen lettischen Elite eine gewisse Rolle bei der Entwicklung zu. "Da waren einige loyaler gegenüber Moskau als zum eigenen Staat," meint er (IR). Nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit sei eine ganze Reihe von Betrieben von ihrem damals bestehenden Management übernommen worden - und diese seien eben in Litauen weniger "sowjetisiert" gewesen. Zum Beispiel habe es Möbelindustrie ja auch in Lettland gegeben - aber diese sei inzwischen fast völlig verschwunden. 

"Die demografische Struktur Lettlands trug zur Bildung eines politischen Parteiensystems bei, in dem die ethnische Spaltung zum bestimmenden Faktor wurde," so so sieht es der lettische Ökonom Edmunds Krastiņš. "So war hier die Konkurrenz zwischen westlich orientierten Parteien schwächer als in Litauen und Estland, was zu einer Machtkonzentration im Kreis enger Interessen führte. Durch die Prägung der sowjetischen Besatzung entstand eine gewisse Rhetorik, dass die Zukunft der lettischen Wirtschaft eine Brücke zwischen Ost und West sein solle. Das hat eine ziemlich ausgeprägte Ausrichtung auf Russland geschaffen, im Gegensatz zu Estland, das sich an den nordischen Ländern und auch an Litauen orientiert hat“, sagt Krastiņš.(IR)

Auch das gegenwärtige Wachstum der litauischen Hauptstadt Vilnius sehen die Ökonomen vor diesem Hintergrund. Seit 2018 sei auch die Bilanz der Arbeitsmigration in Litauen wieder positiv - es kommen mehr nach Litauen als Menschen ausreisen. - Dennoch, der Satz "die Litauer sind unsere Brüder" sollte Bestand haben. Als Ex-Ministerpräsident Skvernelis 2019 mal die Bemerkung rausrutschte "die Letten sind nicht Brüder, sondern Konkurrenten auf verschiedenen Gebieten, besonders der Wirtschaft" beeilte sich sogar der so Zitierte, das schnell wieder zu korrigieren (er sei von der Presse verzerrt wiedergegeben worden). Und TV-Journalist Andrius Tapinas widmete Lettland "zum Trost" eine ganze Ausgabe seiner Show "Laikykites Ten" ("Haltet durch") nach dem Motto: "kümmert euch nicht um Skvernelis, er noch jung, er muss noch lernen." Aber eine kleine Bitte hat Tapinas, in aller gebotenen Ironie, denn doch: Litauen habe 99km Küstenlinie; gerne würde Litauen daraus eine runde Zahl machen - ob Lettland nicht vielleicht einen Kilometer abgeben könne?

26. Dezember 2022

Müll-Bilanz

Erstaunlicherweise ist in Lettland zu pandemischen Zeiten die Gesamtmenge an Haushaltsabfällen erheblich gestiegen - so bilanziert es Journalistin Laura Laķe für die Zeitschrft "IR", und beruft sich dabei auf Zahlen des lettischen Zentrums für Umwelt, Geologie und Meteorologie (Latvijas Vides, Ģeoloģijas un Meteoloģijas Centrs LVGMC). Dem zufolge waren es 2019 insgesamt 840.413 Tonnen Hausmüll, im Jahr 2020 dann 908.960 Tonnen, und 2021 869.285 Tonnen. Wie Statistiken von Eurostat zeigen, wurde noch 2014 in Lettland pro Einwohner 318 kg Hausmüll erzeugt - bis 2019 stieg das auf 437 kg an. Und es muss gleichzeitig gesagt werden, dass dieser Anstieg ja wohl nichts mit einem Anstieg der Bevölkerungszahl zu tun haben kann - eher im Gegenteil.

Anders gesagt: in einer Statistik aller 38 Mitgliedsorganisationen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegt Lettland, gemessen an der durchschnittlichen Hausmüllmenge, den 22. Platz. Somit produziert Lettland etwa doppelt so viel Müll pro Jahr pro Person wie die Menschen in den Ländern mit dem größten Aufkommen an Hausmüll. Und das Abfallaufkommen pro Einwohner in Lettland war auch höher als beispielsweise in den anderen baltischen Staaten oder in Polen. Zudem liegt die Recyclingquote in Lettland nur bei 23% (Zahlen von 2021, Deutschland 68%)

2022 war das Jahr, als Lettland endlich ein Rücknahmesystem für Pfandflaschen einführte. Aber beim Thema Müllvermeidung sei man noch nicht sehr weit gekommen, so urteilen lettische Umweltfachleute. Befragt nach den Gründen, warum sie das Pfandrücknahmesystem nutzen, nannten die meisten (59%) die 10Cent als Motivation, die jede Flasche oder Dose einbringt. Nur 37% nannten "Sorge um die Umwelt" als Auslöser (lsm)

Als Ziel der Europäischen Union ist festgelegt, in den Mitgliedsstaaten bis 2035 eine Wiederverwertungsquote von 65 % zu erreichen und weniger als 10% des Abfallaufkommens noch auf Deponien lagern zu müssen. Jānis Aizbalts, Direktor beim Abfallverwerter SIA Eco Baltia (Motto: "Finde den Wert in allem"), schätzt die gegenwärtige Wiederverwertungsquote des Abfalls in Lettland optimistisch auf inzwischen 40% - aber er zweifelt an der Fähigkeit der lettischen Gesellschaft, neue Methoden der Aballtrennung schnell zu lernen.(IR) Umfragen zeigen, dass inzwischen 71% der Bevölkerung das neue Pfandrücknahmesystem regelmäßig nutzen. Aber entscheidend sei auch, so Aizbalts, das entscheidende Schritte auf dem Wege der Abfallvermeidung eingeleitet werden. 

Kaspars Zakulis, Chef von "AS Latvijas Zaļais punkts” (Grüner Punkt Lettlands) sieht es so: "Im Jahr 2011 haben nur 34% der Befragten gesagt dass sie Mülltrennung vornehmen, und auch 2020 lag das nur bei 60%" (lsm) "Kunststück!"- möchte man da dazwischenrufen: wenn Lettland erst 2022 eine systematische Flaschenrücknahme einführt - warum sollte es auch vorher jemand erst trennen (und dann zusammen mit dem anderen wegschmeißen?). Zakulis redet auch vom "Vorbild Deutschland", begründet das aber so: "das liegt ja auch schon in der Mentalität dieser Nation. Diese Ordnung, einerseits. Und andererseits war eben Deutschland nach dem 2.Weltkrieg auch total zerstört, da spielten Sekundärmaterialien wie Metall und Glas immer schon eine wichtige Rolle." - Über "lettische Mentalität" sagt Zakulis an dieser Stelle nichts.

Das lettische Parlament brachte nun eine Entscheidung auf den Weg, aus bisher zehn verschiedenen Regionen fünf Abfallverwertungszentren zu entwickeln (lsm). So soll zum Beispiel die Wiederverwertung von Gebrauchtreifen sichergestellt werden, und auch für Textilien und Schuhe soll es neue Regelungen und ggf. spezielle Rücknahmecontainer im ganzen Land geben. 

Aber auch das, was in Deutschland als "Biomüll" verstanden wird, landet bisher in Lettland noch zu bis zu 60% im Haushaltmüll - so bemängelt es eine Untersuchung des staatlichen Rechnungshofs (bnn) Landesweite Stellen, die Biomüll nicht nur entgegennehmen, sondern daraus auch qualitätsgeprüften Kompost herstellen und zugänglich machen, gibt es bisher nicht. 

Ein weiteres Problem ist die gegenwärtige Beliebtheit von leichten Kunstofftragetaschen in Lettland. Einer neuen europaweiten Erhebung zufolge benutzt jeder Lette und jede Lettin pro Jahr 229 solcher leichten Plastiktüten, in denen ja gern so manches Einkaufsgut verschwindet (2018 waren es sogar schon mal 327 !). Nur Litauen hat da mit aktuell 294 Tütchen einen noch höheren Verbrauch. In Deutschland sind es 45 pro Einwohner/in - was multipliziert mit 80 Millionen Menschen allerdings auch wieder einen stattlichen Müllberg verspricht.

Schon seit Jahrzehnten galt in Lettland der Name "Getliņi" als Synonym für den größten lettischen Müllberg. Aber in 5 bis 7 Jahren wird hier Schluss sein müssen, sagen Experten: die 80ha-Deponie nahe des Ortes Ropaži ist voll. Eine Erweiterung ist dann nicht mehr möglich. Auch hier wird geschätzt, dass allein die getrennte Aussortierung von Biomüll eine Volumenersparnis um 40% bringen könnte (lsm).

15. Dezember 2022

Daugavpils und die Kunst

Daugavpils, die zweitgrößte Stadt Lettlands, eröffnete 2013 voller Stolz das "Mark-Rothko-KunstZentrum", und verfügt seitdem endlich über einen kulturellen wie auch touristischen Anziehungspunkt, der auch international funktioniert. Das Daugavpils Mark Rothko Art Center befindet sich im historischen Artillerie-Arsenalgebäude der Festung Daugavpils, das 1833 erbaut wurde. Für viele kulturinteressierte Lettland-Besucher/innen wurden Ausstellungen an diesem Ort zum einzigen Grund, ihre Reiseroute auch in diese Region zu verlegen.

Laut Eigenwerbung ist das Museums "der einzige Ort in Osteuropa, wo es möglich ist, die Werke des in Daugavpils geborenen weltberühmten amerikanischen Künstlers, des Begründers des abstrakten Expressionismus und der Farbfeldmalerei Mark Rothko (1903-1970) in einer erweiterten Ausstellung kennenzulernen."

So weit, so gut. Seit dem 28. Oktober läuft nun im Mark Rothko Center unter anderem eine Ausstellung des estnischen Keramikkünstlers Sander Raudsepp. Der stammt von der estnischen Insel Saaremaa und beschreibt auf seiner Webseite seine Arbeitsweise wiefolgt: "Ich lasse mich inspirieren von unangemessenen Witzen, Verschwörungstheorien, Psychedelika, Missverständnissen aus der Kindheit, Leben und Tod, Religion und zufälligen Duschgedanken."

Auf Druck religiöser Gruppen wurden nun auf Veranlassung der Stadtverwaltung drei Kunstwerke aus der laufenden Ausstellung entfernt. So, wie es in den lettischen Medien formuliert wurde, sei der Stein des Anstosses eine Kombination aus einem "christlichen Kreuz und männlichen Genitalien" (lsm) Die Werke stünden für "Hass gegen das Christentum", so sahen es Jānis Bulis (Kath. Kirche Rēzekne), Einārs Alpe (Ev.-Luth. Kirche Daugavpils) und Andrejs Sokolovs (Orthodoxe Kirche, Vorsitz des Zentralrats der Altgläubigen). (Latvijas Kristigais Radio)

Aber es gibt auch Protest gegen dieses Vorgehen. Die Vereinigung lettischer Museen (Latvijas muzeju biedrība) wandte sich in einem offenen Brief an u.a. Kulturminster Puntulis und den Bürgermeister von Daugavpils und spricht von "Zensur". Verlangt wird auch, dass die drei entnommenen Stücke in die Ausstellung zurückkehren müssten (lsm) Die lettische PEN-Vereinigung zitiert eine Aussage des stellvertretenden Bürgermeister von Daugavpils, Aleksejs Vasiļjevs, mit den Worten: die drei Kunstwerke seien provokativ, und die Gesellschaft von Daugavpils sei nicht bereit dafür. - Wenn das ein Maßstab sei, dann müsse darauf hingewiesen werden, dass zu Zeiten, als die Werke von Mark Rothko enstanden, die Gesellschaft ebenfalls nicht bereit dafür gewesen sei. - Vasiljevs dagegen hatte behauptet, die Entnahme von Kunstwerken aus der Ausstellung sei "keine Initiative des Stadtrats Daugavpils" gewesen, könne also nicht als "Zensur" bezeichnet werden, sondern als "Wunsch der Einwohner." (jauns)

Ab sofort heißt es dann wohl "das Beispiel von Daugavpils mahnt". Nur: vor oder an was? Wo die einen zu großen Einfluß der russisch-orthodoxen Kirche speziell in Daugavpils vermuten, sehen die anderen die Notwendigkeit von Diskussionsveranstaltungen und Bildungsangeboten rund um solche Ausstellungen. Manche sehen auch schlichtweg die "Wiederkehr von Zensurmethoden der Sowjetzeit". Wieder andere befürworten spezielle Ausstellungsräume mit Warnhinweisen vor dem Betreten, oder Ausstellungen, die erst ab 18 Jahren zutrittsberechtigt sein könnten. Den Aussagen von Māris Čačka zufolge, der das Rothko-Zentrum leitet, sei der betroffene Künstler selbst "nicht überrascht" über den Vorgang in Daugavpils gewesen - zwar sei ihm Ähnliches in Estland noch nicht passiert, aber schließlich kenne er ja das Umfeld der baltischen Staaten. (ritakafija)

Jānis Vanags, Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Lettland, befürwortet eine Diskusion um "Grenzen der Kunst". (lsm) Edgars Raginskis dagegen, Kulturjournalist und Komponist, eigenen Angaben zufolge "cenzūras pētnieks" (Zensurforscher), beruft sich auf die lettischer Verfassung, der zufolge Zensur untersagt sei. "Und zwar unabhängig davon, ob etwas gefällt oder nicht gefällt", meint er. Außerdem seien eben Kirche und Staat per Verfassung getrennt. Die Behauptung „die Gefühle von Gläubigen seien verletzt“, das sei eben auch eine gut aus Russland bekannt Vorgehensweise, die nur zu einem totalitären, kriminellen Regime passe.

7. November 2022

Endlich aufgedeckt: Dumme Deutsche?

Es ist immer wieder eine interessante Frage: welche Vorstellung haben Lettinnen und Letten von Deutschland? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, müssen wir uns die Perspektive wohl zunächst mal aus lettischer Sicht vorstellen. 

Deutschland-Image

Was aus Deutschland in den vergangenen 30 Jahren kam, könnte sich manchmal vielleicht angefühlt wie eine Mischung aus Belehrungen, Misstrauen und Übervorteilung. Seien es die ungleichen Vermögensverhältnisse als Resultat des Übergang von Sowjetwirtschaft hin zur sogenannten "Privatisierung", oder die vielen im voraus des EU-Beitritts zur Akzentanz vorgelegte Regelungen und Gesetze, die sicher oft detailverliebt und bürokratisch wirkten. Auch wie man Krisen übersteht, meinten ja gerade viele Deutsche besser zu können: einfach sparsam sein. Die Flexibilität und Kreativität, auch den Optimismus und die Tatkraft die es brauchte, um das Leben im Lettland der vergangenen 30 Jahre zu überstehen, dafür fehlten in Deutschland sehr oft sowohl Antennen wie Sensibilität. 

Deutschland-Berichterstattung in Lettland: laufen jetzt
alle Deutschen mit Russland-Fahnen herum?

Deutschland weiß oft alles besser - oder tut zumindest so; mit diesem Ruf der Deutschen in Europa müssen wir uns als Deutsche wohl auseinandersetzen. Und wir müssen sogar ergänzen: und wenn es mal anders zu laufen drohte, dann legt Deutschland einfach noch mal ein paar Milliarden Euro drauf, damit der Anschein bestehen bleiben kann (damit zum Beispiel europäische Gesetze mal wieder so gestaltet werden können, dass sie der deutschen Autoindustrie nicht schaden). 

Zeitenwende

Nun aber haben wir "Zeitenwende". Nun müssen offenbar die Deutschen zugeben, was sie alles falsch gemacht haben. Erst Recht, wenn - wie in Lettland - die Solidarität mit der Ukraine in der politischen Agenda allem voran gestellt wird. "Die Deutschen - wie immer gastfreundlich", schreibt da am 4. November Laine Aizupe in der "Latvijas Avize" - "gastfreundlich auch für russische Deserteure." 

Nein, hier geht es offenbar nicht darum, dass russische Soldaten anlässlich des von Putin in der Ukraine angezettelten Krieges lieber desertieren sollten. Was das angeht, kursiert in Lettland das böse Wort von den "Sofa-Sittern" - also denjenigen Russen, denen, wie es heißt, der russische Angriffskrieg in der Ukraine so lange egal war, wie es nicht zur allgemeinen Mobilmachung kam.

Menschen aus der Ukraine - in Deutschland bedroht?

Über eine Million Menschen aus der Ukraine haben bisher in Deutschland Aufnahme gefunden. Aber jetzt seien die Ukrainer in Deutschland besorgt, schreibt Aizupe - und klagt dabei deutsche Parteien fast aller politischen Couleur an: zitiert werden Irene Mihalic von den "Grünen" ebenso wie Johann David Wadephul von der CDU - beide hätten sich für die Gewährung von "humanitärem Asyl" für russische Deserteure ausgesprochen. (siehe auch "Tagesschau" 23.9.) Dabei bleibt es aber nicht. Die lettische Journalistin zitiert benahe genüsslich aus einer ARD-Umfrage: 54% der Deutschen würden die Aufnahme russischer Deserteure in Deutschland befürworten, und darunter seien besonders viele Anhänger/innen der Grünen (77%) und der Sozialdemokraten (64%). Als kleines "Sahnehäubchen" wird noch hinzugefügt: Andrij Melnik, bisher Botschafter der Ukraine in Deutschland, sei anderer Meinung gewesen. (LA) (siehe auch: ARD-Morgenmagazin 29.9./ ARD-Deutschlandtrend / infratest-dimap)

Ausgerechnet die Haltung der Vertreter/innen der AfD bleiben bei dieser Aufzählung aber unerwähnt. Denn auch die 57% AfD-Anhänger/innen in dieser Umfrage, welche die Aufnahme von russischen Kriegsdienstverweigerern ablehnen, taugen wohl nicht als unterstützendes Element bei der lettischen Argumentation der "Latvijas Avize" - so setzt sich die AfD doch sogar für die Wiederaufnahme russischer Gaslieferungen und bedingungslose Zusammenarbeit auch mit dem aggressiv kriegführenden Russland ein. 

Zeitverzug

Auffällig weiterhin: dieser lettische Zeitungsbericht stammt vom 4. November - die zitierten Umfragen und Äusserungen aber bereits von Ende September. Lesen wir zum Beispiel einen Bericht zum selben Thema beim "Redaktionsnetzwerk Deutschland" vom 28.10. nach, dann lassen sich dort wesentlich differenzierte Äusserungen entdecken: jeder Antrag auf Asyl müsse im Einzelfall sorgfältig geprüft werden, Putin sei zuzutrauen Menschen einzuschleusen (Jürgen Hardt / CDU). Oder: "wir dürfen bei aller Hilfsbereitschaft nicht naiv sein" (Strack-Zimmermann / FDP). Oder auch: Deserteure sollten nicht wie Heilige behandelt werden (Wagener / Grüne). Dagegen meint Rüdiger Lucassen für die AfD: ein deutscher Aufruf zur Aufnahme von Deserteuren könne als "Angriff auf das russische Wehrsystem gewertet werden" - das sei eine unnötige Provokation Russlands. (siehe auch: "Das Parlament")

BAMF-Auskunft für russische Staatsbürger/innen in Deutschland

Zahlen

Gemäß dem Bericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zum ersten Halbjahr 2022 waren Menschen aus Syrien mit 11.500 die größte Gruppe, gefolgt von Afghanistan (8.000) und Türkei (5.000). In dieser Statistik sind allerdings weder Ukrainer noch Russen vertreten. Menschen aus der Ukraine müssen gar keinen Asylantrag stellen, und die Mobilmachung in Russland begann erst am 21. September. (BAMF-Bericht zur Lage russischer Kriegsdienstverweiger)

In Russland öffentlich gegen den Krieg demonstrieren - das ist offenbar auch ein sicherer Weg zur Zwangseinberufung (siehe BAMF-Bericht). Aber was bringen lettische Berichte nach dem Muster "Vācieši kā allaž pretimnākoši" (Deutsche wie immer gastfreundlich)? Es ist, wie so oft, offenbar auch ein Stück lettische Innenpolitik. Denn am Schluss des erwähnten Berichts werden dann noch Äußerungen von "Pro Asyl" erwähnt mit der Aussage, kaum ein russischer Deserteur könne ja zur Beantragung von Asyl nach Europa gelangen - dank komplett geschlossener Grenzen in Finnland, den baltischen Staaten und in Polen. Dies bedeutet nämlich in der Praxis nicht nur die Verweigerung von Touristenvisa, sondern auch die Zurückweisung auch von Personen die versuchen Asylanträge zu stellen. So habe Lettland im Jahr 2022 (bis 31.8.) nur insgesamt 123 Personen einen Flüchtlingsstatus zuerkannt - im Gegensatz zu 115.402 Personen in Deutschland (was mit den aktuellen Zahlen des BAMF einigermaßen übereinstimmt). 

Russische Anträge: eher selten

Interessant bei den aktuellen Zahlen: hier sind sogar Anträge von Menschen aus Russland gesondert aufgewiesen. Im Oktober waren es in Deutschland ganze 313 Anträge. Vielleicht war der panikartige Bericht also nur ein einzelner lettischer Zeitungsbeitrag einer unerfahrenen Journalistin? Von Laine Aizupe sind allerdings immerhin noch vier weitere Beiträge über deutsche Themen zu finden: über Lehrermangel, das 9-Euro-Ticket und über Preissteigerungen und den zurückgehenden Verbrauch an Milch in Deutschland. Während aber Aizupe also noch Anfang November von "allzu gastfreundlichen Deutschen" schrieb, behandeln andere lettische Blätter das Thema offenbar tatsächlich anders. "Das deutsche Parlament lehnt Asyl für russische Deserteure ab", schrieb die "Neatkarīga" am 30. September (und meint damit die Ablehnung eines entsprechenden Antrags der "Linken"). Ganz ähnlich berichtete auch "TVNet". Und die "Diena" fand erwähnenswert, dass auch die USA und Irland russischen Deserteuren die Möglichkeit des Asyls angeboten habe.

Also: warten wir doch erst einmal ab, wohin der gegenseitige Lernprozess die lettischen und deutschen Pressevertreter/innen nach tragen möge. Wer gute Gründe hat in fremden Ländern Asyl beantragen zu müssen, der möge es auch bekommen. Wer die Ukraine unterstützen möchte, sollte wohl besser das ganze Potential an Unterstützerinnen und Unterstützern ausschöpfen. Und falls nun wieder Fragen kommen, möglicherweise von Lettinnen und Letten: Wie siehts bei Dir aus? Sind schon viele Russen angekommen? - Dies war der Versuch einer Antwort.

28. Oktober 2022

Selbstfindung, bewaffnet

Ex-Aussenminister Artis Pabriks hatte es wohl als Wahlkampfhilfe gedacht: in Zeiten der militärischen Bedrohung durch den großen Nachbarn im Osten schien die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Lettland eine Maßnahme nachgewiesenen Verantwortungsgefühls. Doch es kam, wie schon vorauszusehen war, anders: wer konnte schon wissen, wer nach den Parlamentswahlen Verteidigungsminster sein würde? Ex/Minister Pabriks baute ganz auf seinen Wahlslogan "Drošība sākas ar premjeru" (Sicherheit beginnt beim Regierungschef) - aber seine Partei "Attīstībai par" scheiterte knapp an der 5%-Hürde - und nun beginnt die Diskussion von neuem. 

Wenn es um den "Staatsverteidigungsdienst" geht (lettisch "Valsts aizsardzības dienests" - VAD), so sind in den verschiedenen Parteien - besonders diejenigen, die jetzt die neue Regierung zu bilden bereit sind - die Details offenbar noch nicht ausdiskutiert. Dem bisherigen Gesetzentwurf zufolge sollten für alle jungen Männer im Alter zwischen 18 und 27 Jahren drei verschiedenen Dienste geschaffen werden: den Militärdienst, einen Dienst bei den lettischen "Zemessardzes" (bisher ein Freiwilligenkontingent, auch "Nationalgarde" genannt), und eine spezielle militärische Ausbildung für Studierende an Hochschulen (inklusive der Möglichkeit zur Offizierslaufbahn). Dazu ist auch noch ein "Alternativdienst" vorgesehen, der bei Institutionen der Ministerien für Inneres, Gesundheit oder Soziales abgeleistet werden kann. Frauen soll dasselbe auf freiwilliger Basis angeboten werden. Der reguläre Dienst soll ein Jahr dauern, einschließlich einen Monat Urlaub. Dies alles sollte, nach Plänen von Ex-Minister Pabriks, bis 2027 stufenweise eingeführt werden, um dann, beginnend mit dem Jahr 2028, jedes Jahr 7500 junge Menschen einberufen zu können. 

Inzwischen gibt es die ersten Protestdemonstrationen gegen die Wiedereinführung der Militärdienstpflicht. Zwar ist die Anzahl der dort Teilnehmenden eher überschaubar, aber einige der geplanten neuen Bestimmungen klingen schon recht drastisch: offenbar sind für diejenigen, die sich zukünftig dem Militärsdienst - also auch dem Alternativdienst - ganz entziehen wollen, Gefängnisstrafen von bis zu drei Jahren vorgesehen. (Tvnet / bnn-news)

Die Slogans der Protestierenden hatten dabei nur teilweise antimilitaristischen Charakter - einige argumentieren, der Krieg in der Ukraine habe gezeigt, dass eine professionelle Armee solche Situationen besser bewältigen könne. Eine Mobilisierung verbessere aber nicht die Wirtschaft, und menschliche Arbeitskraft werde auch anderswo dringend gebraucht. Der Zuspruch von Neuverpflichteten bei der bisherigen lettischen Berufsarmee war in den vergangenen Jahren allerdings nicht so stark gestiegen wie erhofft (NRA).

Zu den Protestierenden gesellt hat sich auch Sergejs Pogorelovs, ein Parteifreund von Ex-Minister Pabriks, der sogar auf dem Portal "Manabalss" Unterschriften gegen die Dienstpflicht sammelt; bisher haben den Aufruf 12.000 Menschen unterzeichnet. Dort wird unter anderem so argumentiert, dass ein "Zwangsdienst" die Freiheit junger Menschen unverhältnismäßig einschränke. 

"Wenn ihr Zeit für die Selbstfindung braucht, geht in die Armee!" so wird Ainars Latkovskis zitiert, ein Parteifreund von Regierungschef Kariņš, Fraktionschef der "Jauna Vienotība" (lsm). Dennoch wurde die notwendige Beschlussfassung im Parlament (Saeima) jetzt überraschend um ein halbes Jahr verschoben - das müsse jetzt die neue Regierung und das neu gewählte Parlament ausarbeiten, heißt es. Der entsprechende Punkt wurde von der Tagesordnung der letzten Kabinettsitzung der alten Legislaturperiode getrichen (delfi). Allein 102 Verbesserungsvorschläge seien bei der zuständigen Parlamentskommission eingegangen.

Zwar betonen die drei Parteien, die gegenwärtig über die Regierungsbildung verhandeln, das Thema stehe ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Aber zumindest das Jahr 2023 könnte bis zu einer endgültigen Beschlussfassung noch vergehen (lsm), schätzen einige. Es seien noch einige Unklarheiten zu beseitigen, erläuterte Ineta Piļāne, Stellvertreterin des "Ombusmannes" (Tiesībsargs) des lettischen Parlaments für juristische Fragen. Es sei zum Beispiel noch völlig unklar, wie der "Alternativdienst" (Zivildienst) ausgestaltet und wie er organisiert werden soll. Ausserdem sei auch die Frage noch einmal genauer zu betrachten, warum der verpflichtende Wehrdienst nur für Männer gelten solle. (baltics.news / lsm)

Noch ist über die Postenverteilung in der neuen Regierung nicht entschieden. Als eine der möglichen Varianten wird die Rückkehr von Ex-Verteidigungsminister Raimonds Bergmanis auf diesen Posten genannt. Bergmanis, bisher Mitglied bei der Lettischen Grünen Partei, hat sich inzwischen (ebenso wie die Grüne Partei) der "Vereinigten Liste" (Apvienotais saraksts) angeschlossen, die Teil der neuen Regierungskoalition sein wird. Dort ist folgender Satz im Parteiprogramm zu finden: "Es ist Zeit für die allgemeine Mobilisierung". 

An anderer Stelle ist derweil nachzulesen, wie ein Fitnesstest für Jugendliche aussehen könnte, der einer Einberufung vorgeschaltet sein könnte: Minimum 33 Liegestütze, 43 "Sit-ups", und ein 3000-m-Lauf unter 14,29 Minuten. (jauns)

2. Oktober 2022

Geschüttelt, nicht gerührt

Wieder einmal hat eine Wahl die Hierarchie der lettischen Parteienlandschaft kräftig durcheinandergeschüttelt. Noch ist unklar, mit wem der Wahlsieger und amtierende Ministerpräsident Krišjānis Kariņš die nächste Regierung bilden kann - die Analysen versuchen das "Schüttelresultat" zu sortieren. Aussenminister Rinkēvičš gab den Beschluss des Parteivorstands der "Jauna Vienotība" bekannt, niemanden für ein Ministeramt zu nominieren, der oder die nicht auch erfolgreich ins Parlament gewählt worden sei (jauns.lv)

Die nach Prozentzahlen zweitstärkste Liste der "Bauern und Grünen" ist also nunmehr eine Liste nur noch von "Bauern, die sich grün nennen, und unterstützt von traditionell eingestellten Sozialdemokraten" - ein Stück echte lettische Farbenlehre. Mit einem Finanzier im Hintergrund, der inzwischen gerichtlich verurteilt ist, und ehemals als einer der "Oligarchen lettischen Formats" galt (Aivars Lembergs). 
Die Partei hält ihm die Treue (oder seinem Geld?), und versucht auch mit der Beibehaltung des Kürzels ZZS Kontinuität anzudeuten. Ihre Hochburgen befinden sich vor allem in Landgemeinden, die eher in Lettlands Peripherie liegen, und natürlich in Ventspils (die Stadt die Lembergs lange unter Kontrolle hatte). Stärke der Partei ist sicher ein in jahrelanger Arbeit aufgebautes gutes Netzwerk, vor allem außerhalb Rigas. Nach Koalitionsmöglichkeiten mit der ZZS gefragt, antworten viele andere Parteien: "Solange sie an Lembergs festhalten ... nicht." Lembergs selbst meint dazu: "Nur keine Eile! Ich entscheide selbst, wann ich zum politischen Grabhügel gehe." (xtv.lv)

AP-Spitzenkandidat Artis Pabriks, der im Wahlkampf als bisheriger Verteidigungminister vor allem mit dem Versuch der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht auffiel, begründet den Absturz seiner Partei "Attīstībai/Par!" mit den vielen Projekten, an denen man zwar erfolgreich gearbeitet habe, mit denen man in Lettland aber, nach Einschätzung von Pabriks, offenbar zur "Avantgarde" zähle. Konkret führt er den Abschluß der Regionalreform mit häufig völlig neuem Zuschnitt von Gemeinden und Bezirken ebenso an wie ein Gesetzentwurf zur Verbesserung der Lage gleichgeschlechtlicher Paare, die Einführung eines Flaschenpfands, und auch "Kommunikationsfehler" bei der Bewältigung der Covid-19-Krise (seine Partei stellte auch den Gesundheitsminister). Als am Schluß der Stimmauszählung das Ergebnis der AP sogar unter 5% sinkt, verkündet Pabriks: "Meine Zeit in führenden Positionen der Politik ist vorbei." (LA)

"Saskaņa" (deutsch meist als "Harmonie" übersetzt) hat selbst in bisherigen Hochburgen wie Daugavpils, wo sie mit Andrejs Elksniņš den Bürgermeister stellen, einen Absturz von bisher 35,73% auf 16,89% der Stimmen erlebt. Elksniņš war zuletzt dadurch in die Schlagzeilen gekommen, dass er sowohl beim Hissen einer Ukraine-Flagge am Rathaus sehr zögerlich war, wie auch beim Benennen von Sowjetdenkmälern in seiner Stadt, die für einen Abriss vorgesehen wären. Außerdem hatte sich "Saskaņa" gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht ausgesprochen und den Bau eines LNG-Terminals in Skulte in Frage gestellt.

Den Platz der "Saskaņa" übernimmt nun teilweise die Partei "für Stabilität" ("Stabilitātei"), die zum Beispiel in Daugavpils 26,01% der Stimmen erreichte. (apollo.lv) Parteichef Aleksejs Rosļikovs wird von manchen als Vertreter einer neuen Generation eingeschätzt, die nun die Interessen der Russischsprachigen in Lettland versucht anders zu definieren. "Stabilität" heißt für diese Partei, Lettlands Mitgliedschaft in der EU auf den Prüfstand zu stellen, evtl. sogar Staatsschulden nicht zurückzahlen zu wollen, das Wahlrecht auch für Menschen ohne lettische Staatsbürgerschaft einzuführen, und gleichzeitig auch diejenigen strafrechtlich zu belangen, die "durch Covid-Maßnahmen Menschen ausgrenzen, ihnen Einkommen entziehen und Impfungen erzwingen". "Stabilitāte" bezeichnet außerdem die möglichen Konkurrenten der "Saskana" und "Latvijas Krievu savienība" als "fiktive Opposition" - und traf damit offenbar den Nerv der potentiellen Wählerschaft, denn beide Konkurrenten sind nun außen vor. "Die Wahlresultate zeugen von einer gewissen Desorientierung unter der russischsprachigen Wählerschaft in Lettland", meint der Politologe Juris Rozenvalds (LA)

Ein ganz besonderer Fall ist noch Mairis Briedis. Der Profiboxer und ehemalige Weltmeister, noch im Juli 2022 im Boxring aktiv (Boxen1), kandidierte überraschend für "Saskaņa" - die nun krachend durchfiel. Briedis neueste Aussage, vielleicht geübt darin wie man Schlagzeilen macht, klingt nun so: "Je nachdem wie die Wahlergebnisse ausfallen werden ich sehen, ob ich in Lettland bleibe. Ich bin kein Masochist". (Latvijas Avize)

Dann gibts noch zwei Neue im Parlament. Zum einen sind das die "Progressiven", bereits die dritte Partei in Lettland, die mit dem Etikett "sozialdemokratisch" in Verbindung gebracht wird - diesmal aber weder als Rainis-Nachfolger noch Moskau-freundlich. Gelegentlich werden sie auch die "wahren Grünen Lettlands" genannt, weil ihr Wahlprogramm demjenigen von Grünen Parteien in Westeuropa sehr viel mehr ähnelt als das bei den lettischen "Grünen" der Fall ist. Sie selbst zitieren häufig Beispiele aus Schweden oder Dänemark, orientieren sich also am "skandinavischen Modell". Immerhin haben sie es schon im Stadtrat von Riga zum Mitregieren geschafft, nun folgt der Einzug ins lettische Parlament. Spitzenkandidat Kaspars Briškens betont außerdem die Finanzierung der Partei aus eigenen Mitteln - man sei nicht abhängig von irgendwelchen fragwürdigen Geldgebern (IR). 

Wirklich "neu" ist Ainārs Šlesers nicht. 2010 veranlasste der damalige Präsident Valdis Zatlers ein Referendum zur Entlassung des Parlaments, weil dieses sich weigerte die Immunität eines Abgeordneten aufzuheben, welcher der Korruption angeklagt war. Dieser Abgeordnete war Ainārs Šlesers. Noch heute gilt er als "Oligarch", ist allerdings im Gegensatz zu Lembergs noch von keinem Gericht verurteilt worden. Wie groß das heutige Privatvermögen des durch lettisch-norwegische Geschäftsverbindungen reich gewordene Šlesers ist, gilt als schwer abschätzbar. Seit 2010 war der auch mal als "Bulldozer" bezeichnete Geschäftsmann an verschiedenen anderen Parteien beteiligt, immer als "Führungsfigur" ("Šlesera Reformu partija", "Vienoti Latvijai", u.a.). Nun also "Lettland zuerst" - ("Latvija pirmajā vietā" - wörtlich übersetzt: "Lettland an erster Stelle"), mit deutlichen Bezug auf den Ex-US-Präsidenten und ganz ähnlicher Strategie, sich in der virtuellen Welt des Internet eine eigene Realität zu schaffen (Wahlinfos finden sich fast ausschließlich nur auf Facebook, Instagram und Tiktok). Noch dazu steht Šlesers religiösen Vereinigungen nahe, die in Deutschland wahrscheinlich als "Sekten" bezeichnet würden; immer mit deutlichem Bezug auf Werte einer "traditionellen Familie" (Šlesers hat fünf Kinder, auch sein Sohn Ričards ist inzwischen Parteiaktivist und Kandidat).

Journalisten des "Baltijas pētnieciskās žurnālistikas centrs" (Zentrum für investigativen Journalismus "Re:baltica") bezeichneten die von Šlesers vertretenen Gruppierungen als "Quelle der Desinformation in Lettland". Impfgegner und Verschwörungstheoretiker finden hier also leicht Gleichgesinnte. Wer auch immer als Vertreter dieser Partei in der Berichterstattung der Wahlnacht vor ein Mikrofon kam, wurde nicht müde sich laut über die allgemeine Benachteiligng durch die "Herrschaftsmedien" zu beklagen - schließlich will man "das Volk vor dem Bankrott und dem Kariņš-Levits-Regime" retten, so der Wahlslogan. 

Da kann man nur sagen: viel Spaß all denen, die sich in Koaltionsverhandlungen einigen müssen. Und: kein Spaß für deutschsprachige Journalisten. "Von den Parteien, die die russischstämmige Minderheit im Land vertreten, konnte keine einen Sitz im neuen Parlament erringen" (20Uhr-Tagesschau der ARD am 2.10. - da wird "Stabilitāte" aber sicher protestieren!). Aus ähnlichem Grund krass daneben liegt auch die "Welt" mit einer Schlagzeile wie dieser: "Kremlfreundliche Partei verpasst Einzug in lettisches Parlament". Andere deutsche Journalisten sprechen / schreiben nach wie vor von einer "Liste der Grünen und Bauern" - was ja nun auch nicht mehr so ganz stimmt.

Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 60% und war damit so hoch wie seit Jahren nicht mehr (2010 waren es 63,12%). Als besondere Vorkommnisse werden noch gemeldet, dass außer einem lettischen Pass und zwei ID-Karten, die in Wahlurnen aufgefunden wurden, sich zwischen den Wahlzetteln auch ein Brief an die Leiterin des lettischen Wahlamts Kristīne Bērziņa befunden habe; dieser wurde ihr auch übergeben, heißt es. 

Mehr Details zu den Wahlergebnissen siehe Lettisches Wahlamt