22. November 2024

Harmonie für's Kongreßhaus

Wer sich die aktuellen Entwürfe ansieht, meint vielleicht, am Kalpaka Boulevard in Riga solle gleich eine neue Stadt aus dem Boden gestampft werden. 

Seit langer Zeit schon wurde über den Bau eines neuen Konzerthauses geredet und gestritten - zunächst meinte man sich auf einen Bau mitten in der Daugava geinigte zu haben (siehe Bericht), dann schien der Bau der Nationalbibliothek wichtiger (die 2014 eröffnet wurde). 

Von der langen Bank - auf die lange Bank

Die Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat änderten sich mehrfach, und es kamen immer neue Vorschläge dazu, welcher Ort am geeignesten für ein Konzerthaus sein könnte. Schließlich wurden alle davor liegenden Beschlüsse verworfen und man begann wieder bei Null. Nun wurden insgesamt 36 verschiedene Orte in Riga wurden geprüft. Inzwischen scheint die Sache klar: schon innerhalb der nächsten zwei Jahre sollen entscheidende Schritte getan sein, das bisherige Kongreßhaus als "Rīgas Filharmonija" (Philharmonie Riga) umzubauen. Abreissen konnte und wollte man dieses 1982 im postmodernen Stil gebaute Haus nicht - das wurde als Rahmen einer internationalen Ausschreibung festgelegt, bei der sich über 120 Architekturbüros bewarben, davon fast 100 aus dem Ausland.

Das Projekt soll nun durch ein internationales Team vorangetrieben werden, das aus etwa 100 Personen besteht, auch ein Aufsichtsrat wurde geschaffen. Zögerlich ist man noch bei der Benennung der genauen Umbaukosten: zunächst müsse man die "Entwurfsarbeiten fertigstellen", heißt es, und über die notwendigen Mittel für den Bau der Rigaer Philharmonie müsse dann die Regierung noch entscheiden.

Neue Pläne und Ziele

Am 20. November wurden die Pläne bei einer öffentlichen Veranstaltung im Rigaer Rathaus präsentiert. Einiges davon wirkt, mit deutschen Augen gesehen, fast ein wenig wie die große Verhüllung des Reichstags in Berlin - nur diesmal nicht als Kunstprojekt, eher als Prestigeprojekt der Musikstadt Riga. 

Das neue Haus soll dann auch als Tourismus-Magnet wirken; die Stadtoberen stellen es gern in eine Reihe mit Konzerthäusern in Kopenhagen, Amsterdam, Oslo und auch - besonders was lange Planungs- und Bauzeiten angeht -  mit der Elbphilharmonie in Hamburg. Das Unternehmen „Mark arhitekti und Mailītis arhitekti“ soll das Bauvorhaben koordinieren und bis 2026 sollen alle administrativen Voraussetzungen erfüllt sein um mit dem Bau zu beginnen. (lsm)

Ein Haus als Heimat für viele

Eine Fläche von 19.561 m² soll das neue Haus umfassen. Im jetzt gebildeten Aufsichtsrat sind auch künftige Nutzer vertreten, wie z.B. das Nationale Symphonieorcheter ("Latvijas Nacionālā Simfoniskā orķestra" LNSO) und "Latvijas Koncerti" als Veranstalter. Auch der lettische Radiochor und die Bigband des lettischen Radios soll dann hier ihr neues Zuhause finden. Die Fertigstellung des Umbaus soll, bisherigen Plänen zufolge, bis 2030 abgeschlossen sein. (lsm)

Das LNSO tritt bisher im Haus der "Großen Gilde" in Riga auf, das 1936 mit luxuriöser Holzausstattung ausgestattet und 1965 nach einem Brand zuletzt restauriert wurde. Aber auch für die 3576.40 m² Fläche dort, hinter der beeindruckenden mittelalterlichen Fassade, gibt es aktuellen Renovierungsbedarf (Kostenschätzung; 14 Millionen Euro). Danach hofft man, auch dort an mindestens 100 Tagen im Jahr Konzerte veranstalten zu können, mit einer Gesamtzahl von 7500 Besuchern. 

Ein weiterer, realtiv neu gestalteter (ebenfalls traditionsreicher) Ort für Konzerte ist gegenwärtig in Riga der sogenannte "Hanzas Perons" ("Hanse-Bahnsteig"), ein ehemaliges Lagerhaus der Eisenbahn. Immerhin ist hier Raum für bis zu 1200 Sitzplätze. 

Wer in Lettland gar nicht mehr den richtigen Konzertsaal findet, aber die Nutzung von digitalen Angeboten liebt, kann übrigens sich in das Projekt "Konzertsaal zu Hause" (Mājas Koncertzāle) einschalten. (Bisher) kostenlos, und sicherlich mit genügend "Appetithäppchen" - nicht nur aus dem Bereich der Klassik.

29. Oktober 2024

Mehr als ein 0:1

Was Sportbegegnungen zwischen Lettland und Deutschland angeht, so sind vor allem Basketball und Eishockey im Gedächtnis deutscher Sportfans: als Deutschland 2023 überraschend Weltmeister im Basketball wurde, gab es im Viertelfinale den "Thriller in Manila", den knappen 81:79 Sieg Deutschlands, mit einem verworfenen Dreier der Letten in letzter Sekunde. Und obwohl im Eishockey meistens Deutschland bei den Länderspielen gegen Lettland die Oberhand behält (eine WM-Begegnung gewann Lettland zuletzt 2012), sind es doch immer Spiele auf Augenhöhe. Als 2023 Deutschland sensationell Eishockey-Viceweltmeister wurde, gewann Lettland - mindestens ebenso sensationell - die Bronzemedaille

Bollwerke und Zwerge

Aber Fußball? Wer alt genug ist, sich zu erinnern, muss vielleicht an "Rumpelfußballer", ein Begriff der um die Jahrtausendwende herum aufkam, denken. Und beim 0:0 im Spiel gegen Lettland bei der EM des Jahres 2004 schien nichts besser geworden zu sein. "Gescheitert am lettischen Bollwerk", so schrieb der "Spiegel" damals. "Blamage" war wohl eine häufig verwendete Vokabel für die Leistung der Deutschen, galt doch Lettland als "Fußball-Zwerg" (sport1). Im Vorfeld des Spiels war Torhüter Oliver Kahn als "Viertel-Lette" bezeichnet worden, was einigermaßen Aufsehen erregte (Kahn: "Meine Großmutter ist Lettin und mein Vater wurde dort geboren“). Teil der lettischen Mannschaft damals: der lettische Rekord-Nationalspieler Astafjevs ebenso wie Stürmer Māris Verpakovskis, von dem es hieß, dass er die deutsche Abwehr "in Angst und Schrecken versetzte". 

Rigas Schule für Europa

Bankett für die Gäste: die lettische Fußball-Delegation in Frankfurt

Nun spielt also eine lettische Mannschaft aus Riga in der UEFA Europa League - und wer die drei Buchstaben RFS aufzulösen und zu deuten vermag, wird es mit "Rigas Fußball-Schule" übersetzen. Also ein Nachwuchs-Team? Eigentlich nicht. Wichtig vielleicht der Unterschied zwischen "RFS" (Rigaer Fußballschule) und FK RFS (Fußball-Klub Rigaer Fußballschule). Und wer ist Generaldirektor beim lettischen Europaleague-Teilnehmer? Der "alt bekannte" Māris Verpakovskis. "Uns fehlt natürlich noch ein wenig die Erfahrung, in solchem Rahmen und vor solchem Publikum zu spielen", gibt er zu (IR). So ging das erste Spiel in Bukarest mit 1:4 verloren, aber beim Heimspiel gegen Galatasaray aus der Türkei wurde immerhin ein 2:2 Unentschieden erreicht (kicker). Und zu Gast bei Eintracht Frankfurt "nur" 0:1 zu verlieren, erscheint ebenfalls als sehr respektable Leistung. 

Seltene Gelegenheiten

Schon 15 Jahre ist es her, dass ein lettischer Klub in der UEFA-Europa-League spielen konnte - damals war es FK Ventspils (der inzwischen, nach einigen Skandalen, nicht mehr existiert). 2009 gab es noch eine Aufteilung in Gruppen, und Ventspils spielte unter anderem einmal Unentschieden gegen Hertha BSC.  Der "Kicker" schrieb als Spielbericht: "Viel Krampf, wenig Spektakel: den biederen Letten genügten die Grundtugenden, um indisponierte Berliner in Schach zu halten." Die "BILD" schrieb von "lettischen Nobodys". 

Nach dem Spiel von RFS gegen Frankfurt fallen die Berichte doch etwas anders aus, und es wurde sorgsam registriert, dass 56.600 Zuschauern im Stadion waren (die größte Zuschauermenge, vor der RFS bisher je gespielt hatte), und dass auch 600 Letten dabei waren (RFS).Und, siehe da: auch von einem "lettischen Bollwerk" war wieder die Rede (sportschau). Fünf Millionen Euro habe RFS allein schon für das Erreichen der Europa-League von der UEFA eingenommen, verrät Manager Verpakovskis, und für ein Unentschieden gibt es immerhin noch einmal 150.000 Euro (IR)

Homeground im Winter

Spezielle Vorbereitungen wird der Rigaer Fußballklub unternehmen müssen, um laut UEFA-Spielplan am 23. Januar 2025 das Europaleague-Spiel gegen Ajax Amsterdam in Riga austragen zu können. Im Stadion Daugava in Riga sei kürzlich aber eine Rasenheizung verlegt worden, die Ende November in Betrieb gehen werde, meint Verpakovskis. Zusätzlich wolle man den Platz rechtzeitig vorher gegen Schnee abdecken (IR). Die UEFA-Regeln schreiben vor, dass gespielt wird, solange die Außentemperatur nicht unter -15 Grad fällt. In der obersten lettischen ersten Fußball-Liga (Virsliga) dauert der Spielbetrieb in der Regel von Mitte März bis Anfang November - aktuell führt Rīgas FS zwei Spieltage vor Schluß die Tabelle mit sechs Punkten Vorsprung an (Kicker).

Was wird passieren, wird Verpakovskis gefragt, wenn trotz aller Mühen ein Fußballspiel in Riga im Januar nicht möglich sein wird? - Wir schauen uns schon nach Möglichkeiten in Tallinn oder Vilnius um, so die Antwort. "Und wenn das nicht geht, spielen wir in einem anderen neutralen Land." Und dann erinnert sich der Ex-Goalgetter doch tatsächlich an die Qualifikationsspiele zur Teilnahme an der Europameisterschaft 2004. "Da haben wir ein Länderspiel in Riga gegen die Türkei Mitte November gehabt. Der Boden war gefroren, das kannten die Türken nicht". Lettland gewann 1:0, das Rückspiel endete 2:2. Torschütze in beiden Spielen: Māris Verpakovskis. (IR)

27. Oktober 2024

Unheilig

Es gibt Wallfahrtsorte in Lettland - mindestens einen. Jedes Jahr zum Maria-Himmelfahrt-Tag im August versammeln sich Tausende Pilger in Aglona, rund 45 km nordöstlich von Daugavpils gelegen.

In der 1780 fertiggestellten Kirche des 1700-Einwohner-Ortes Aglona befindet sich das Heiligenbild  „Die Gottesmutter Wundertäterin von Aglona”, das nur zu den feierlichen Anlässen während der religiösen Feste hervorgeholt wird und dem Gläubige heilende Kräfte zusprechen. Aglona gilt als "Herz des Katholizismus in Lettland" (Latgale-Travel), Noch zu Sowjetzeiten wurde 1986 hier der 800. aJahrestag des Christentums in Lettland gefeiert.
Kurz vor dem Besuch von Papst Johannes Paul II. in Lettland wurde 1993 der gesamte Vorplatz der Kirche planiert und gepflastert, Bäume abgeholzt und eine als "heilig" geltende Quelle nebenan ganz in Beton eingefasst, auf dass alles für die Massennutzung vorbereitet sei. Der Papst verlieh der Kirche den Titel einer "kleinen Basilika", und 2018 besuchte auch Papst Franziskus den Ort. Und für Gruppen bis zu 53 Personen hält die örtliche katholische Gemeinde jederzeit Übernachtungsmöglichkeiten und Catering bereit. 

Aglona, ein Sehnsuchtsort? 

Zwar ist die Einwohnerzahl der 1995 gegründeten katholischen Diözese Rēzekne-Aglona stark rückläufig (im Jahr 1999 noch 400.000 Menschen, 2022 nur noch 276.000), aber mit 28,7% ist der Anteil der Katholiken konstant und einer der höchsten in Lettland. Die Anzahl der katholischen Priester ist im selben Zeitraum dort sogar von 53 auf 60 gestiegen. Aber die Kirche in Aglona macht inzwischen auch ganz andere Schlagzeilen.

Pāvils Zeiļa, geboren 1945, als Priester ordiniert 1977, ist seit 2005 sogar Ehrenbürger der Stadt Rēzekne. Anfang 2019 wurde Zeiļa jedoch von seinen Aufgaben als Priester der Gemeinden "Unsere lieben Frauen" in Rēzekne, der Mariengemeinde in Dugstigala und der Simon-und-Juda-Gemeinde in Prezma entbunden - aus gesundheitlichen Gründen, wie es hieß.  

Kurz darauf, am 7. März 2019, erhob die lettische Staatsanwaltschaft Anklage in einem Strafverfahren wegen sexueller Gewalt und Menschenhandel - mit Priester Zeiļa als einem der Verdächtigen. Die ersten Presseberichte waren schon 2018 aufgetaucht: ein Mann in "hilflosem Zustand" sei sexuell missbraucht worden, insgesamt gäbe es drei Verdächtige, darunter der Priester. Auch von "Menschenhandel" war die Rede. Zeiļa verbrachte einige Zeit in Untersuchungshaft, wurde jedoch später gegen eine Kaution von 5.000 Euro freigelassen. Mehr als fünf Jahre später, am 27. September 2024, erging endlich ein Urteil: Zeiļa wurde  zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt. 

Knast für den Sittenwächter

Hat das Strafverfahren Aufklärung gebracht, was da genau passiert ist?  Anfangs hatten noch Priesterkollegen, so wie Dainis Kašs, Zeiļa in Schutz nehmen wollen. "Gemeindemitglieder rufen mich weinend an und sagen, das ist nicht wahr!" Zeiļa können nicht einmal mit einem Computer umgehen, so Kašs, und habe zu Hause lediglich einen Fernseher. "Ich kenne ihn schon 30 Jahre, und halte ihn für absolut vertrauenswürdig", so Kašs (lsm). Katholische Gläubige schrieben 2018 sogar einen offenen Brief an den damaligen Ministerpräsidenten Kučinskis und seinen Innenminister Kozlovskis in dem sie die Verhaftung des Pfarrers als "Provokation gegenüber Latgale" bezeichneten - Ziel sei es, "ganz Latgale kurz vor dem Pabstbesuch zu erniedrigen" (LA / Jauns) Papst Franziskus wurde Ende September 2018 zu einem Kurzbesuch in Lettland erwartet (vatikannews). Valdis Tēraudkalns, Professor der Theologie an der Universität Lettlands in Riga, sah die Sache gelassener: "Etwas derartiges war doch zu erwarten," sagte er, "warum soll es in Lettland anders sein als in anderen Ländern der Welt? Je offener wir darüber sprechen, desto besser wird es für die Kirche sein." (IR)

Ein Jahr später allerdings berichtete das lettische Fernsehen LTV, der angeklagte Priester halte weiterhin Gottesdienste und nehme auch Gläubigen die Beichte ab. (TvNet) Jānis Bulis, Bischof der Diözese Rēzekne-Aglona, zog sich damals auf die Aussage zurück, Zeiļa sei eben nicht bei der Diözese, sondern der Marianischen Kongregation angestellt (mariani.lv). Kurz darauf bestätigte Bulis aber, Zeiļa sei inzwischen "in Rente" gegangen, also nicht mehr aktiv (delfi).

Im August 2021 erschien in der Zeitschrift "IR" ein Interview mit Pāvils Zeiļa. Ein Kloster in Italien habe die Kaution für seine zwischenzeitliche Freilassung bezahlt, gab er an (IR); die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen bezeichnete er als "Fantasien". 

In Angesicht des Eisbergs

Nun also sechs Jahre und zehn Monate Gefängnis - und noch vier Jahre und sechs Monate "Bewährung unter Aufsicht" oben drauf. Der 79-jährige Pāvils Zeiļa wurde der sexuellen Gewalt (einer Gruppe von Personen) gegen einen geistig behinderten Mann für schuldig befunden. Ein weiterer Angeklagter erhielt neun Jahre und zehn Monate Gefängnis und fünf Jahre Bewährungsaufsicht. Ihm wird sexuelle Gewalt gegen ein weiteres, damals minderjähriges Opfer vorgeworfen. Ein dritter Angeklagter ist inzwischen verstorben. 

Von Seiten der katholischen Kirche Lettlands gibt es nur spärliche Kommentare. „Bis zu einem endgültigen Urteil des Gerichts verzichtet die Kirche auf weitere Kommentare“, heißt es immer noch. Auch Priesterkollege Dainis Kašs, ebenso wie Zeiļa ein Marianer, gibt keine weiteren Interviews. Zwei bisher nicht benannte Personen kommen ins Spiel: Ieva Leimane-Veldmeijere leitet eine Organisation, die der betroffene behinderte Mann um Hilfe bat. Und dem Anwalt Uldis Lapiņš werden mehrere Versuche vorgeworfen, den Mann von einer Aussage vor Gericht abzuhalten. Leimane-Veldmeijere erklärt den Grund für die Einwilligung, ihren Namen jetzt öffentlich zu nennen, so: "Ich möchte allen Verschwärungsgerüchten und -theorien entgegentreten, die bezüglich dieses Falles im Umlauf sind." Eigene Beschuldigungen habe ihre Organnisation keine erhoben: "Das ist alles Ergebnis polizeilicher Ermittlungsarbeit." Oft wüssten eben Betroffene nicht, wohin sie sich wenden sollten, und da viele Fälle gar nicht zur Anzeige gelangen, sei der Fall des Priesters Zeiļa "nur der sichtbare Teil des Eisbergs". (IR)

Priester Zeiļa wurden Fälle sexueller Gewalt vorgeworfen, beide Male traf er das Opfer im Pfarrbüro in Rēzekne. Er ist aber nicht der einzige und nicht der erste Geistliche in Lettland, dem sexuelle Gewalt vorgeworfen wird. 2023 wurde ein anderer katholischer Priester wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs eines Kindes verhaftet, und ein Geistlicher einer baptistischen Gemeinde wurde wegen Gewalt gegen fünf Mädchen (das jüngste Opfer sieben Jahre alt) zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. (IR)

Ein anderer Fall war 2010 der Fall eines katholischen Pfarrers, der erst zur evangelischen Kirche übertrat und dann im Verdacht des sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Waisenhausschülern stand. Die damaligen Untersuchungen endeten 2015 nach dem Tod des Beschuldigten. 

Von kirchlicher Seite wurde angekündigt, dass nunmehr alle Personen in Diensten der Kirche, die mit Kindern umgehen, zur Teilnahme an Seminaren zum Thema Kinderschutz verpflichtet werden sollen. "Fahren sie nicht allein mit einem Kind im Auto oder halten sich in geschlossenen Räumen ohne die Anwesenheit von Erziehungsberechtigten auf", heißt es da, "schützen Sie sich selbst und setzen Sie sich nicht unnötigen Verdächtigungen aus." (IR)

21. September 2024

Neues vom Strand

Kennen Sie Bilderlingshof, Kiefernhalt oder Karlsbad?  Lettisch würden wir heute sagen: Bulduri, Priedaine und Melluži. Aktuell Teil der Stadt Jūrmala. Dabei ist Priedaine sogar der älteste bewohnte Ort, denn dort wurden bei Ausgrabungen zwei steinzeitliche Siedlungen gefunden, weiß die lettische Presse (lsm). 

Tradition Badestrand

Bis zum Jahr 1920 gab es hier nur verschiedene Badestellen am Ostseestrand, aufgereiht am Ufer. Bilderlingshof (Bulduri), Edinburg (Dzintari), Majori, Dubulti und weitere. Schon 1838 war in Ķemeri ein Kurort gegründet worden. Nun wurde, im frisch unabhängig gewordenen Lettland, eine Stadt Jūrmala gebildet. 1946 gliederte dann die Regierung der Lettischen SSR zunächst Jūrmala als eigenen Bezirk der Stadt Riga ein. In Priedaine zum Beispiel wurden 1949 alle Straßen, mit Ausnahme des Lielais-Prospekts, umbenannt. 10 Jahre später kamen dann die nächsten Änderungen: am 11. November 1959 wurden noch Kurort und Papierfabrik eingegliedert - Ķemeri und Sloka - wobei Sloka schon seit 1878 eigene Stadtrechte besaß. 

Insgesamt ist Jūrmala also weniger traditionsreich als andere Städte. Die Stadt noch einmal komplett umkrempeln, warum also nicht? Die Stadtverwaltung möchte nun gleich acht Straßen umbenennen. Es sind die Andreja Upīša iela, Puškina iela, Partizānu iela, Pētera Pāvila iela, Leona Paegles iela, Oškalna iela, Sputņika iela, und die Jāņa Sudrabkalna iela. Bis zum 6. Oktober sind die Einwohnerinnen und Einwohner aufgerufen, ihre Meinung zu den Änderungsvorschlägen kund zu tun, die eine Arbeitsgruppe der Stadt bereits vorbereitet hat. (apollo)

Acht Ungeliebte

Liegt es daran, dass die lettische Bauernpartei (Zaļo un Zemnieku savienība / ZZS) bei den Kommunalwahlen für lettische Verhältnisse ungewöhnliche 50,56% der Stimmen und 8 von 15 Mandaten errungen hatte? Danach schien manches leichter zu sein, wie zum Beispiel sich selbst eine kräftige Gehaltserhöhung zu genehmigen (lsm), oder einen umstrittenen Bürgermeister, der zurücktreten musste, als Berater wieder einzustellen (bnn)

Was soll verschwinden? Die Befürworter der Umbenennung meinen, lettische Straßennamen sollten grundsätzlich nur noch an Flüssen, Bergen, Tieren oder Namen orientiert sein, die mit historischen Ereignissen verbunden sind, die eindeutig für Lettland von Bedeutung sind (NA). Also: Sputnik = Technik der Sowjetunion. Puschkin =  Dichter Russlands. Andrejs Upīts = lettischer Schriftsteller, aber Vertreter des sozialistischen Realismus und 1919 Unterstützer einer lettischen Sowjetrepublik. 

Leons Paegle = Lehrer, Dichter, Literat - aber auch Kommunist, der den Versuch von 1919, eine lettische Sowjetrepublik zu bilden, untertstützte. Janis Sudrabkalns, noch ein Dichter, der vom lettischen Literaturinformationszentrum immerhin als einer der "bedeutendsten Autoren der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts" bezeichnet wird. Aber: als sich die UdSSR 1940 Lettland einverleibt hatte, wurde Sudrabkalns zum Anhänger des Sowjetsystems und, sozusagen, zu einem der bekanntesten lettisch-sowjetischen Dichter. Auch Otomārs Oškalns war zunächst Lehrer, wurde 1934 verhaftet und wurde dann 1940 Deputierter des Obersten Rates der Lettischen SSR, 1942 dann Mitglied von antifaschistischen Partisanengruppen, nach Kriegsende 1946 dann Minister der Lettischen SSR.

Aber die Pētera Pāvila iela? Peter Paul Straße? Von der Citadeles iela in Riga ist bekannt, dass sie auch mal Pētera Pāvila hieß (russisch "Petropawlowskaja-Straße"). Ist also vielleicht der Ort Petropawlowsk in Russland hier Namensgeber? Oder die "Peter-und-Paul-Festung" (Petropawlowskaja Krepost) in St.Petersburg? Von der gleichnamigen Straße in Riga ist bekannt, dass die Straßenbenennung 1785 nach dem Bau der Kirche St. Peter und Paul in Riga erfolgte (LNB).- Nun gibt es ja tatsächlich auch in Ķemeri eine orthodoxe Kirche mit Namen Peter-und-Paul-Kirche (Pētera un Pāvila Ķemeru pareizticīgo baznīca) - nur wenige Hundert Meter entfernt von der Straße, die den Namen Peters und Pauls nun verlieren soll. Ob nun der nationalistische Eifer die Kirche mit umbenennen wird? 

Alternativen: Ärzte, Dichter, Architekten

Zur Wahl für die Umbenennung steht zunächst die "Nationale Partisanen-Straße" (denn gegen Partisanen hat man offenbar nur dann etwas, wenn sie sozialistisch oder kommunistisch gesinnt sind). (jurmala.lv). Personen, nach denen Straßen benannt werden sollen: Eižens Laube (ein Architekt, schuf viele Gebäude in Jūrmala), Jānis Lībietis (ein Arzt, Direktor der Schwefelquellen in Ķemeri), Mihails Malkiels (Gründer des Rehabilitationszentrums „Jaunķemeri"), Eduards Kalniņš (ein Künstler und Professor an der lettischen Kunstakademie), Niklāvs Strunke (ebenfalls Künstler), und schließlich auch die erst kürzlich verstorbene Dichterin Amanda Aizpuriete. Mit dabei auf der Vorschlagsliste ist auch der in Görlitz gebürtige Rigaer Lokalhistoriker und Zeichner Johann Christoph Brotze - Begründung: er habe mehrere Ansichten und Karten von Kauguri und Sloka gezeichnet. (jurmala.lv)

Andere Vorschläge klingen eher nicht danach, dass deshalb Straßennamen extra geändert werden müssen: "Kurortstraße" (weil Ķemeri mal ein Kurort war), "Kupferstraße" (weil Kupfer häufig für Dächer und Fassaden verwendet wurde), "Webspulenstraße" (wohl als Hinweis auf altes Handwerk), oder "Seeschwalbenstraße" (diese Vögel werden wohl auch schon in Jūrmala herumgeflogen sein - aber "Nationalparkstraße" hat bisher niemand vorgeschlagen). Es wird deutlich: es gibt aktuell nichts, wonach dringend Straßen benannt werden müssten (Aizpuriete mal ausgenommen). Es ist wohl eher die Lust an der "nationalen Bereinigung".

Bei einer ähnlichen Straßenumbenennungsaktion im lettischen Valka stellte übrigens die Stadt die Straßenschilder für die Anwohner/innen kostenlos zur Verfügung, und auch die Eintragung ins Grundbuch geschah ohne weiteren Aufwand (digital). Und in Riga sind zu Jahresanfang Moskau, Lomonossow, Puschkin, Gogol, Lermontow und Turgenjew von den Straßenschildern verschwunden. Veranschlagte Kosten: 80.000 Euro.

Also warten wir mal ab, was die Einwohnerinnen und Einwohner von Jūrmala im Oktober entscheiden. Einzig in einem Fall steht die Möglichkeit zur Auswahl, den Namen beizubehalten - mit einer winzigen Änderung: aus der "Pētera Pāvila iela" würde dann die "Pētera–Pāvila iela", womit es unter Zuhilfenahme des Bindestrichs dann so aussehen würde als seien nur zwei Vornamen gemeint. Also: es geht voran, am Strande Lettlands!

16. September 2024

Darmstädter Waldluft

Wo liegt eigentlich der Darmstädter Kiefernhain? Eine Frage, mit der selbst gut trainierte Suchmaschinen Schwierigkeiten haben. Denn nein, es ist nicht das Naturdenkmal in Darmstadt-Eberstadt, und auch nicht die KITA Kiefernhain. Gemeint sind schon richtige Bäume, angepflanzt Ende des 19. Jahrhunderts. Es sind Kiefern, die in einem Naturschutzgebiet wachsen, und inzwischen also um die 120 Jahre alt sind (Darmštates priežu audze). Das Saatgut wurde aus Deutschland nach Lettland gebracht, die lettische Naturschutzverwaltung beschreibt das Gebiet inzwischen so: "ein gescheiterter Versuch Darmstadt-Kiefern anzubauen, die für die klimatischen Bedingungen Lettlands ungeeignet sind." Und die lettische Forstverwaltung schreibt: "dies ist der einzige Darmstädter Kiefernwald in Lettland." 

Oberförster eigenwillig

Das Gebiet steht schon seit 1977 unter Naturschutz, ist 4,69 ha groß, liegt am Ufer des Flusses Lielupe und zählt heute zum Gebiet der (1959 gegründeten) Gemeinde Jūrmala. Ein Naturschutzkonzept bezeichnet das Gebiet als "dendrologische Besonderheit", denn besonders schützenswerte Tiere oder Pflanzen gibt es in diesem Gebiet nicht.

Das Saatgut sei Ende des 19.Jahrhunderts von einer Firma Keller aus Darmstadt bezogen worden, heißt es. Verantwortlich für die Anpflanzung war damals Eižen Ostvalds (Eugen Ostwald), deutschstämmiger Oberförster der Region Riga, der sich geweigert haben soll, den Wert lokaler Saatguterzeuger anzuerkennen. Er hoffte auf schnelles Wachstum und Gewinne durch den Holzverkauf - aber das Gegenteil trat ein. "Schon nach 10 Jahren war zu sehen, dass die Anpflanzungen mehr Äste und Zweige aufweisen - also nicht so gutes Holz ergeben," bestätigte auch der Dendrologe und Landrat Max Sivers (1857-1919). Und ein Teil der Anpflanzungen sollen schon den harten Winter 1887/88 nicht überstanden haben.

Krumm und schepp

Es soll damals hitzige Diskussionen in der Presse Lettlands zu diesem Thema gegeben haben. Der Darmstadter Firma wurde sogar unterstellt, die Samen billig aus Südfrankreich eingekauft und nicht einmal selbst hergestellt zu haben. "Kein Forstmann kann es verantworten, der Nachwelt Krüppelbestände zu hinterlassen", so urteilte Landrat Sivers in einer Forstfachzeitschrift. Die meisten dieser Anpflanzungen wurden später wieder entfernt. Heute ist nur die Anpflanzung in Jūrmala noch erhalten. 

Eigentlich gibt es auf diesem Gebiet auch keine Besiedlung. Allerdings befindet sich in der Nähe, auf dem Grundstück Bražuciems 0701, schon seit der Sowjetzeit eine sogenannte "Sommerzeltstadt", inzwischen auch mit mehr als nur Zelten - und es ist unklar, wieviele Menschen dort eigentlich auch ständig wohnen. (lsm)

Spenden für Darmstadt?

Vielleicht könnte Jūrmala ja heutzutage ein paar gute Kiefernsamen "zurückspenden" an Darmstadt? Die heimische Presse dort schreibt inzwischen vom "Kieferntod in Darmstadts Wäldern" (echo/ FAZ) Allerdings kennt man sich in der Ex-Residenzstadt offenbar schon lange mit krummen Kiefern aus: dort gibt es die "Schepp Allee", wo schon im 18. Jahrhundert Kiefern an Straßenrändern angepflanzt wurden, um die hochherrschaftlichen Kutschen vor dem überall herumfliegenden Sand zu schützen (Stadtlexikon). Ergebnis: lange hielten sich die Kiefern nicht. 1879 soll es 210 echte scheppe (schiefe) Kiefern gegeben haben, und 1954 waren noch 30 Kiefern übrig, die in ihren so ungewöhnlichen Wuchsformen überdauert hatten und, wie es heißt, Kindern einen idealen Kletterplatz boten  (stadtundgruen) (siehe Abb. Stadtarchiv Darmstadt)

Eine Partnerstadt in Lettland hat Darmstadt ja auch schon - seit 1993 ist das Liepāja. Ob es bei Besuchen aus Hessen bald regelmäßig Ausflüge zu den "Darmstädter Kiefern" gibt? Wohl eher nur für ganz eifrige Dendrologen.

6. September 2024

Morgenrot macht Roggenbrot

... so.oder so ähnlich könnte der Slogan gewesen sein. Da legt doch das lettische Landwirtschaftsministerium ein spezielles Förderprogramm auf, um Vorschulkindern und Schülern der ersten bis neunten Klassen das Roggenbrot als traditionelles, wichtiges und regionalspezifisches Brot und seine Bedeutung für die Ernährung näher zu bringen. 300.000 Euro wurden bereitgestellt. Allerdings wurde auch schon die Sinnhaftigkeit dieser Ausgaben in Frage gestellt. Die Förderung der Verwendung von Roggenbrot in der Ernährung solle schon von Kindesbeinen an selbstverständlich werden, so Landwirtschaftsminister Armands Krauze (ogrenet)

Brot für alle - oder doch nicht?

"Die Öffentlichkeit zweifelt an der Sinnhaftigkeit dieser Ausgaben", so berichtet die lettische Presse (ogrenet). Bis Ende 2024 sollte Roggenbrot kostenlos an Schülerinnen und Schüler verteilt werden. Bildungseinrichtungen sollten außerdem eine Befragung junger Menschen durchführen, um Daten über die Beliebtheit von Roggenbrot und den Wissensstand über seinen Wert zu erhalten. Es war geplant, dass das Projekt mindestens 50 % der Zielgruppe, also etwa 140.000 Kinder und Jugendliche, einbeziehen solle. Doch nun rudert das Ministerium zurück: das Projekt wird gestoppt (NRA / Diena)
Nun heißt es schlicht: der Antragsteller habe seinen Förderantrag zurückgezogen. Begründung: ein Teil der Gesellschaft habe eine unklare und besonders negative Haltung gegenüber der Umsetzung des Roggenbrotprogramms gehabt (lad.gov).

Gefangen im Roggen

Der Verzehr von Brot, einschließlich Roggenbrot, ist in Lettland generell rückläufig, so das Landwirtschaftsministerium (zm.gov) In Lettland werden bereits Obst, Gemüse, Milch und Milchprodukte im Rahmen verschiedener Förderprogramme kostenlos an Schulen verteilt. 

Interessant, dass im Rahmen des neuen Förderprogramms auch Bedingungen formuliert wurden, wie genau "förderungsfähiges Roggenbrot" auszusehen habe. Genannt werden folgende Punkte: a) es wird auf dem Gebiet Lettlands in einem beim Lebensmittel- und Veterinäramt registrierten Unternehmen hergestellt; b) es hat die Form eines Klons; c) wird aus natürlicher Hefe hergestellt; d) das Brot besteht aus mindestens 80 Prozent Roggenmehl; e) das Mindesthaltbarkeitsdatum beträgt am Tag der Veranstaltung noch mindestens vier Tage; f) es erfüllt die Qualitätsanforderungen der Verordnungen über Ernährungsnormen für Studierende von Bildungseinrichtungen.

Brot als Kulturgut

Muss jetzt vielleicht auch der Brotpreis in lettischen Bäckereien mal genauer angeschaut werden? Im Zusammenhang mit der jetzt abgesagten Brotkampagne sind keine Gründe aufgeführt, warum Lettinnen und Letten weniger Roggenbrot konsumieren. Lettisches Roggenbrot (Rudzu maize) ist Teil des sogenannten "Kulturkanons", wo versucht wird typisch Lettisches zu definieren und aufzulisten. Dort heißt es: "Traditionelles Roggenbrot ist ein wichtiger Teil der materiellen und spirituellen Kultur der Letten, der mit der Identität der Nation verbunden ist und ein wichtiges Symbol dafür ist." Aber schon zwei Sätze weiter klingt es nicht mehr ganz so attraktiv, wenn beschrieben wird: in schlechten Zeiten hätte man dem Mehl auch Spreu, Moos, Baumrinde oder Sägemehl beigefügt. Roggenbrot also als Ermahnung an die vielen schlechten Zeiten, die Lettland schon überstehen musste? (so nach dem Motto: ein Roggenbrot kriegen wir immer noch irgendwie hin?)

Brot als Touristenattraktion?

Der lettische Reiseveranstalter "Lauku ceļotājs" bietet eine eigene Sektion "Roggenbrotveranstaltungen" an - vor allem durch ein EU-gefördertes Projekt namens "Rudzu ceļš" (Roggenweg). Hier gibt es Mühlenfeste, Brotfestivals und eine Brotstraße anläßlich des Rigaer Stadtfests. Es bleiben aber zwei Fragen. Findet das alles statt, weil es finanzielle Unterstützung gibt, oder ist es echte touristische Nachfrage? Und wie groß ist der Anteil der einheimischen und lokalen Gäste bei solchen Veranstaltungen? 

Gut, es gibt Umfragen zum Thema. "Latvijas Maiznieku biedrība" (LMB), so etwas wie die lettische Bäckerinnung, machte 2020 ein Umfrage, in wieweit die Covid-Pandemie die Konsumgewohnheiten an Brot beeinflußt. Nicht repräsentativ wahrscheinlich (75% der Teilnehmenden waren Frauen), und gefragt wurde nach der bevorzugten Brotsorte in pandemischen Zeiten. Ganz vorn: Roggenbrot! (36,1%). Zweiter Platz: Roggenbrot mit Samen (20,7%). Gibt es in Lettland überhaupt anderes Brot? Irritierend vielleicht die Antwort aus derselben Umfrage: 22,9% der Befragten gaben an, ihr Brot im Kühlschrank aufzubewahren ... 

Brot plus das gewisse Etwas

Aussagen von Seiten der Herstellerfirmen lassen vermuten, dass zunächst einmal Großbäckereien und auch die Tendenz der Kundschaft, ihr Brot im Supermarkt statt beim Bäcker zu kaufen, erhebliche Veränderungen mit sich brachten. Viele kleine Bäckereien müssen einfach schließen. "Die Kunden kaufen weniger Roggenbrot, statt dessen 'Körnerbrot'", so ein Vertreter der Firma “Liepkalni” aus dem Kreis Valmiera (valmierazinas

Zahlen des lettischen Statistikamtes zeigen teilweise erstaunliche Tendenzen: einerseits setzt sich Weizenbrot langsam gegenüber dem Roggenbrot durch. Andererseits wird auf dem Lande viel mehr Brot gegessen als in der Stadt - und der Vorsprung von Weizenbrot zu Roggenbrot ist gerade auf dem Lande größer geworden. Der Anteil von selbst gebackenem Brot ist in dieser Statistik allerdings nicht erfasst. 

Oft im Sonderangebot

Aussagen des finnisch-lettischen Unternehmens "Fazer" zufolge wählen gerade junge Leute in Lettland gern "Roggenbrot mit Mehrwert" - also Brot mit Samen, Körnern oder Kleie. Das sei ein Trend zur gesunden Ernährung, der sich allerdings auch beim Weizenbrot zeige. Insgesamt sei aber für die Verbraucher in Lettland der Preis des Brotes der wichtigste Faktor. In einer zusammen mit der Agentur SKDS durchgeführten Umfrage erklärten 35% der Befragten den Preis für den entscheidenden Faktor beim Brotkauf - diese 35% kauften vorwiegend Brot aus dem Sonderangebot. Entscheidend ist dabei wohl für die Herstellerfirma, dass gerade diejenigen, die Aktionspreise wahrnehmen, auch am meisten Brot konsumieren. Dieser Umfrage zufolge essen fast drei Viertel (74 %) der Bevölkerung Lettlands täglich Brot zum Frühstück, fast die Hälfte der Bevölkerung (42 %) isst Brot zum Mittagessen und 39 % zum Abendessen.

Vielleicht sollten wir ja dem Ministerium eine andere Aktion vorschlagen: Touristen kaufen ja auch gerne kurz vor dem Abflug am Rigaer Flughafen noch ein paar Scheiben "echtes lettisches Roggenbrot" als Mitbringsel. Wie wäre es da, den Preis dort einfach um 20% zu erhöhen, und die Packungen mit einem Aufdruck zu versehen: "Mit ihrem Kauf unterstützen Sie kostenlose Mittagessen an lettischen Kindergärten und Schulen - dafür herzlichen Dank!"

30. August 2024

Noch ein Datum im August

Drei Phasen

Ungewöhnlich viele deutsche Medien erinnerten in diesem Jahr an die Menschenkette des "Baltischen Wegs": Russland sei damals im Schockzustand gewesen, so das ZDF,  und die NZZ  meint sogar, das Ende der ganzen Sowjetunion sei durch 15 Minuten Schweigen erreicht worden. Der eigentliche Grund, genau am 23. August 1989 diese Menschenkette zu organisieren, war ja der 50.Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, der am 23. August 1939 unterzeichnet worden war und mit dem die beiden Diktatoren unter anderem das Gebiet der baltischen Staaten unter sich aufteilten.

Aus deutscher Sicht momentan weniger beachtet, aber aus der Perspektive der baltischen Staaten ebenso entscheidend waren die Tage zwischen dem 19. und 21. August 1991, als eine Gruppe von Funktionären in Moskau einen Putsch gegen Gorbatschow versuchte. Aus lettischer Sicht auch deshalb besonders, da sich in Moskau auch der Lette Boris Pugo als Putschist beteiligte, in Riga unterstützt von einem eilig organisierten "Notstandskomitee" des langjährigen Rigaer Bürgermeisters Alfrēds Rubiks.

Der Abzug

Und dann war da noch der 31. August 1994. Eine Zeit, als der Abzug der russischen Armee aus besetzten Gebieten durch Diplomatie und nicht durch militärische Gewalt erreicht werden konnte. Vor 30 Jahren wurde es vollzogen - die russischen Truppen verabschiedeten sich aus Lettland. 
Übrig blieb nur die Funkortungsstation Skrunda, die unter dem Decknamen „Kombinat“ lief und zum Raketenfrühwarnsystem im westlichen Teil der UdSSR gehört hatte. Eine weitere Anlage mit der Bezeichnung "Darjal" befand sich im Bau. Laut dem im April 1994 unterzeichneten russisch-lettische Vertrag stellte der ältere Teil 1998 seine Funktion ein und wurde im Jahr 2000 abgerissen. Das neue, unvollendete "Skrunda-Monster" wurde bereits am 4. Mai 1995 in die Luft gesprengt. 

An drei Standorten in Lettland waren russische Interkontinentalraketen stationiert, in der Hafenstadt Liepāja gab es Atom-Uboote. Ende September 1939 hatte die UdSSR, die geheimen Zusatzabkommen des Hitler-Stalin-Pakts ausnutzend, die baltischen Staaten gezwungen „Abkommen über gegenseitige Unterstützung“ zu unterzeichnen. Seitdem waren Einheiten der Roten Armee in den baltischen Staaten stationiert gewesen - für Lettland endete dies offiziell am 31. August 1994. 1991 hatten sich noch 51.000 Militärangehörige in Lettland befunden, stationiert in 679 Militäreinrichtungen, die 100.000 Hektar Land des Landes einnahmen. (IR / Sargs) Mit dem Abkommen von 1994 musste die lettische Seite akzeptieren, dass bereits in Rente gegangene russische Militärpersonen, einschließlich ihrer Familien, in Lettland bleiben konnten.

Das Fenster war offen

"Boris Jelzin, der damalige Präsident Russlands, stellte sich gerne vor, dass sein Land Teil des zivilisierten Westens werden könnte, während der Westen glaubte, dass Russland mit seiner Hilfe in ein demokratisches Land umgewandelt werden könne", so resummiert es Journalist Pauls Raudzeps in der Zeitschrift ."IR". Und er schlußfolgert: "Wer nicht die Chancen des Lebens und der Geschichte entschlossen zu nutzen weiß, kann sich schnell in endloser Warteschlange wiederfinden."

Und Toms Rostoks, Professor an der Universität Lettlands in Riga, schätzt das damalige Abkommen heute so ein: "Das Ziel Lettlands und seiner westlichen Verbündeten war damals strategischer Natur", meint er. "Die russischen Truppen sollten so schnell wie möglich aus den baltischen Staaten abzuziehen und dabei das historische Zeitfenster zu nutzen, das sich in den Jahren danach rasch schließen sollte. Wenn man die Aggression Moskaus betrachtet, zunächst in Georgien und jetzt in der Ukraine, hat es sich ausgezahlt, denn ohne den Abzug der russischen Armee wären die baltischen Staaten höchstwahrscheinlich nicht in die NATO und möglicherweise auch in die EU aufgenommen worden." (lvportal)

18. August 2024

Damenschach

Ungewöhnliches passiert im lettischen Schach. Nur allzu gerne möchte man momenan vielleicht lieber an Mikhail Tal erinnern, oder an Dana Reizniece-Ozola, Schachgroßmeisterin und Politikerin, die es schon ins Schachmuseum Löberitz geschafft hat, nachdem sie sich dort auch als Schachspielerin eingebracht hatte. 

Was das Schachportal "Chessbase" am 13. August berichte, war weniger erfreulich, vielleicht auch im ersten Moment kaum glaubhaft. Gut, den Gegner vielleicht mal durcheinander bringen, wenn er oder sie gerade über den nächsten Zug nachdenkt - damit wäre vielleicht zu rechnen. Andrejs Strebkovs ist Schachspieler, 43 Jahre alt, und als "International Master" (Abkürzung IM) auch kein Unbekannter - dieser Titel wird vom Weltschachbund FIDE für schachliche Leistungen auf Lebenszeit verliehen. "Gens una summus" - "Wir sind eine Familie", so das Motto des Schachbunds. Die Ethikommission des FIDE schloss Strebkovs nun für fünf Jahre von allen Turnieren aus. Vorwurf: sexuelle Belästigung . 

Erstaunlich, erstaunlich: und wir dachten immer, beim Schach käme man sich eigentlich nicht wirklich nahe? Nun ja, hier wurden "nur" Briefe versandt. Allerdings mit sonderbarem Inhalt: von "obszönen Briefen mit pornografischem Material, sowie benutzen Kondomen" ist da die Rede.
Ein Teil der Begründung für die Sanktionen scheint auch zu sein, dass es bei einem Strafverfahren in Lettland keine Verurteilung gab: nach lettischem Recht stellten die Vorwürfe keine Straftat dar, heißt es. Strebkovs soll an Dutzende von Spielerinnen, einige erst 14 Jahre alt, obszöne Briefe geschickt haben, versandt an deren Wohnungen, Clubs, Universitäten und Turnierorte. Der Beschuldigte aber selbst behauptet: bis auf einen einzigen Fall im Jahr 2021 habe das alles "nichts mit Schach zu tun".

Bedarf es da noch Einzelheiten? Dass bei den betroffenen Frauen und Mädchen nicht um Lettinnen geht, sondern, wie anlässlich eines Turniers in Riga, um Betroffene aus Russland, Kasachstan und Indien? Dass es innerhalb von 10 Jahren mindestens 15 Betroffene gegeben haben soll? Dass Strebkovs Historiker ist und sein Auskommen durch Übersetzungen bestreiten soll? (iub) Auch Schach-Privatstunden soll er, lettischen Presseberichten zufolge, noch geben (jauns.lv/ sportacentrs)

Inzwischen äußerte sich die Lettische Staatspolizei dahingehend, dass es bei dem bisherigen Strafverfahren gegen Strebkovs gar nicht um den Inhalt der von ihm versandten Briefe gegangen sei. Im Januar 2023 sei das Verfahren gegen Strebkovs deshalb eingestellt worden, weil Vergehen gegen Minderjähige nicht bekannt gewesen seien und die Anklage lediglich "Rowdytum" (lett. = huligānismus) gelautet habe. Es habe auch keine Anzeige vorgelegen - die Empfängerinnen der merkwürdigen Briefe waren fast immer Frauen und Mädchen die nicht in Lettland lebten. (lsm)

Nun entsteht offenbar eine Diskussion darüber, ob Minderhährige in Lettland überhaupt an Wettkämpfen Erwachsender teilnehmen dürfen - eine seltsame Wendung. Andere wiederum sagen, Schach könne man eben auch auf digitalem Wege spielen, und da komme es manchmal zu Kontakten mit "Erwachsenen mit schändlichen Motivationen". Ein Thema, was offenbar noch nicht zu Ende diskutiert ist.

29. Juli 2024

Alles vom Apfel

Im Land von Auksis und Korta

Eigentlich ist Lettland ein Land der Apfelbäume. "Agra" heißt eine beliebte Apfelsorten in Lettland, einem Bericht der "Latvijas Avize" zufolge. Dazu kommen frühe Sorten wie "Sarkanais Cukuriņš" und "Korta", letzterer soll sogar Birnenaroma mitbringen. Ein anderer Bericht stellt besonders die Beliebtheit der Sorte "Auksis" heraus (delfi).
Allerdings hat sich das Landschaftsbild stark verändert: noch vor wenigen Jahrzehnten, als Lettland Teil des Reichs der Kolchosen und Sowchosen war, konnte man oft reihenweise Apfelbäume am Straßenrand oder auf Brachland sehen - ob sie auch abgeerntet wurden, war nicht so sicher. Aber auf vielen Märkten waren damals Äpfel eine der wenigen immer verfügbaren Waren.  

Neue Zeiten, neue Konkurrenz

Gegner von Lettlands Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) behaupten, seit dem EU-Beitritt seien in Lettland 50.000 landwirtschaftliche Betriebe liquidiert worden (ir.lv-blogi). Ob sie damit stillgelegte frühere Staatsbetriebe meinen, bleibt unklar (Quellen für die Zahlen werden nicht genannt). Gleichzeitig berichten die Apfelbauern von teilweise sehr hohen Ernten (wie im Jahr 2013, siehe DB). Offenbar wurden doch nach 2004 auch viele neue Obstanbau-Anlagen neu gegründet und auf effektives Ernten ausgerichtet - und schon vor 10 Jahren klagten die Betriebe über mangelnde Arbeitskräfte bei der Ernte. In einem Bericht des Instituts für Gartenbau in Dabele, das über 600 Apfelsorten dokumentiert hat, ist nachzulesen, dass einerseits finanzielle Hilfen für Apfelplantagen erst Ende der 1990iger Jahren einsetzten - es waren also auch in diesem Bereich einige schwierige Jahre zu überstehen. Und andererseits gaben noch im Jahr 2002 die meisten Anbieter an, einfach "Bäume am Wohnhaus" zu besitzen.

Im Jahr 2017 erreichte die Gesamtanbaufläche der kommerziellen Apfelplantagen 3.200 Hektar, und damit 33,5 % mehr als im Jahr 2012. Rein statistisch waren das 1,4 Millionen Äpfel und 447 Stück pro Hektar. Am fruchtbarsten sind dabei Apfelplantagen mit Bäumen zwischen 15 und 24 Jahren (710 Stück pro ha) (Statistikamt).

Eines aber ist inzwischen auch in Lettland Alltag: die Konkurrenz durch importierte Äpfel. Was ist also besser? Bei schlechter Ernte drohen sinkende Einkünfte, bei guter Ernte der Mangel an Hilfskräften und schlechte Absatzchancen gegen die Importware. Manche versuchen es dadurch auszugleichen, dass auch andere Obstsorten angebaut werden: Quitten (cidoni), Birnen (bumbieri), oder vielleicht Sanddorn (Smiltsērkšķi)? 

Zur Schule gehen

Lettland schuf ein Förderprogramm für Obst an den Schulen ("Skolas auglim", zusammen mit dem Milchförderprogramm dann "Piens-augli-skolai"). Hier heißt der Slogan "Piens un augļi - mani draugi" ("Milch und Früchte, meine Freunde", zusätzlich auch von der EU unterstützt). Nach Milch, Äpfeln und Birnen, Kohl, Kohlrabi, Karotten, Kürbisse, Steckrüben und Preiselbeeren sind inzwischen auch Tomaten, Gurken und Pastinaken in das Schulprogramm aufgenommen worden - also auch hier stehen die Äpfel in der Konkurrenz des Angebots. Im Schulprogramm 2022/23 waren insgesamt 1372 Bildungseinrichtungen beteiligt, dort wurden 270.073 Schülerinnen und Schüler (95 % der Zielgruppe) mit insgesamt 859 Tonnen kostenlosem Früchten und Gemüse versorgt. "Äpfel stehen dabei bei den Schülerinnen und Schülern immer noch an erster Stelle", so wird Ex-Landwirtschaftsminister Didzis Šmits (bis September 23 im Amt) zitiert, denn einer Umfrage zufolge ergab sich folgende Beliebtheits-Rangfolge: Apfel, Erdbeeren, Blaubeeren, Bananen. 

Gut im Saft

Lettland ist ein Land der Äpfel -  darauf setzt auch jetzt eine Kampagne, die einen weiteren Verarbeitungsweg bekannter machen möchte. Erst nach Zusammenbruch der Sowjetunion lernten Lettinnen und Letten ein Getränk kennen, das eher in Irland, Großbritannien, Spanien und Frankreich bekannt ist: den Cidre, Sidra oder Cider. Manchmal stand auch schon in Finnland prodzierter "Siidre" in lettischen Kühlschränken - aber nun möchte Lettland mehr selbst produzieren. 

Schon heute tauchen die baltischen Staaten in Statistiken auf, bei denen nicht nur nach Gesamtmenge und Umsatz, sondern nach Pro-Kopf-Konsum pro Jahr geschaut wird. "Almigrant" zitiert eine Statistik, der zufolge Großbritannien mit 14,5 Liter Cider pro Kopf zwar weit vorn liegt - danach folgen aber Estland mit 8,1 Liter, Litauen mit 5,1 und Lettland mit 4,1 Liter - und dazwischen Irland mit 6,8 und Finnland mit 7,2 Litern (aber Deutschland nur 0,8 Liter). 

Den Trend nutzen

Warum also nicht aus den vielfach vorhandenen lettischen Äpfeln lettischen "Sidra" machen? Die lettische Vereinigung für Landtourismus "Lauku Ceļotājs" hat nun, unterstützt vom lettischen Landwirtschaftsminiserium, der EU, und in Zusammenarbeit mit verschiedenen Herstellerfirmen, den "Sidra-Weg" ausgerufen. "Sidra kann so trocken und klar sein wie Sekt und so kühl und erfrischend wie Bier", heißt es hier. Und wenn hier Sidra als "Alternative zu Wein" angepriesen wird - die Winzerinnen und Winzer der übrigen Welt werden es vielleicht verzeihen. 

Ob Gäste aus dem Ausland allerdings die Sidra-Produzierenden auch finden - falls sich jemand mal für eine Kostprobe vor Ort interessieren sollte - das ist durchaus fraglich (in der Infobroschüre sind sogar GPS-Koordinaten angegeben!). Sie sind weit im ganzen Land verteilt, nicht nur in Kurzeme, auch in Vidzeme bis nahe der Grenze zu Estland. Und alle Betriebe verarbeiten nicht nur Äpfel: da scheint es logisch, sich mit einem Reiseorganisator zusammenzutun, um auch die gesuchten Getränke zu finden. Allerdings: Bestellung per Internet ist bei allen Herstellern möglich. Wir lernen außerdem: es gibt inzwischen auch schon "Craft Apple Cider", wohl eine ähnliche Entwicklung wie beim Bier. 

Deutsches und Lettisches

In Deutschland dagegen macht sich die Getränkeindustrie offenbar nur über den vorwiegend in Hessen bekannten "Ebbelwoi" Sorgen: "Apfelwein profitiert vom Cider-Trend", hieß es schon 2020 (getraenke-news). "Neue Märkte in Osteuropa" werden aber immerhin als "Wachtumstreiber" bezeichnet, und auch in Deutschland als "Produktsegment mit stärkstem Wachstum" ausgemacht. "Vinum" schreibt: "Schneewitchen erwacht" - und hofft dabei ebenfalls, dass der Apfelwein den Trend zum Cider nutzen kann. Und das apfelbaumarme Frankfurt hofft mit der Messe "Cider World", dass sich die Welt der Apfelweinmacher einmal im Jahr genau dort versammelt; in diesem Jahr war immerhin auch schon ein Aussteller aus Lettland dabei.

22. Juli 2024

Nur Händchen halten

Es ist vielleicht schwer sich vorzustellen: ich gehe mit meiner Freundin Hand in Hand durch den Park, es sind romantische Stunden, wir genießen die Zweisamkeit. Plötzlich raunzt uns jemand grob von der Seite an und versetzt uns einen Fußtritt - mit der bloßen Begründung, seine Gefühle seien verletzt, wenn wir so offen unsere Liebe zeigen. Schließlich droht er uns auch noch einen Faustschlag zu versetzen. Was ist zu tun? Vielleicht die Polizei zu Hilfe rufen? 

Gnade für Agression

Ähnliches passierte tatsächlich am 8. November 2020 in Riga. Allerdings: es waren in diesem Fall zwei Männer, die sich "Händchen haltend" und in inniger Umarmung in der Öffentlichkeit zeigten. Die herbeigerufene Polizei befragte den Angreifer auch nach den Gründen für sein Tun; dieser erklärte offen, er habe durch das Verhalten der beiden Männer auf deren sexuelle Orientierung geschlossen und sich durch deren offene Zurschaustellung beleidigt gefühlt.
Er gab sogar zu, die beiden Männer böse beschimpft und körperlich angegangen zu haben, so dass sich der Bedrängte in einen Blumenladen flüchten und die Eingangtür von innen zuhalten musste. - Sechs Monate später stellte die lettische Polizei die Untersuchungen ein und stufte das Vergehen lediglich als Ordnungswidrigkeit ein, verbunden mit einer Geldstrafe von 70 Euro (lsm). Der Beschuldigte akzeptierte das Strafmaß. (siehe: Urteil Europäischer Gerichtshof)

Kein Versteckspiel

Der Angegriffene legte gegen diese Entscheidung Beschwerde bei der zuständigen Staatsanwaltschaft ein und verlangte eine Verurteilung gemäß Abschnitt 150 des lettischen Strafgesetzbuchs. Dort ist festgelegt, dass schüren von Hass oder Feindschaft aufgrund des Geschlechts, des Alters, einer Behinderung oder anderer Merkmale einer Person strafbar ist. Interessant ist nun die Begründung der lettischen Staatsanwaltschaft: diese Paragraphen könnten nicht zur Anwendung kommen, da sich ja die Taten des Angeklagten nur gegen eine bestimmte Person gerichtet habe - auch der Partner war anwesend, wurde aber nicht attaktiert. Weitere Personen seien ja nicht dabei gewesen, daher sei der Vorgang auch nicht als allgemeiner Hass gegen sexuelle Minderheiten zu bewerten gewesen.

Nun ja - sei es, wie es sei. In diesem Fall war der Leidtragende kein Unbekannter: es ist Deniss Hanovs, seines Zeichens Kulturwissenschaftler und Professor an der Kunstakademie Lettlands in Riga (RSU).  Wissenschaftlich erfahren, und kundig im Bereich der Menschenrechte. Logisch, dass er sich keineswegs mit plumpen Entschuldigungen zufrieden geben wollte.

Am 18.Juli 2024 fand der Streitfall seine Entscheidung vor dem Europäischen Gerichtshof, denn Hanovs bestand darauf, dass der lettische Staat angemessenen Schutz vor homophoben Angriffen gewähren muss - auch, indem eine wirksame Strafverfolgung von Tätern sichergestellt wird. Der Gerichtshof verurteilte den Staat Lettland zu einer Zahlung von 10.000 Euro an Hanovs - den Betrag will er einem Kinderkrankenhaus in Kiew (Ukraine) spenden (lsm)

7. Juli 2024

Den Hut nehmen

In Lettland Medizin zu studieren - auch für Deutsche eine schon länger bekannte Option. Interessierte werden vorab mit deutschsprachigen Informationen zum Studium an der "Rīgas Stradiņa universitāte" (RSU) und ausführlichen deutschsprachigen Webseiten versorgt. "Bildungsflucht ins Baltikum" nannte es der "Spiegel" schon vor einigen Jahren. 

Deutsche Flüchtlinge

"Studimed" zitiert den Stand von 2023:  2.900 internationale-Studierende aus 65 verschiedenen Ländern (28% der gesamten Studentenschaft), davon 2.500 im Bereich Medizin. Laut Webseite der RSU sind es gegenwärtig (Juli 2024) 10.467 Studierende, davon 2.501 internationale (also 23,9%).  Die Universitäten von Berlin, Münster, Lübeck, Dresden, Würzburg, Halle, Gießen und Köln unterhalten partnerschaftliche Kontakte zur RSU. 

Studierende erwartet eine sechsjährige akademische Ausbildung (12 Semester) mit einem Abschluss als „Medical Doctor“ (MD). Dieser "Doktorhut" wird jedoch nur selten im Land der Ausbildung, also in Lettland genutzt. Lettische Medien nahmen die Ausgabe von 166 Abschlussdiplomen am 5. Juli zum Anlass, mal aus lettischer Sicht Bilanz zu ziehen: "Die meisten ausländischen Medizinstudenten der RSU verlassen Lettland nach ihrem Studium" (lsm). 

Keiner - oder einer

Letztes Jahr blieb niemand in Lettland, dieses Jahr weiß ich von einem deutschen Student der in Lettland bleiben will - das ist doch schon mal ein Fortschritt“, meint Rektor Aigars Pētersons. Das lettische Gesundheitssystem könne eben nicht mit Systemen so wie in Deutschland oder Schweden konkurrieren.

Manche der Absolventinnen und Absolventen planen auch, nach sechs Jahren Studium erst einmal eine Pause einzulegen, berichtet LSM. Aber fast alle verbinden ihre Zukunftspläne mit einem anderen Land als Lettland. Eine Absolventin aus Finnland begründet ihre Pläne so: „Ich denke, ich werde Lettland zumindest noch einmal besuchen. Aber ich spreche weder Lettisch noch Russisch so gut, deshalb könnte ich hier nicht arbeiten.“ Auch eine Kollegin aus Norwegen begründet es ähnlich: "Der Hauptgrund ist die Sprachbarriere, das ist ein großes Problem. Und die wirtschaftlichen Bedingungen- aber der Rest wäre in Ordnung." Außerdem habe auch das Land Norwegen die Kosten des Studiums übernommen - also sei auch die Rückkehr eine logische Konsequenz. Und Hanna, eine Doktorantin aus Schweden, beschreibt die Situation so: "Es ist ziemlich schlimm, die Leute müssen in Lettland auch in Restaurants arbeiten und zwei oder drei Jobs haben, um sich die Miete und solche Dinge leisten zu können. Ich denke, das ist ein wichtiger Grund, warum die Leute nicht bleiben.“ 

Mehr Lächeln, weniger online

Von Anne Schönell kommt noch ein schöner Vergleich mit der Universität Ulm: dort fänden alle Vorlesungen in Präsenz statt, während in Riga alles auch online aufgezeichnet zur Verfügung stehe.(thieme)

Eine detaillierte Meinungsäußerung, abseits aller anderen Gründe nicht in Lettland zu bleiben, ist von Luisa Krahnen aus Leupzig zu lesen (bewerbungsrenner.de). In Lettland werde wenig gelächelt, der Unterricht sei "ein wenig verschult". Und, als Antwort auf die Frage nach Englisch als Unterrichtssprache: "Ich habe mein Abi in Kanada gemacht, insofern war mir das ganz lieb. Ich hatte mich auf ein internationales Umfeld gefreut, aber wir waren fast nur Deutsche, das fand ich traurig." Die Studiengänge der Letten und Deutschen seien strikt getrennt, in soforn sei unter den Deutschen auch die Motivation zum Lettischlernen nicht sehr hoch. 

3. Juli 2024

Reiseabenteuer - Zug für Zug

Für ältere Westdeutsche mag es vielleicht langweilig klingen - oder sogar wie ein Rückblick auf die 1970iger oder 1980iger Jahre. Zitat Wikipedia: Es entstand im Kontext einer Zeit, "in der die klassischen Familien- und Pauschalreisen, die sich in Europa während der 1950er und 1960er Jahre etabliert hatten, von jungen Menschen der 68er-Bewegung in Frage gestellt wurden ..."
1972 kam eine gemeinsame Fahrkarte verschiedener europäischer Eisenbahngesellschaften in den Verkauf.  Begründung, ebenfalls bei Wikipedia abgeschaut: um dem aufkommenden Rucksacktourismus von jungen Leuten bis 21 Jahre eine preisgünstige Möglichkeit bieten, Europa kennenzulernen. Vielleicht auch, um die vielen "Tramper" ("Anhalter") am Straßenrand nicht ohne Alternative zu lassen. 

In der Verlosung

Na klar, es geht um "Interrail". Anfangs waren sogar DDR und Polen dabei - die stiegen aber schon 1973 wieder aus. Inzwischen ist das Ticket nicht mehr ganz so preisgünstig wie damals - aber immerhin werden derzeit jedes Jahr Tausende Interrail-Pässe an 18-Jährige verlost (siehe: DiscoverEU). Der aktuellen Auswertung zufolge (siehe "factsheet") liegen bei der Zahl der jungen Antragsteller/innen die Länder Deutschland, Italien und Spanien weit vorn; viele Bewerbungen gibt es auch aus der Türkei, Frankreich, Polen, Schweden und den Niederlanden. Aus Lettland gab es 2024 nur 925 Antragsteller/innen, 152 davon hatten Erfolg. (Litauen 1229 / 224, Estland 446 / 107). 

Familienunternehmen

Kennt man in Lettland etwa nur die "Billigflieger"? Wohin könnte man denn mit einem Zug, der in Lettland mit relativ geringem Durchschnittstempo dahintuckert, reisen? Lettland ist erst seit 2020 dem Interrail-System angeschlossen - also für die Einwohner/innen des Landes ein ziemlich neues Angebot. (LA)
In der lettischen Zeitschrift "IR" findet sich nun ein Erlebnisbericht einer Familie Bergmani wieder, die drei Wochen Reisen mit "Interrail" als "Abenteuer fürs Leben" bezeichnet. "Ein wenig habe ich mich an die Träume meiner Jugend erinnert", gibt Frau Bergmane zu. Auch die beiden Töchter der Familie, 11 und 8 Jahre alt, seien sofort begeistert gewesen. Und Herr Bergmanis meint: "Ich dachte: wenn wir das überleben, wird unsere Ehe nichts mehr erschüttern können!"

Die Preise für Interrail-Pässe fielen günstig aus - denn für Kinder unter 12 Jahren sind sie kostenlos. Entschieden habe man sich dann für eine Monatskarte, die sieben Reisetage beinhaltet. Und innerhalb drei Wochen ist die Familie dann in Polen, Ungarn, Kroatien, Slowenien, Österreich, Schweiz, Deutschland und Lettland gewesen. Ewas Übung habe die Planung der Übernachtungen verlangt: Zimmer nur mit kurzfristiger Stornierungsmöglichkeit vorbestellen, und darauf achten, dass der Direktontakt zum Hotel manchmal besser ist als sich nur auf große Buchungsportale zu verlassen. Und natürlich: nicht so viel Gepäck mitnehmen, denn zwischendurch muss immer mal wieder mit Gepäck zu Fuß gegangen werden. Das wichtigste also: bequeme Schuhe! 

Planung mit Adrenalingehalt

Soweit lesen sich diese Erfahrungen vielleicht ähnlich wie Reiseberichte von Deutschen. Für eine lettische Familie mag es aber neu sein, wenn es hier über das Zugfahren heißt: "Im Allgemeinen macht Zugreisen Spaß. Man kann nie ganz sicher sein, ob man pünktlich oder überhaupt ankommt. An manchen Stellen kann man gar nicht wissen, ob man auf dem richtigen Bahnsteig steht, denn die Informationen werden meist in einer uns fremden Sprache verkündet." In Kroatien habe es überhaupt keine Lautsprecherdurchsagen gegeben, und auch der Versuch mit "Google Maps" den Aufenthaltort herauszufinden, sei gescheitert. 

Den richtigen Bahnsteig finden

Für die beiden Töchter sei es eine gute "Lebensschule" gewesen. Gefragt seien Anpassungsfähigkeit, Kreativität und logisches Denken. Den richtigen Bahnsteig finden - auch schon mal eine Übung für die Kinder. "Ich war überrascht, dass es in jedem Land nicht nur unterschiedliche Kulturen, sondern auch eine völlig andere Infrastruktur für die Bahn gibt," meint Frau Bergmane. "Ich dachte vorher: Züge sind Züge, überall gleich. Aber ich kann nur raten, die Zuginfrastruktur jedes Landes zu studieren und in den Foren Rezensionen über die Züge, die Genauigkeit ihrer Abfahrtszeiten und andere Nuancen zu lesen." 

Deutsche Leser/innen werden vielleicht gespannt darauf warten, was eine lettische Familie über Bahnfahren in Deutschland sagt. "Wer nicht mit dem Kopf auf dem eigenen Rucksack auf dem Bahnsteig schlafen möchte, sollte Länder auswählen, die für bequeme Züge und Pünktlichkeit bekannt sind", meint Frau Bergmane. Als bestes Beispiel dafür nennt sie ... die Schweiz. "Die Züge kommen und fahren so präzise, ​​dass man die Uhr danach ausrichten kann." (IR)