Nicht alle, die zu Sowjetzeiten mit neuen Produktideen die lettischen Verbraucher überzeugen wollten, haben es damit bis in die heutigen Zeiten geschafft; die "langen Chips" aus lettischer Produktion ("longchips", lettisch "plāksnes") sind aber ein Beispiel genau dafür. In der Kolchose "Padomu Latviju" (Sowjet-Lettland) fing es 1986 an. Bis auf eine weitere Fabrik in Weißrussland war der lettische Betrieb damals der einzige seiner Art in der Sowjetunion, der etwas wie die in deutschen Landen allseits präsenten "Chips" produzierte - er hat überlebt, mit einigen Wandlungen zwischendurch.
1990 wurde die Kolchose zunächst in eine Aktiengesellschaft überführt, um dann den Privatisierungprozess zu durchlaufen. Laimonis Radziņš, heute geschäftsführender Vorsitzender, wurde damals von den Arbeitern zum Betriebsleiter auserkoren. "Zunächst wurden wir von billigen Importartikeln überschwemmt," erzählt Laimonis der Zeitschrift "IR" in einem Interview, "alle wollten auch diese bunte Verpackungen haben, unsere Pappkartons beachtete keiner mehr. Um zu überleben, haben wir eine Zeitlang zusätzlich auch Brot gebacken - das brauchte auch damals jeder." So erklärt sich auch der erste Name des 1992 frisch privatisierten Unternehmens: "Beķeris" - der Bäcker. Neben dem Brotbacken behielt man auch die Chips-Herstellung bei. "Wir haben das solange gemacht, bis die Skandinavier auf dem Brotmarkt auftauchten," erzählt Radziņš. "Diese fluffigen, luftigen Brote hatte bis dahin bei uns niemand je gesehen - und unsere Klötze wollte dann niemand mehr haben."
Aus der damaligen Situation entstand ein Tausch mit einem belorussischen Partner: der Brotbackautomat wurde dort dringend gebraucht, und die Letten erhielten dafür eine Anlage mit der es möglich war, quadratische Chips herzustellen. Und siehe da: die Produkte kamen derart gut an, dass die Ausgangsmaterialien knapp wurden. Chips können ja auf unterschiedliche Art und Weise hergestellt werden: aus Kartoffelscheiben, denen die Stärke entzogen wird, und die dann in Öl erhitzt werden, danach kommen Gewürze dazu. Oder aus geriebenen und danach getrockneten Kartoffeln, die mit Wasser zu einer formbaren Masse gebracht werden, die dann wiederum in Öl gebraten und danach gewürzt werden. Die lettischen Hersteller von "Pērnes L", wie die Firma inzwischen heißt, machen es anders. Zwar ist Ausgangsmaterial auch eine Kartoffelmasse, aber die dünnen Plättchen durchlaufen direkt einen Ofen und werden dort in nur 10 Sekunden gebacken und dann mit Gewürzen bestreut. Es bleibt ein intensiver Geschmack - aber keine fettigen Finger nach dem Verzehr.
Ein echtes Ost-Produkt also, könnte man sagen; anfangs "belo-lettisch" erdacht. Für die Verpackung wurde ein Lieferant aus Italien gefunden. Von einigen der Kartoffellieferanten musste man sich trennen, nachdem herauskam, dass diese aus Mangel an genügend Kartoffeln einfach Stärke hinzugefügt hatten - bis die Kunden anriefen und erzählten, die Chipse seien nun hart wie Stein. Diese Waren musste vernichtet werden, inklusive der schönen italienischen Verpackung. "Ein Feuerchen, dass uns 25.000 Dollar gekostet hat", erinnert sich der Firmenchef heute.
Die Firma hat es überlebt, und legte dann mehr den Schwerpunkt auf die Entwicklung eines eigenen Labels, um die Wiedererkennung beim Verbraucher zu stärken. Gleichzeitig wurde begonnen Essig herzustellen, was die Firma auch heute noch macht. Seit dem Eintritt Lettlands in die EU wird auch in die USA, die Niederlande, nach Deutschland und in die Niederlande exportiert - und aus den Niederlanden kommen heute auch die Kartoffelflocken, mit denen produziert wird. Aus patriotisch-lettischer Sicht sicherlich nicht ideal - denn es könnte ja die Annahme bestehen, eine Firma mit Kartoffeln als Produktionsgrundlage müsse ja die lettische landwirtschaftliche Tradition nutzen können. Überlebensgrundlage dagegen war immer größtmögliche Flexibilität; neuestes Produkt ist jetzt auch Majonaise.
2005 kam dann die erste Teilnahme an einer Verbrauchermesse in Köln. Mit überraschendem Resultat: es gab Besucher, die voller Begeisterung erzählten auf der ganzen Messe nichts interessanteres gesehen und probiert zu haben. Voller Hoffnung kehrte man mit einem Stapel Visitenkarten nach Lettland zurück und wartete gespannt auf Bestellungen - doch dergleichen folgte nichts. Aber neben dem eigenen Selbstbewußtsein wuchs auch die Erkenntnis, mit den bisherigen Produktionsanlagen längerfristig auf dem Markt nicht bestehen zu können. 2009 schrieb man die ersten Anträge auf Mittel aus dem EU-Strukturfonds, inzwischen sind es schon sechs ähnliche Projekte. Es gibt neue Produktionsanlagen und eine Lagerhalle von 5000 m2. Die neuen Automaten zur Herstellung der Chips sind speziell auf die Produkte von "Pērnes L" abgestimmt - allerdings können Kunden auch Chipspackungen mit nach eigenen Entwürfen bedruckten Packungen bestellen. "Die längsten Chips der Welt" ist inzwischen der Slogan, oder, offiziell: "PERNES LONG Potato chips". Ein Produkt, in dessen Herstellung inzwischen insgesamt 10 Millionen Euro investiert wurde, mit dem Resultat, dass es inzwischen in 20 verschiedene Länder der Welt exportiert wird, darunter Südkorea, Japan, Hongkong, China, Südafrika, Kuweit und Katar. Der Umsatz liegt gegenwärtig bei 4,5 Millionen Euro (Angaben laut "IR" vom 23.3.2016), 70% davon kommt aus dem Export. Auf die "Longchips" wurde inzwischen Patent angemeldet, und so braucht man sich inzwischen nicht mehr zu verstecken hinter großen internationalen Marken wie "Lay's" oder "Estrella".Auch in den Regalen der Supermarktkette "Tesco" werden sich bald die Longchips finden.
Doch der englischsprachige Markenname scheint auch dazu zu führen, dass nicht jeder Verbraucher auf dem internationalen Markt es als "lettisches Produkt" noch identifiziert. Eine kluge Strategie? "Das hier war in unserem Supermarkt im Angebot," erzählt ein schwedischer Livestile-Blogger per Youtube seinen 'Followern', "etwas später habe ich es auch in Estland gesehen." Er dreht und wendet die Verpackung auf der Suche nach dem Hersteller - ohne Erfolg. "Hier steht eine Internetadresse auf der Verpackung, da müsste man mal nachsehen im Internet," meint er schließlich. "Vielleicht Estland, Lettland - jedenfalls irgendwo da im Osten." Finnische, auch eine türkische Testesserin gibt es auf Youtube, sogar selbstgemachte Dipps werden dort empfohlen. Ein Mensch namens "Higgins", englischsprachiger Snackliebhaber, testet auf seinem Kanal "Japanisches" - und findet ... Longchips. Logischerweise finden sich auch japanische Fans problemlos im Netz.
Also: in Westeuropa noch verkannt, während der Rest der Welt längst lange dünne Plättchen knabbert? "Wir sind noch nicht am Ende unserer Produktionskapazität angelangt," betont Firmenleiter Radziņš im Interview ("IR"). Sobald es neue Bestellungen gäbe, könne man sofort liefern. "Eines will ja niemand: auf lange Chips lange warten."
30. Juni 2016
14. Juni 2016
Kir-banal
Eigentlich begann mein Test lettischen Essens in Berlin ganz vielversprechend: „Sind Sie das erste Mal hier?“ nur wenige Schritte hinter der Eingangstür des „Kirsons“ im Einkaufszentrum „Alexa“ in Berlin empfing mich eine freundliche ältere Dame mit dieser Frage. „Hier in Berlin ja, aber in Riga war ich schon oft im Lido“ - ja, ich musste wohl so antworten. Denn es war ja klar: ich wollte nicht einfach „irgendwo essen“, sondern bisher gibt es in ganz Deutschland kein einziges gut erreichbares Restaurant, wo man zuverlässig wenigstens einige der aus Lettland bekannten leckeren Gerichte ordern kann. Ein paar Minuten blieben mir zum Umschauen, denn meine Antwort wurde zunächst Gesprächsthema der Angestellten untereinander. Dann wieder ich, so mutig wie möglich: „Und was gibt’s hier an lettischem Essen?“
Die vermeintlich einfache Frage erzeugte verschämte Zurückhaltung. Nun, was fällt mir beim Stichwort „lettisches Essen“ ein? Vielleicht Pirāgi, Maizes zupa, oder Rosols? Gegrillte Stilbiņi, meža cūka, nēģi? Nichts davon bietet Kirsons. Hm. Zumindest auf den ersten Blick. Dann entdecke ich Pfannkuchen, in typisch lettischer Art und Weise. Aber mit Käse gefüllt, wie hier angepriesen? Zum Glück gibts auch eine Version mit Quark. Erdbeersoße dazu – na gut, nehmen wir das mal für lettisch. Dazu ein Tellerchen Möhrensalat – nach Art, wie ich es so viele Male in lettischen Ēdnīcas gesehen und gegessen habe. Ein Möhrentag für mich – auch im später ausgewählten Kuchenstück gibt es Wurzeln (der Kaffee: italienisch).
Eigentlich stehen hier mehr Tische draußen als drinnen – aber draußen, nur wenige Schritte entfernt, gibt es eine Eis- und eine Bratwurstbude. Werden sich die Deutschen davon weg, und hinein ins “Kirsons” locken lassen? Ich zweifle. Na gut, es ist 16 Uhr, keine typische Mittagszeit, was die allgemeine Leere erklären könnte. Die Tische selbst scheinen schon etliche Jahre im Einsatz gewesen sein: etliche der aufgemalten, vermeintlichen volkstümlichen Muster sind bereits stark abgeblättert und verblasst, ein Teil der Stühle wirkt wie aus einem alten Bistro zugekauft. Was denn, Herr Kirsons, nicht genug Geld gehabt für die Investition? Doch zurück zum Essen: der Pfannkuchen ist hervorragend. Oder bin ich parteiisch, da es mir hier einfach “wie in Lettland” schmecken soll? Der Möhrensalat ist eine Überraschung: statt saftig-fruchtig, wie aus Lettland gewohnt, kommt er hier mit Sonnenblumenkernen und jeder Menge Knoblauch daher. Der Möhrenkuchen dagegen gibt schon eine Ahnung davon, wie Gebäck auf der Grundlage guten lettischen Brotes schmecken könnte – nur das kleine Mörchen oben drauf, als Verzierung gedacht, scheint schon drei Tage vor dem Kuchen zubereitet worden zu sein (bretthart).
Nun ja, es gibt ja zwei Chancen in Berlin. Nie hätte ich es mir vor Jahren träumen lassen, dass ich einmal angesichts des Straßenschilds “Rudi-Dutschke-Straße” lettisch essen würde; der zweite “Kirsons” entpuppt sich als wesentlich geräumiger, ruhiger, und sorgfältiger eingerichtet (während ich esse, schraubt ein Angestellter auf leisen Sohlen noch schnell einen Kleiderhaken in meiner Nähe in die Wand). Nächste Überraschung: es empfängt mich dieselbe Dame wie in Filiale Nr. 1. Offenbar Schichtwechsel, und ein vertrauter Moment, in dem ich es wage, leise Anregungen zur Verbesserung anzubringen: bereits zwei Wochen sind seit der Eröffnung vergangen, immer noch scheint niemand der Schreibfehler auf dem Werbeflyer für das “Angebot des Tages” aufgefallen zu sein. “Du nicht sprechen Deutsch?” Lettische Variante.
Nein, man bemüht sich wirklich. Sorgfältig wird mir erklärt, welche der Zutaten aus Lettland importiert werden (die Sahne!). Und: ich entdecke doch noch etwas mehr aus Lettland bekanntes: geräuchertes Huhn, lettisches Sauerkraut. Die “baltische” Wurst dagegen lasse ich liegen, das lettische Bier ist – obwohl auf der Karte – noch nicht im Angebot. Ein leckerer Limonen-Pfefferminz-Drink ersetzt es vorerst, vorzüglich. Das Huhn schmeckt ebenfalls excellent. Beim Sauerkraut, vermute ich, ist wohl der Kümmel entfernt worden – na ja, auch ich kenne einige Leute, die keinen Kümmel mögen; Angst vor dem Massengeschmack.
Gesättigt verlasse ich das Lokal, und ernte überraschend viel Interesse, als ich Bekannte, allesamt Berliner, am nächsten Tag “lettisch” einladen will. Allerdings: wir haben nicht damit gerechnet, dass “Kirsons” vorerst am Wochenende schon um 18 Uhr schließt – ob das mit Ankunft des Bierausschanks dann anders werden wird? Bei uns wird dann - im zweiten Anlauf - ein Sonntags-mittäglicher Ausflug daraus. Mit allerseits zufriedenen Gesichtern. Lettische Backkartoffeln, das bereits vorgetestete Hühnchen, und Moosbeerensaft tun das ihre dazu, auch der Kuchen erntet Anerkennung.
Es wird sich herausstellen müssen, ob das Konzept "Kir-Banal" (lieber nicht zu viel Lettisches, erstmal deutsche Durchschnittsesser anlocken) aufgeht. Die Locations sind beide exklusiv, die externen Zuschüsse für den Betrieb werden bald aufgebraucht sein. Ich bin gespannt auf weitere "Speise-Eindrücke".
Eigentlich stehen hier mehr Tische draußen als drinnen – aber draußen, nur wenige Schritte entfernt, gibt es eine Eis- und eine Bratwurstbude. Werden sich die Deutschen davon weg, und hinein ins “Kirsons” locken lassen? Ich zweifle. Na gut, es ist 16 Uhr, keine typische Mittagszeit, was die allgemeine Leere erklären könnte. Die Tische selbst scheinen schon etliche Jahre im Einsatz gewesen sein: etliche der aufgemalten, vermeintlichen volkstümlichen Muster sind bereits stark abgeblättert und verblasst, ein Teil der Stühle wirkt wie aus einem alten Bistro zugekauft. Was denn, Herr Kirsons, nicht genug Geld gehabt für die Investition? Doch zurück zum Essen: der Pfannkuchen ist hervorragend. Oder bin ich parteiisch, da es mir hier einfach “wie in Lettland” schmecken soll? Der Möhrensalat ist eine Überraschung: statt saftig-fruchtig, wie aus Lettland gewohnt, kommt er hier mit Sonnenblumenkernen und jeder Menge Knoblauch daher. Der Möhrenkuchen dagegen gibt schon eine Ahnung davon, wie Gebäck auf der Grundlage guten lettischen Brotes schmecken könnte – nur das kleine Mörchen oben drauf, als Verzierung gedacht, scheint schon drei Tage vor dem Kuchen zubereitet worden zu sein (bretthart).
Neu im Straßenbild Berlins: hinter dem blau-gelben Schild beginnt die Spurensuche nach Lettischem ... |
Lettisches Interior á la "Kirsons" |
Gesättigt verlasse ich das Lokal, und ernte überraschend viel Interesse, als ich Bekannte, allesamt Berliner, am nächsten Tag “lettisch” einladen will. Allerdings: wir haben nicht damit gerechnet, dass “Kirsons” vorerst am Wochenende schon um 18 Uhr schließt – ob das mit Ankunft des Bierausschanks dann anders werden wird? Bei uns wird dann - im zweiten Anlauf - ein Sonntags-mittäglicher Ausflug daraus. Mit allerseits zufriedenen Gesichtern. Lettische Backkartoffeln, das bereits vorgetestete Hühnchen, und Moosbeerensaft tun das ihre dazu, auch der Kuchen erntet Anerkennung.
Es wird sich herausstellen müssen, ob das Konzept "Kir-Banal" (lieber nicht zu viel Lettisches, erstmal deutsche Durchschnittsesser anlocken) aufgeht. Die Locations sind beide exklusiv, die externen Zuschüsse für den Betrieb werden bald aufgebraucht sein. Ich bin gespannt auf weitere "Speise-Eindrücke".
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