29. Juli 2021

Rekorde die nicht alle mögen

Lettland staunt über Deutschland: wie kann in einem so scheinbar gut organisierten, strukturiertem, geordneten, und wohlhabenden Land plötzlich die Flut hereinbrechen und alles ins Chaos stürzen? Und der zweite Gedanke ist vielleicht: es ist ein sehr ungewöhnliches Gefühhl, dass im zentralen Europa dauerhaft Starkregen und Gewitterluft das Regime übernehmen, während im nördlichen Lettland, immerhin auf demselben Breitengrad gelegen wie Aberdeen oder das Loch Ness in Schottland, wochenlange Hitze und Dürre herrschen. 

Nun ja, einige Lettinnen und Letten werden es als willkommenen Ausgleich für die gewöhnlich langen und zumindest dunklen Winter begrüßen. Aber wer die Zahlen und Fakten zusammenstellt, kann selbst urteilen. Der Juni 2021 war der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in Lettland (seit 1924). Die mittlere Lufttemperatur lag bei 18,9 Grad, das sind ganze 4,1Grad mehr als das der den Jahren 1981 bis 2020 gemessene Durchschnitt (lsm).

Der heißeste Tag war dabei der 21. Juni - ungewöhnlich, denn um Mitsommer herum ist regnerisches Wetter sonst schon fast legendär. Dieses Jahr meldeten Daugavgrīvā und Pāvilosta Temperaturen von +33,7 Grad. Dabei sank die Temperatur auch in der Nacht zum 21. Juni in Daugavgrīvā auf nicht unter +23,7 Grad - solche eine warme Nacht gab es vorher in Lettland nur zweimal 2012 und 1931. 

Vereinzelt gab es auch Gewitter und Hagelschlag, aber besonders Kurland erlebte im Juni 41 Liter pro Quadratmeter nur 44% der normalen Niederschlagsmenge. (lsm)

Auch im Juli scheint die heiße Sommerzeit in Lettland vorerst nicht zu enden. Bis zum 20. Juli waren in Riga bereits 18 Nächte zu verzeichnen, in denen die Temperatur nicht unter 20 Grad absank. Weitere Daten: Latvijas Vides, ģeoloģijas un meteoroloģijas centra LVĢMC (Lettisches Zentrum für Umwelt, Geologie und Meteorologie)

5. Juli 2021

Kioskgeburtstag

Winter 1997 - Alltag im Kioskbetrieb

Am 7. Juli 1927, also vor 94 Jahren, wurde in Riga ein kleines Bauwerk eröffnet, das als Symbol des "Art Deco" galt und das immer noch das Stadtbild ziert. Architekt war Aleksandrs Birzenieks, ein echter Rigenser, der 1893 geboren wurde und 1980 in seiner Heimatstadt starb. Birnenieks war unter anderem seit 1931 auch am Bau der Bühnen für das Lettische Sängerfest beteiligt, das damals noch auf dem Platz der Esplanade stattfand. Gemeint ist in diesem Fall nur ein Kiosk - aber der Bau soll immerhin 4000 Lat gekostet haben.

Sechs Jahre nach dem Bau ging der ganz aus Holz gebaute Kiosk, der anfangs grün gestrichen gewesen sein soll, in städtischen Besitz über. Der obere Teil war schon immer für Firmenreklame vorgesehen (LA). Nun wurde inzwischen das Gebäude für 3600 Lat jährlich vermietet. 

aus der reichhaltigen historischen
Fotosammlung von Gunārs Armans

Der Kiosk an der Ecke Krišjāņa Barona iela / Aspazijas bulvāris überlebte Krieg und Nachkriegszeit. Bis dann Mitte der 1980iger Jahre, als in Riga viele alte Holzgebäude abgerissen wurden, der Kiosk als in schlechtem technischen Zustand befindlich erklärt - und tatsächlich abgerissen wurde. 

Aber bald darauf wurde dieser Abriss als großer Fehler eingesehen - und der Kiosk erstand neu, nun mit einer Eisenkonstruktion als Grundlage. Den neuen Standort hatte der Architekt Jānis Lejnieks vorgeschlagen, Autor auch von "Das Riga das es nie gegeben hat". - Der Kiosk steht nun so, dass er den Fußgängerstrom weniger behindert - gerade diesen Umstand sieht allerdings der inzwischen pensionierte städtische Denkmalschützer Gunārs Armans als Grund für die gegenwärtigen Schwierigkeiten an. Hier einen Kiosk zu betreiben sei eben schwierig, denn hier in der Straßenmitte hasten tagtäglich die Menschen von einer Straßenseite zur anderen, um möglichst die Ampelphase bei Grün einzuhalten (delfi.lv).

Es ist also eine kleine Sehenswürdigkeit, an der viele in Riga hastig vorbeilaufen. Bis dann eine junge lettische Studentin namens Anete Melece an der Hochschule für Design und Kunst im schweizerischen Luzern sich genau diesen Kiosk als Objekt und Thema für einen Animationsfilm aussuchte - und dieser gleich mal als "bester Schweizer Trickfilm 2014" prämiert wurde. Die Geschichte von Olga, der Kioskverkäuferin, die mitten zwischen den bunten Journalen eigene Träume entwickelt und auf überraschende Weise verwirklicht, brachte auch den Atlantis-Verlag dazu, daraus ein Kinderbuch zu machen, das 2019 in deutscher, inzwischen aber auch in englischer, lettischer und sogar französischer Fassung erschienen ist, und auch beim "Deutschlandfunk" bereits eine besondere Erwähnung fand. "Formidable!" jubelt letemps.ch, und die "New York Times" meint, das Buch erteile eine Lektion: stoppt die allzu perfekten Planungen, lasst die Dinge einfach passieren. Anete Meleces Zeichnungen werden hier sogar mit Bildern von Matisse verglichen.

Nun hatte also die Kiosk-Geschichte bereits den gesamten Bereich verschiedener großer Sprachen der Welt erobert, plus die Youtube-Nerds. Anete Melece wurde für den Astrid-Lindgren-Memorial-Award nominiert. Aber damit nicht genug: das jüngste Auftragswerk der Deutschen Oper am Rhein heißt ebenfalls "Der Kiosk". Diana Syrse hat komponiert und Andrea Heuser schrieb das Libretto - mit dem gleichnamigen Kinderbuch als Vorbild (Youtube).

Nur den Kiosk aus Riga erkennen wir hier leider nicht wieder! Im Rahmen des Kulturinselfestivals in Düsseldorf erlebte das Stück am 26. Juni seine Premiere im Innenhof des Düsseldorfer Rathauses (siehe auch: Kulturbulletin d. Botschaft Lettlands). Hier kommt "multikultureller Einfluss" voll zum tragen: mit einer aus Mexiko stammenden Komponistin, inszeniert von einer Italienerin, ausgestattet mit Kostümen einer Deutschtürkin, und einer Produktionsleiterin aus dem karnevalistischen Aachen.

Olga, liebe Olga, warum sieht dein
Kiosk nun wie eine große Sahnetorte
in Kitschirgistan aus?

Das Ergebnis wirkt zumindest so, als ob alle diese Beteiligten die Freiheit hatten, an die Phantasie und Vorstellungskraft von Anete Melece anzuknüpfen - aber vielleicht noch nie in Riga waren. Nun ja, das mag ja die Unterhaltungsqualität einer Kinderoper nicht beeinflussen. Ein wenig wirkt es so, als ob der Rigaer Kiosk (der dieser Tage "Geburtstag" hat, wie gesagt), nun auf einer Ebene wie viele andere Stadtführerlegenden in Riga angekommen ist. Wie etwa die Geschichte vom "Katzenhaus", wie ein lettischer Kaufmann angeblich die Tierfigur mit dem Hinterteil zum .... usw., wir meinen den Rest zu kennen - es gibt aber keine exakten Quellen. 

Wundern Sie sich also nicht, wenn bei einem Rundgang in Riga demnächst Ihr Reiseleiter sagt (so ungefähr): "Und hier rechts sehen Sie den berühmten Kiosk, in dem Olga ihre Weltreise angetreten hat, und von der noch die Kinder in Düsseldorf lernten, was eine Oper ist."

Ob wenigstens der reale Kiosk heute das Buch von Anete Melece im Angebot hat? Fragen Sie doch mal nach!  

Noch mehr "baltische Kiosk-Vielfalt" gibt hier