23. Juni 2009

Līgo, Līgo...

...hört man heute überall in Lettland singen. Insgesamt fünf Tage haben die Letten für die Mittsommernachtsfeier – Jāņi (Johannistag) – dieses Jahr frei. Und heute Abend ist der Höhepunkt –ganz Lettland vereinigt sich im gemeinsamen Fest der Sommersonnenwende.

Der heutige Tag, der 23. Juni, ist der Līgo-Tag: es werden drei Mal sieben verschiedene Blumen gesammelt, Blumenkränze gebunden, Jāņi-käse und andere Leckereien zubereitet und natürlich auch Līgo-Lieder für den Abend am Lagerfeuer geübt. Es gibt im Lettischen sogar ein Verb līgot, was das Singen von Līgo-Liedern (Johannisliedern) bezeichnet.

Diese Lieder zeichnen sich dadurch aus, dass der Refrain „līgo, līgo“ immer wieder wiederholt wird. Es wird über die Sonne, über die Natur und über die Johannistagsbräuche gesungen. Typisch für die Līgo-Lieder ist auch das gegenseitige Besingen mit Neck- und Spottliedern.

Das Verb līgot hat auch eine zweite Bedeutung – schaukeln, sich schaukeln, schwanken. Im übertragenen Sinne vereinigen sich die Menschen in der Jāņi-Nacht mit der schaukelnden Natur – mit Bäumen, Gräsern und Getreidefeldern.

Mittsommer in Lettland

Līgo-Lieder am 23.06

18. Juni 2009

Neues Gesicht für den Bürgermeisterthron

Momentan ist es schwer zu entscheiden, welche politischen Schlagzeilen in Lettland das größere Aufsehen erregen: die brutalen Kürzungen im Haushalt, die durch die nationalkonservative Regierung momentan tagtäglich verkündet werden (Sparen oder Untergehen?), oder die Ankündigung eines neuen Führungstandems im Stadtrat von Riga.
Nur noch vier Parteien im Stadtrat vertreten zu haben, ist für lettische Verhältnisse sehr ungewöhnlich. Dass aber nun ein Kandidat für die Wahl eines neuen Bürgermeisters von Riga vorgesehen ist (die Wahl ist für den 1.Juli termininiert), der vor wenigen Tagen gerade mal seinen 33.Geburts- tag feiern konnte, ist mindestens genauso über- raschend. Zwar sind schnelle Karrieren ja in der nach 1991 total umgekrempelten Gesellschaft und Wirtschaft Lettlands nichts Ungewöhnliches - aber es gibt doch einiges, was Nils Ušakovs von solchen neuen Emporkömmlingen bisherigen Typs unterscheidet, und was genaueres Hinsehen lohnt.

Ušakovs auf dem Thron, Šlesers am Drücker
Offenbar kommt es in Riga tatsächlich zur Zusammenarbeit zwischen "Pirmā Partija / "Latvijas Ceļš" (Erste Partei / Lettischer Weg) und "Saskaņas Centrs" (SC - "Eintracht-/Harmoniezentrum"). Beide Parteien zusammen verfügen im neuen Stadtrat von Riga - wo mehr als die Hälfte der bisherigen Volksvertreter NICHT wiedergewählt wurden - über eine scheinbar solide Mehrheit von 38 der 60 Sitze. Scheinbar unvermeidlich schien "Bulldozer" Ainars Šlesers als neuer Chef im Stadtrat, mit agressiven Wahlkampfsprüchen und langjähigen, stets unverhohlen vorgetragenen persönlichen Ansprüchen auf einen "Chefsessel". Seine Partei bringt 12 Sitze in diese neue "Ehe" ein. Nun wird Šlesers Vize-Bürgermeister, soll speziell für Fragen der Wirtschaft zuständig sein.
"Saskaņas Centrs" wiederum vereinigt eine gemeinsamen Liste mehrerer links und pro-russisch orientierter Gruppierungen: das "Jaunais Centrs" (Neue Zentrum), die "Daugavpils pilsētas partija" (Partei der Stadt Daugavpils), die "Latvijas Sociālistiskā partija" (Lettische sozialistische Partei), die "Sociāldemokrātiskā partija" (Sozialdemokratische Partei) und die "Tautas saskaņas partija" (TSP - aus deren Reihen auch Ušakovs stammt). In den lettischen Medien wurde penibel nachgezählt, wieviele Vertreter welcher Gruppierungen nun für die SC in den Stadtrat rücken: 11 von 26 entstammen der TSP, seien also "Ušakovieši" ("Ušakovisten" - so TVNET).

Ein weiteres Argument pro
Ušakovs entspringt den Feinheiten des lettischen Wahlrechts. Wählerinnen und Wähler können nicht nur Parteien und deren Listen ankreuzen, sondern auch Kandidat/innen auch durch Streichung negativ oder durch Pluszeichen positiv bewerten. Allein 62.784 Wähler/innen setzen ihr "Plusiņš" beim Namen Ušakovs - damit lag er weit vor allen anderen Kandidaten.

Kein unbeschriebenes Blatt
Ušakovs, geboren am 8.Juni 1976, verbrachte seine Kindheit hauptsächlich im Rigaer Vorort Imanta. Die Eltern zogen nach dem 2.Weltkrieg hier hin, die Mutter war Russisch-Lehrerin, der Vater Ingenieur. Beide Eltern bekamen die lettische Staatsbürgerschaft 1999, auch der Sohn verbesserte seine Lettisch-Kenntnisse auf einer Privatschule, studierte Sozialwissenschaften und Ökonomie an der Universität Lettlands, kurzzeitig auch an der Süddänischen Universität Odense.

Was Ušakovs heute nicht mehr anzusehen ist: bis zum Alter von 16 Jahren nahm er Box-Training, er galt als talentiert. Nach Beendigung seiner Ausbildung aber wandte sich der studierte Ökonom dann der Journalistik zu. Er jobbte beim russischen Fernsehsender NTV, dann beim lettischen LTV, beim Rigaer Sender TV5 als Redakteur und später Co-Produzent verschiedener Sendungen, sowie auch bei den Zeitungen "Telegraf" und "Respublika". Als Ušakovs 2005 die Führungsposition bei "Saskaņas Centrs" übernahm, leitete er die russische Nachrichtenagentur "ITAR-TASS" und war Nachrichtenredakteur beim unter Russischsprachigen in Lettland beliebten im Jahr 2002 gegründeten Sender "Pirmā Baltijas kanāla" (PBK - "Baltischer Fernsehkanal 1"), dessen Programm auf dem "Kanal 1" in Russland basiert.
Seit 2006 ist Nils Ušakovs Abgeordneter des lettischen Parlaments.

Reaktionen: keiner möchte überrascht worden sein
Noch sei es zu früh um entscheiden zu können, ob auch "Jaunais Laiks" (Neue Zeit), die Partei des gegenwärtigen Regierungschefs Valdis Dombrovskis - selbst erst vor 100 Tagen ins Amt gekommen - einen Bürgermeister namens Ušakovs unterstützen könne - so JL-Bürgermeisterkandidat Edgars Jaunups gegenüber lettischen Medien. Anders als die häufig in der deutschen Politik kurz nach Wahlen populären Äusserungen, dass gemeinsame politische Ziele wichtiger seien als Pöstchenverteilung, wird es hier anders herum gestrickt: Ein Zeichen dafür, welches "Arbeitsmodell" ein neuer Bürgermeister Ušakovs habe, so Jaunups, sei darin zu sehen, welchen Personen Ämter angeboten würden. Bisher sei nicht sichtbar, dass es auch Angebote an die Opposionsparteien im Stadtrat geben werde, so Jaunups (TVNet 15.6.).

Šlesers und Ušakovs selbst machten auf ihrer Pressekonferenz in dieser Woche klar, dass sie eher auf Konfrontationskurs gehen wollen zur bisher vorherrschenden Politik. "Die amtierende Regierung wird kein langes Leben mehr haben," so versuchten sie ihre Wunschvorstellungen in Worte zu fassen. Eine der möglichen Strategien hätte es auch sein können, eine der eher lettisch-konservativen Parteien "mit ins Boot" zu nehmen, um längerfristig mehr Partner zu haben, für die auch auf nationaler Ebene die SC als Regierungspartei akzeptabel ist. Schon mehrfach scheiterte die SC bei vergangenen Regierungsbildungen an den typischen Ängsten der nationalpatriotischen Parteien: müssen wir jetzt wieder aufgeben Lettisch zu sprechen? wird es wieder zweisprachige Straßennamen geben? Wird auf den Behörden nun problemlos wieder Russisch gesprochen, so dass die Russen wieder kein Wort der Landessprache lernen und bequem warten können, bis die (höflichen) Letten ins Russische überschwenken?

Statt auf solche Annäherungsversuche und allmählichen Abbau von (verständlichen?) Ängsten zu bauen, die endlich auch die ethnisch-politischen Grenzen einmal aufweichen helfen könnten, kommt also nun ein Zeichen der momentan gefühlten Stärke. Wie war es noch gleich? Die "Chancen der Krise". Wer den mehrfachen Ex-Minister
Ainārs Šlesers kennt, der notfalls auch knapp am Bestechungsskandal vorbeigeht (siehe "Jurmalgaite"), der meint heute sagen zu können: Šlesers schreibt, Ušakovs redet.

Einschnitte, Propheten, Soldaten
Aber die Ereignisse sind ja eh schon dramatisch genug: am Tag nach der Ušakov-Äusserung zum angeblichen kurzen Leben der jetzigen Regierung tritt erstmal der Gesundheitsminister zurück. Grund: Er könne die vorgesehenen Einschnitte in die medizinische Versorgung Lettlands nicht mittragen (siehe NRA 17.6.). Regierungschef Dombrovskis dazu: "Er geht den leichten Weg, sich aus der Verantwortung zu verabschieden. Ich verstehe mich wie ein Soldat, und bin daher bestrebt ehrenhaft meine Aufgaben zu erfüllen." Dombrovskis weiterhin (LA am 17.6.): am 25. oder 26.Juni werde klar werden, ob Lettland auf der Grundlage der harten Sparmaßnahmen weitere internationale Kredite (Dombrovskis erwähnt eine in Aussicht stehende Summe von weiteren 1,2 Milliarden Euro) zugestanden werden.

Lettlands Finanzminister
Einars Repše ergänzt: "Lettland kann sich das bisherige Rentenssystem einfach nicht mehr leisten" (LA 16.6.) - das sagt derselbe, der in seinen jungen Jahren als Chef der Bank von Lettland zunächst die "lettischen Rubel" und dann die lettische Währung Lats einführte. Jung-Bürgermeister Ušakovs dagegen lässt folgende Devise momentan auf seinem persönlichen Blog voranstehen: "Die Bewältigung der gegenwärtigen Krise gibt uns eine Möglichkeit, die Fehler, die in den 18 Jahren seit 1991 gemacht wurden, auszubessern. Eine solche Chance dürfen wir nicht vorbeiziehen lassen!" Die kommenden Wochen werden zeigen, ob hiermit nur persönliche Profilierungschancen oder Durchsetzung von Einzelinteressen gemeint sind, oder Zusammenarbeit möglichst vieler Parteien mit dem Ziel der schnellstmöglichen Überwindung der Krise - zum Wohle Lettlands und seiner Bürgerinnen und Bürger.
Schon heute (18.Juni 2009) wird es eine Großdemonstration der lettischen Gewerkschaften, zusammen mit anderen Organisatoren, geben. Auch in anderen größeren Städten Lettlands(Liepāja, Jelgava, Daugavpils und Valmiera) werden die Menschen auf die Straße gehen. Die verlangen vor allem, dass auch ihre Stimme Gehör und Beachtung findet.

Niemand kann in Lettland momentan einfach so sich in eine Sommerpause oder in Parlamentsferien verabschieden.
Zu befürchten ist, dass nun ein Schaukampf der Koalitionsmodelle beginnt: die im Stadtrat der Hauptstadt bestimmtenden Parteien werden der Regierung zeigen wollen, dass "ohne sie nichts geht". Manche - wie einige Rentnervereinigungen - hoffen sogar auf den (vor einiger Zeit noch eher unbeliebten) Präsidenten Zatlers und erwarten von diesem sogar, dass er Parlament und Regierung entlässt und "die Macht übernimmt". Ich glaube nicht, dass sich sehr viele eine Wiederholung der Tumulte des 13.Januar wünschen. Aber dass auch in Krisenzeiten die Demokratie erhalten bleibt und nicht durch bloßen Populismus ersetzt wird, das scheint keine leichte Aufgabe zu sein!

17. Juni 2009

Ein Video zuviel

Urteilen Sie selbst:
Dieses Video wurde dem bisherigen Leiter der lettischen Agentur für Tourismusentwicklung (Tūrisma attīstības valsts aģentūras TAVA), Uldis Vītoliņš, zum Verhängnis. Er musste heute beim lettischen Wirtschaftsminister Artis Kampars seinen Rücktritt einreichen, der diesen sofort akzeptierte (NRA 17.6.09). Der Vorwurf: solche Werbefilmchen seien unprofessionell gemacht, und somit eine Verschwendung von Steuergeldern.
20.500 Lat kostete dieser von der TAVA eingesetzte Werbefilm (ca. 30.000 Euro), den Film stellte die lettische Firma "Lautas" her. Abgesehen von den Kosten fiel aber besonders unangenehm auf, dass hier offenbar eher privaten Selbstdarstellungsgelüsten genüge getan wurde: "Hauptdarstellerin" ist Mairita Solima, eine lettische Millionärin, die in relativ schlechtem Englisch ausführlich die Vorzüge von Angeboten einiger Wellness-Firmen in Riga erklärt. Das Pikante dabei: bei einer dieser Firmen ist sie selbst die Eigentümerin. Bei einem weiteren Video (was inzwischen bei Youtube wieder aus dem Netz genommen wurde) tritt Tourismuschef Vītoliņš gar selbst als "Restaurantexperte" auf.
Das Video war zunächst bei "Twitter" aufgetaucht (wo sonst?), dann machte das lettische Portal "Apollo" vor einigen Tagen eine Story daraus (Rubrik: "Lustiges & Verrücktes").

Es ist Krise in Lettland. Da werden einige Leute erheblich schneller nervös - auch wenn in den letzten Jahren wirklich schon viel mehr an schlechter Werbung gelaufen ist (nach dem Motto: Riga liegt ja eh im Trend).



Auf der Internetseite des TAVA ist auch eine eigene Presseerklärung zum Video nachzulesen. Vītoliņš bezeichnet dort das Video als "Test der technischen Möglichkeiten", und den Auftrag zur Herstellung von insgesamt 40 Werbevideos habe man 2008 ordnungsgemäß ausgeschrieben. Dann sei dieser Film als "Schwarzkopie", also als Vorlage für die anderen Filme hergestellt worden, um die Technik zu testen. Verwendet worden sei der Film dann für die Testversion des Tourismusportals www.latviatourism.lv. Allerdings habe man auch für die geplante Endversion des Videos vorgehabt, die Stimme von Frau Solima zu verwenden. Schließlich sei es besser, wenn Expert/innen in den zu bewerbenden Gewerben dort selbst zu hören und sehen seien, so Vītoliņš. Diese Planungen seien nun zerstört (offenbar ist hier die Einstellung des Videos ins Internet gemeint), und er habe kein Verständnis dafür, wer daran ein Interesse haben könne.

Übrigens:
die Zeiten, in denen es lettischerseits als "Schande" galt, realitätsnah und ehrlich über praktische Erfahrungen im lettischen Tourismus zu schreiben ("es könnte ja dem Image Lettlands schaden" = Nestbeschmutzer), sind zumindest im Internet und in entsprechenden Blogs schon lange vorbei. Allerdings geht es zu wie so oft im Internet: Englisch muss man schon lesen können. Ein Beispiel: REDTAPE, die auch mal eine Liste der schlechtesten lettischen Internetseiten veröffentlichte. Als Leitschnur gilt wohl auch hier: Besser Vertrauen und Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, als ungebremst alles schönreden.

und, ach ja:
seit heute morgen versucht TAVA offenbar, die bei YouTube eingestellten Videos verbieten zu lassen. Grund: Urheberrechtsverletzung. Wenn Sie also in diesem Blog KEIN Videobild mehr erkennen können (wie es bei der Erstellung dieses Blogs um 9:35 Uhr noch möglich war!), dann aus diesem Grund. Es dürfte trotzdem nicht schwer sein, dieses hoch interessante Qualitätsprodukt an anderer Stelle im Netz zu finden ... (Stichwort:
"nasing spešal")

und was noch?
Erinnert wird in diesem Zusammenhang auch gern an ein berühmt berüchtigtes Presseinterview des Ex-Ministers Atis Slakteris. Bisher war dieses die bekannteste Vorstellung auf offener Bühne zum Thema "Fremdsprachenkünstler als Minister". Daher auch die aktuelle Betitelung der millionenschweren "Hauptdarstellerin" Solima als "Schwester von Slakteris".

noch mehr?
Ja, zum Thema Slakteris machte sich bereits jemand die Mühe, eine Parodie zum wirklichen Interview herzustellen. Wir wollen an dieser Stelle wirklich nicht dazu aufrufen, Lettlands Image mutwillig zu beschädigen (an dieser Stelle erscheint gewöhnlich etwas, das Englisch "Disclaimer" heissen würde). Aber offensichtlich ist da schon etwas beschädigt. Und ähnliches mag auch dafür gesorgt haben, dass bei den Kommunalwahlen kürzlich immer weniger Menschen den sturen Slogans gefolgt sind: wählt nur die Lettischsprachigen ("denn die sind besser als die anderen").

11. Juni 2009

Lettland: alles eingespart. Der Sommer kommt.

Oh, du schöne Urlaubszeit
Die Urlaubszeit kommt. Die Hotelpreise fallen, die Billigfluglinien werben. So mancher deutsche Tourist wird beim Besuch in Lettland vielleicht auch die gestiegene Nervosität merken, mit der diejenigen den Sommer durcharbeiten müssen, die bei kurzfristig gekürzten Löhnen ihr Auskommen sichern müssen.
Eines
ist ähnlich in Deutschland wie in Lettland: die Regierung wartet mit dem Verkünden unangenehmer Neuigkeiten bis die Wahlen vorbei sind. So auch die Regierung Dombrovskis. Eine Woche nach den Europa- und Kommunalwahlen regnet es jeden Tag neue Hiobsbotschaften.

Abwertung oder Einsparung? Oder beides?
500 Millionen Lat muss die lettische Regierung einsparen.
In Lettland geht das nicht wie in Deutschland - per virtuelle Kreditaufnahme und Abzahlung späterer Generationen. Hier hängt man am Tropf der internationalen Finanzinstitutionen und deren Rückzahlungsbeddingungen für die kurzfristig gewährten "Notkredite". Auch die Kürzung der Gehälter von Ministern und scheint nicht tabu. Vor allem wird es offen in der Presse diskutiert: 2385 Lat (ca. 3500 Euro) verdient in Lettland der Ministerpräsident, die Minister je 2147 Lat (hat jemand jemals Ähnliches über Frau Angela und ihre Minister in Deutschland gelesen?). Die gegenwärtig vorgeschlagenen Haushaltskürzungen schlagen auch für Mitglieder der Regierung Lohnkürzungen um 20% vor - so erklärte es Līga Krapāne, Pressesprecherin von Ministerpräsident Dombrovskis, und beeilte sich hinzuzufügen, diese Kürzungen könnten auch bis 50% gehen. Lettische Politiker als Masochisten? Ist das glaubhaft? Die zweite Welle der Einsparung liegt bei den privaten Haushalten. Es ist kein Geheimnis mehr, dass die vorwiegend schwedischen Banken, die den Markt in Lettland mit vermeintlich günstig vergebenen Krediten in den Griff bekamen, nun Schwierigkeiten haben. Denn die Mehrzahl dieser Kredite, an Privatleute, Kleinunternehmer, Familien, sind in Euro ausgestellt worden. Eine Abwertung des Lat würde also - nach erheblicher Kürzung der Löhne und Gehälter - alle ein zweites Mal treffen.

In dieser Woche beschloss die Regierung Dombrovskis weitere drastische Sparmaßnahmen, darunter eine Kürzung der Gehälter der Staatsbediensteten um 20% (64 Mill. Lat Einsparung) und eine Rentenkürzung um 10%. Denjenigen Rentner/innen, die auch (noch) einer Arbeit nachgehen, werden die Renten ab 1.Juli 09 sogar um 70% gekürzt (ergibt 37,8 Mill. Lat Ersparnis für das Staatssäckel), allen übrigen um 10% (50,5 Mill.). Ebenfalls um 10% gekürzt werden Unterstützungszahlungen für neu geborene Kinder (6,3 Mill. Ersparnis). Löhne und Renten werden damit auf das Niveau von etwa 2005 zurückgestutzt, während die Preis auf "europäischem Niveau" von 2009 bleiben - so ein Zeitungskommentar (NRA 10.6.09)

Währungsentwertung trotz stabilem Wechselkurs
Aber gibt es bei einer möglichen Lat-Abwertung überhaupt ein entweder-oder? Entweder Einsparungen (weil Beitritt zur Euro-Zone angestrebt), oder Abwertung und Verbilligung einheimischer Waren? Vor den Kommunal- und Europawahlen war dies von vielen noch als Wahl zwischen zwei Möglichkeiten dargestellt worden. Ein Beitrag der Financial Times zitiert am 11.6. einen Vertreter der Deutschen Bank mit dem Zitat: "Sinnvoll ist nur eine geordnete Abwertung, und darüber kann man erst ab Herbst nachdenken."Schlägt also wieder die Stunde der Spekulanten, die schon beim Immobilienmarkt jahrelang an schwindelerregenden Preisen verdient hatten, bevor das Kartenhaus zusammenbrach? Wird jetzt auf eine Lat-Abwertung am Markt solange spekuliert, bis es unvermeidlich wird?

Die Sparorgie
Manche Kommentatoren sprechen inzwischen von einer "inneren Abwertung" des Lat. Damit ist das gemeint, was momentan bereits läuft - während der Wechselkurs (noch) stabil ist. Lohnkürzungen, Rentenkürzungen, Steuererhöhungen. Die Mehrwertsteuer wird ab 1.7. von 21% auf 23% erhöht werden. Eine progressive Besteuerung wird vorerst nicht eingeführt.

Eine Liste des Schreckens. Die Schnelligkeit und Eile, mit der hier Budgets beschnitten werden, symbolisiert mehr als deutlich die Dringlichkeit der Lage: Das Gesundheits- ministerium muss 45 Millionen Lat einsparen, das Militär 15 Millionen, die Bildung wird um 10 Millionen beschnitten. Das Innenministerium bekommt 9 Millionen weniger, bei der Landwirtschaft werden 23,8 Millionen Lat eingespart, allein bei den Subventionen für die Bauern sind es 3 Millionen. 4 Millionen weniger bekommt das Umweltministerium, sogar bereits begonnenen Projekten sollen 6,5 Millionen entzogen werden. Das Finanzministerium selbst spart 46,1 Millionen Lat ein, das Verkehrsministerium 4 Millionen. 7,8 Millonen werden den lettischen Hochschulen weggestrichen, 1,7 Millionen bekommen die Kultureinrichtungen weniger. 8,1 Millionen werden beim Sport und bei Musikschulen eingespart, 5,7 Millionen bei Vorschuleinrichtungen - das alles sind nur Beispiele. Ich finde es sehr schwer vorstellbar, wie die Reaktion in Deutschland bei einer solchen Sparorgie wäre - egal, wem letztendlich die Schuld dafür zugeschoben werden kann.

Jānītis allein zu Haus?
Wenn Sie in den Urlaub nach Lettland fahren - nehmen Sie einen soliden Euro-Schein als Spende mit, und spenden Sie es Ihrem Reiseführer oder Bed-and-Breakfast-Gastgeber. Denn wahrscheinlich ist, dass er oder sie entweder als unterbezahlte Lehrer/innen arbeiten und sich durch einen Job das Überleben sichern müssen, oder sogar noch teilweise von der Landwirtschaft leben müssen. Oder dass sie Beamte, Museumswärter, Angestellte in Ministerien oder bei den Kommunalverwaltungen sind. Alle sind jetzt betroffen, und alle fragen sich: kann ich in der nächsten Zukunft noch durch meine erlernte Arbeit in Lettland überleben? Die lettische staatliche Arbeitsagentur (Nodarbinātības valsts aģentūr - NVA) meldet heute, dass in den ersten fünf Monaten 2009 sich bereits genauso viele Menschen als im Ausland Arbeit suchend angemeldet haben wie im gesamten Jahr 2008: über 9000. NVA-Direktor Māris Silenieks erklärt das so: "Die Menschen haben Kredite laufen, die sie zurückzahlen müssen. Und wenn die Löhne gekürzt werden, müssen sie sehen dass sie dieses Geld anderswo verdienen." (TVNet)

8. Juni 2009

8 für Europa

Acht Delegierte darf Lettland ins Europaparlament entsenden. Nach Bekanntgabe der vorläufigen Resultate der Europawahlen vom vergangenen Samstag werden dies sein:

Der Spezialist der Hartkörpter-Physik (der Ausbildung nach), "Lokomotive" der Wendezeit zur lettischen Unabhängigkeit Anfang der 90er Jahre, und bis Anfang des Jahres noch zum wiederholten Male Lettlands Ministerpräsident: Ivars Godmanis. Spricht eigenen Angaben zufolge gut Deutsch. Jahrgang 1951. Ob er eher für ein "kampferprobtes Schlachtross im Sturm" oder für die Symbolik des "merkwürdigen Cliquen an der Macht halten in Zeiten, wo eigentlich konsequente Reformen nötig wären", darüber streiten sich auch die Lettinnen und Letten. Verfügt in jedem Fall über genügend politische Kontakte, um lettischen Interessen im Europaparlament zu vertreten, und umgekehrt. Wurde mit 59.326 Stimmen (7,5%) auf der Liste der Vereinigung Latvijas Ceļš / Latvijas Pirmā Partija ins Europaparlament gewählt.

Die ausgebildete Mathematikerin, mehrfache aktive Sowjet-Funktionärin, und Euro-Lautsprecherin des Slogans "Russen sind in Lettland geknechtet und benachtteiligt": Tatjana Ždanoka. Sie scheut nicht davor zurück, Gelder für ihren Wahlkampf auch mal aus Moskau zu besorgen, spricht selbst mehrere Sprachen (nach eigenen Angaben ausser Russisch auch Lettisch, Französisch, Englisch und ein wenig Deutsch), steht aber ansonsten für die Parole: "was müssen wir in Lettland Lettisch sprechen? In Europa reicht doch Englisch!" Die deutschen GRÜNEN im Europaparlament mussten Frau Tatjana schon in der bisherigen Amtszeit ertragen (aufgenommen in die Fraktion "The Greens - European Free Aliance" wohl wegen deren Ausrichtung auf das Thema Menschenrechte), aber ob sie sich das diesmal wieder antun werden, bleibt vorerst offen. Frau Ždanoka ist Jahrgang 1950 und wird daheim (vor allem in Riga) von einem stabilen Fankreis geliebt, weil sie "eine von uns ist". Wer ansonsten in der lettischen Politik - auch innerhalb der Linken - etwas werden will, distanziert sich ausnahmslos von Ždanoka, da sie in den Augen aller, die sie dann doch lieber nicht wählen, für eine romatische Verklärung und ein "zurück zur Sowjetzeit" steht. Darf in Lettland wegen ihrer aktiven Funktionen während der Sowjetzeit nicht kandidieren - für die Europawahlen gilt diese Einschränkung nicht. Gewählt ins Europaparlament mit 76.436 Stimmen (9,66%) auf der Liste der "PCTVL - Par cilvēka tiesībām vienotā Latvijā". Diese Liste fiel bei den gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen in Riga glanzlos durch - ein weiterer Beweis, welche Symbolkraft der Name Ždanoka für einige hat.

Der Ingenieur im Maschinen- und Apperatebau und Techniker der Metallverarbeitung, bekannt aber als lebenslanger Parteifunktionär (Absolvent der Sowjet-Parteihochschule in Leningrad) und ehemaliger Bürgermeister von Riga: Alfreds Rubiks. Er wollte in den 80er Jahren in Riga eine U-Bahn bauen und löste damit massive Gegenproteste aus, unterstützte dann den Putsch gegen Gorbatschov und kann laut eigener Aussage heute noch dem Wendekommunist Gorbunovs nicht verzeihen, dass er sich damals plötzlich auf die "andere Seite" stellte. Mühte sich lange in sozialistischen Kleinparteien wieder politisch in Lettland aktiv zu werden, darf aber wie Tatjana Ždanoka wegen seiner gegen das unabhängige Lettland gerichteten Aktivitäten kein aktives Wahlrecht mehr ausüben. Sein Sohn Arturs dagegen kandidierte schon vor einiger Zeit erfolgreich für den Rigaer Stadtrat. Jahrgang 1935, spricht eigenen Angaben zufolge (ausser Russisch) leidlich Lettisch, und ewas Englisch und Deutsch. Passionierter Angler. Mühte sich im Europawahlkampf deutlich von Tatjana Ždanoka zu distanzieren, sieht seine Aufgaben im Europawahlkampf eher bei den allgemeinen sozialen Themen. In den Augen einiger politischer Beobachter wird seine Entsendung ins Europaparlament für die dortige Sozialistische Fraktion noch ähnliche Probleme mit sich bringen wie Ždanoka für die Grünen (wie will man baltischen Parteikolleg/innen aus Estland oder Litauen erklären, dass sie jetzt mit einem solchen "Sowjetsturkopf" zusammenarbeiten müssen?). Innenpolitisch ist er damit den großen Zukunftambitionen seiner Parteiliste aber nicht mehr "im Weg". Gewählt mit 154.893 Stimmen (19,57%) für die vereinigte Liste des "Saskaņas Centrs" (= 2 Sitze).

Der Absolvent der Landwirtschaftlichen Universität Lettlands, Doktor der Wirtschaftswissenschaften, ehemaliger lettischer Finanz- und Verkehrsminister: Roberts Zīle. Er spricht, eigenen Angaben zufolge, ausser Lettisch einigermaßen Englisch und liest auch deutsche Texte. Zīle ist Jahrgang 1958 und teilt mit Alfred Rubiks sein Hobby: Angeln. Bei den vergangenen Europawahlen errang seine Partei noch 4 der 9 Sitze Lettlands und schloss sich der als "europakritisch" geltenden Vereinigung "Europa der Nationen" an, er ist nun der letzte davon Verbliebene aus Lettland. Betonte zuletzt - wie so viele Politiker aus den baltischen Staaten - vor allem das Thema Sicherung der Energieversorgung. In Lettland plakatierte seine Partei fast nur das Thema "wählt die Unsrigen" (also nur Letten - keine Russen) - obwohl Zīle persönlich als einer der wenigen "Köpfe" seiner Partei gilt, dem - ausser dem "ewigen" und stark nationalistisch eingefärbten "Angst-vor-den-Russen-Thema" politische Erfahrung und Fachkompetenz nicht abgesprochen werden kann. Gewählt mit 58.998 Stimmen (7.46%) für die Liste der "Tēvzemei un Brīvībai"/LNNK.

Der Doktor der Philosophie, Linguistik-Spezialist, ehemaliger Wirtschaftsminister und jetziger lettische Parlamentsabgeordnete Arturs Krišjānis Kariņš. Ausser seiner Muttersprache Lettisch spricht er eigenen Angaben zufolge auch Englisch, Deutsch und beschäftigt sich inzwischen auch mit Arabisch. Geboren 1964 als Kind lettischer Eltern in den USA, kehrte Mitte der 90er Jahre ins Heimatland seiner Eltern zurück und betätigte sich als Unternehmer und Politiker. Teilweise Gastlektor der Sozio-Linguistik an der Universität Lettlands, als einer der Mit-Gründer der Partei "Jaunais Laiks" (Neue Zeit) angesehen. Gilt als entschiedener Vertreter eines freien Marktes und - schon aufgrund seiner Herkunft - wahlweise, je nach politischem Standpunkt - entweder als "enger Freund" oder auch "Agent" der USA in Lettland. Gewählt mit 52.725 Stimmen (6,66%) für die Liste der Jaunais Laiks, die bisher 2 Mandate im Europaparlament hatte, und sich der EPP-ED (Europäische Volkspartei / Christdemokraten) zurechnet.

Die Absolventin der lettischen Kunstakademie, Kunstwissenschaftlerin, ehemalige Botschafterin und Aussenministerin Lettlands, und "beinahe-EU-Kommissarin" (als ein Regierungswechsel doch noch jemand anders ins Amt hob): Sandra Kalniete. In mehrere Sprachen übersetzt ist inzwischen ihr Buch, in dem sie von den Strapazen der plötzlichen Verbannung ihrer Elterin nach Sibirien berichtet (Kalniete wurde 1952 in Tomsk geboren), und von ihrer Rückkehr nach Lettland. Berühmt oder (je nach politischem Standpunkt) berüchtigt ist auch ihr Auftritt auf der Buchmesse Leipzig, als viele ihren Reden eine Gleichsetzung der Verbrechen von Stalinismus und Nationalsozialismus entnehmen meinten zu müssen. In Lettland wird sie wegen der Art ihres Auftretens manchmal als etwas steif und unflexibel angesehen, ist gleichzeitig aber eines der wenigen "international bekannten Gesichter" über die Lettland bei der Wahrnehmung lettischer Interessen verfügen kann. Sie war Ende der 80er Jahre ein der Führungsfiguren der lettischen Unabhängigkeitsbewegung, galt als Präsidentschaftskandidatin, als Aussenministerin noch parteilos, dann Mitglied der "Jaunais Laiks". Nun gründete sie zusammen mit einem "alten Weggefährten", Girts Valdis Kristovskis, bisher EU-Parlamentarier und nun Fraktionsführer und Bürgermeisterkandidat im Stadtrat Riga, eine neue auf die rechte Mitte gerichtete politische Gruppierung namens Pilsoniskā savienība (zu übersetzen etwa mit "bürgerschaftliche Vereinigung"). Kalniete spricht Englisch, Französisch und Russisch, und gibt Lesen und Handarbeiten als Hobbies an. Eine ihrer Verbindungen nach Deutschland und Frankreich ist ihre Funktion als Mitglied im Aufsichtsrat der Robert-Schuman-Stiftung, dort sitzt auch Deutschlands Innenminister Wolfgang Schäuble. Kalniete ist gewählt mit 192.533 Stimmen (24,33% - 2 Sitze) für die Liste der Pilsoniskā savienība.

Die Ökonomin Inese Vaidere. Vaidere spricht ausser Lettisch auch Englisch und Deutsch, und etwas Französisch und Italienisch. Jahrgang 1953. Anfang der 90er Jahre zunächst bei der Zeitschrift "Labrīt" als Redakteurin tätig, vor 2004 dann in mehreren internationalen Ämtern tätig (u.a. Vorsitzende der Umweltkommission der HELCOM), auch Abgeordnete im Stadtrat Riga und kurzzeitig stellvertretende Bürgermeisterin. Damals Beraterin verschiedener Politiker/innen und auch der lettischen Präsidentin Vike-Freiberga. Auch ein Studienaufenthalt am Kieler Institut für Weltwirtschaft macht Inese Vaidere für Kontakte der konservativen Kreise aus Deutschland sicher zur geeigneten Ansprechpartnerin. In ihren vielen Funktionen mal mehr für Wirtschaftsbelange, mal mehr für Umweltbelange eintretend, aber sicher dafür, dass sich beides nicht allzuweit voneinander entfernt. Seit 2004 EU-Abgeordnete für die rechts-nationale "Tevzemei un brivibai", wechselte aber die Fraktion und schloss sich jetzt gleichfalls wie Kalniete der "Pilsoniskā savienība" an. Arbeitete bisher als einzige Lettin im aussenpolitischen Ausschuß der EU. - Unklar bleibt, ob sich diese beiden Abgeondneten der PS dann - wie früher die vier "Tevzemei"-Entsandten, gleichfalls der Fraktion UEN im Europaparlament anschließen werden ("Europa der Nationen" - gilt als Europa-kritisch, in Deutschland bisher keine politischen Partner). Vaidere scheint dies in ihrem privaten Blog zu favorisieren. Gewählt ebenfalls mit192.533 Stimmen (24,33%) für die Liste der "Pilsoniskā savienība".

Der lettische EU-Abgeordnete Nr. 8 ist noch nicht klar, da in Lettland von den Wählern auch bei den Europawahlen mit sogenannten "Plus- und Minuszeichen" gearbeitet werden konnte. Das heisst, jede/r Kandidat/in konnte mit Zeichen der besonderen Zu- oder Abneigung versehen werden.
Ein weiterer Platz im Europaparlament steht der Partei "Saskaņas Centrs" zu. Je nachdem, wer von beiden nun die größere Gunst der Wähler/innen auf sich gezogen hat, wird dies entweder BORISS CILEVIČS oder SERGEJS MIRSKIS sein.

In Lettland wird sogar in der Presse noch ein möglicher Platz 9 im EU-Parlament diskutiert - dieser würde vergeben, wenn der neue EU-Vertrag doch noch scheitern sollte und die alte (bisherige) Sitzverteilung beibehalten werden müsste.

Und noch kurz zur Wahlbeteiligung: teilweise steht ja in einigen deutschen Medien, "in Osteuropa" sei fast niemand zur Wahl gegangen. Für Lettland (wie auch für Estland) gilt das nicht. Zwar hat die Menschen der Kommunalwahlkampf vermutlich mehr zur Beteiligung angespornt als die Europawahl (wo ja nur Abgeordnete ins ferne Brüssel entsendet werden, aber keine Regierung gewählt wird). Aber die unten stehende Karte macht visuell sichtbar, dass lettlandweit 53,67% gewählt habe bei der Europawahl (in Riga: 58,9%). Hellblaue Bezirke stehen für über 40% Beteiligung, dunkelblaue für über
60%.
Nachtrag:
Inzwischen wurde auch der achte erfolgreiche Kandidat aus Lettland für einen Sitz im Europaparlament bekannt gegeben. Es ist Aleksandrs Mirskis (Saskaņas Centrs), der trotz Platz 3 auf der Liste seiner Partei am zweitmeisten Sympathiebekundungen (Pluszeichen auf der Wahlliste - 53.699 gegenüber 36.358 für den Kandidaten auf dem 2.Listenplatz) einheimsen konnte. Mirskis ist gegenwärtig Abgeordneter des lettischen Parlaments.

7. Juni 2009

In Riga nur noch "Bulldozer"?

In Lettland wurde am Samstag gewählt - zweimal. Während die Bekanntgabe der Wahlergebnisse der Europawahl erst für den späten Sonntagabend angesagt ist, laufen über die Nachrichtenticker nun die Zahlen der Kommunalwahl. Erstes postives Ergebnis hier: die Wahlbeteiligung liegt Lettlandweit bei 52,58% (935 von 950 Wahlbezirke - in Riga bei 56,11%). Sollten diese Zahlen bei den Europawahlen ähnlich liegen, wäre das sicherlich in Zeiten der tiefsten finanziellen Krise ein ermutigendes Zeichen, dass die Wahlberechtigten nicht in Krisenzeiten gleich auch noch die Demokratie für undurchführbar erklären.

Auffällig - und mit Spannung erwartet - sind dabei die Zahlen der Stadtratswahlen in Riga. Etwa drei Viertel aller Wahlbezirke sind jetzt (7.6. 10.00 Uhr) ausgezählt, es zeichnen sich Überraschungen ab. Auffällig vor allem, dass es im künftigen Stadtrat nur noch vier große Fraktionen geben wird:

- "SASKAŅAS CENTRS" ("Harmonie /Ausgleich"), bisher immer in der Oppostion, mit gemäßigt pro-russischer Ausrichtung und Betonung auf sozialen Themen, und ihrem Spitenkandidaten Nils Ušakovs --- Ergebnis: um die 33% der Stimmen

- PILSONISKĀ SAVIENĪBA ("Bürgerschaftliche Vereinigung"), eine neu gebildete gemäßigt konservative Gruppierung aus vielen bisher in anderen Parteien aktiven Politiker/innen, mit ihrem Spitzenkandidat und bisherigen Europa-Abgeordneten Ģirts Valdis Kristovskis, --- Ergebnis: um die 20% der Stimmen

- "LPP/LC" ("Pirmā Partija / Latvijas Ceļš" - Vereinigung "Erste Partei / Weg Lettlands"), eine der gegenwärtigen lettischen Regierungsparteien, vor allem bekannt durch ihren aggressiv auftretenden Spitzenkandidaten Ainārs Šlesers, der allgemein gern als "Bulldozer" bezeichnet wird (manche schreiben das seiner Art zu Gegner aus dem Weg zu räumen, er selbst sieht sich gern als "Macher", der Investoren-/Geld ins Land holt) --- Ergebnis: um die 15% der Stimmen

- und die "JAUNAIS LAIKS" ("Neue Zeit"), die erst vor wenigen Monaten aus der Opposition in die lettische Regierung zurückkehrte und nun mit Valdis Dombrovskis den Ministerpräsidenten stellt. Ihr Spitzenkandidat in Riga, Edgars Jaunups, gilt eher noch als etwas unerfahren. Thematische Stärken waren immer der Kampf gegen Korruption und Bürokratie. --- Ergebnis: um die 11% der Stimmen.

5. Juni 2009

Lettisch für Fortgeschrittene


Wer richtig schön Lettisch sprechen will, sollte im Lettischen nicht mehr den Anglizismus hotdogs für eines heißes Würstchen mit Ketchup in einem aufgeschnittenen Brötchen benutzen. Nach der Empfehlung der lettischen Sprachkommission, sollte man lieber die lettische Bezeichnung dafür verwenden – suņmaizdesainis. Das Kompositum auf Deutsch übersetzt bedeutet ungefähr – Hundebrotwürstchen.

3. Juni 2009

Kampf um Riga: weichgespülte Kommunisten oder Hardcore-Christen?

Lettland hat gerade eine umfangreiche Kommunalreform hinter sich - bei den Gemeinderatswahlen am nächsten Sonntag werden die politische Gewichte in vielen Landesteilen erstmals neu ermittelt (jetzt 118 Wahlbezirke - Liste). Und auch in Europa möchte Lettland mit eigener Stimme vernehmbar Einfluß nehmen - es gilt als wahrscheinlich, dass es diesmal Abgeordnete aus sehr vielen verschiedenen Parteien geben wird, die Lettland nach Brüssel bzw. Strassbourg entsendet. Aber über allem steht der "Kampf um Riga" - die wichtigste Frage der lettischen Politik scheint momentan zu sein, wer die Macht in Riga übernimmt und auf dem Sessel des Bürgermeisters Platz nehmen kann.

Mir persönlich geht es so: ich kann mich nicht erinnern, in den letzten Jahrzehnten jemals Wahlplakate gesehen zu haben, auf denen mit geballter Faust gedroht wird. So zelebriert es im Moment die nationalkonservative "Partei für Vaterland und Freiheit" des amtierenden Bürgermeisters Janis Birks, noch verstärkt durch schwarz-weißes Design (herausragendes Beispiel für den Spruch von der "Schwarz-Weiß-Malerei").


Schicksalswahl oder Gleichgültigkeit - angesichts der Wirtschaftskrise?
Wenn gleich daneben ein übergroßes Bild vom Möchtegern-Bürger- meister und Chef der "Pirma Partija" ("Erste Partei", auch "Pastoren-partei" genannt) Ainars Šlesers auftaucht, dann erscheint es fast als ob der "Kampf um Riga" nur zwischen diesen beiden Herren stattfinden würde. Trohnt doch Šlesers mit meterhohem Bildnis gleich gegenüber dem Rigaer Hauptbahnhof (einem der beliebtesten Werbeplätze) und verkündet: Šlesers für Riga - wer sonst? Oder auch: "Riga wird eine reiche Städte mit reichen Rigensern sein!" Eine Unverschämtheit, in Zeiten der Finanzkrise?

Nun ja, wahrscheinlich sind die Wahlberechtigten mal wieder selbst schuld, wenn sie nicht schnell reich werden - sie hätten eben jemand anderen wählen sollen. Bisher stellt die Pastorenpartei immerhin schon einen stellvertretenden Bürgermeister (mit Namen Ludviks). Auf dessen Wahlkampf- veranstaltungen treten bevorzugt "Familienschützer" auf, die selbst Kindern kleine Plastik-Embryos unter die Nase halten, um moralischen Druck gegen Abtreibungen aufzubauen. Freimütig bot man auch mir an, bei einem Fragespiel mitzumachen. Als Gewinn lockt: ein ebensolcher Plastik-Winzling. Welcher Wähler hängt sich sowas übers Bett, oder legt es seiner Freundin auf den Nachttisch???

Taugen Untergangsphantasien als Zukunftsvisionen?
In Lettland ist wieder einmal vieles möglich. Konnte doch der verbrämt moralisch angestrichene Wahlkampf vor zwei Wochen auch wunderbar zelebriert werden, angesichts hinter den hohen Zäunen des Vermanes-Parks und starken Polizeiketten demonstrierender Schwulen und Lesben ("Baltic Pride"). In seltsamer Vereinigung von Hasspredigern der "Jauna Paaudze" ("Neue Generation" - eine sich radikal gebende Sekte, die in Lettland zunehmenden Zulauf hat; siehe auch Webseite) und russischen Untergangssweisagern ließ sich hier wunderbar Front machen gegen das "moralische Verderben" (das natürlich vorwiegend aus dem Westen kommt). Worüber sollte man mehr froh sein: über die reibungslos funktionierenden Absperrungen der lettischen Polizei, die auf beiden Seiten die freie Meinungsäußerung sicherten, oder über die vielen Lettinnen und Letten, denen die Ereignisse wenigstens nach eigenem Bekunden "egal" sind? Wer sich hinter Plakate stellt mit Texten wie "Gegen Päderasten helfen nur Gaskammern", der kann sich allerdings über internationales Stirnrunzeln nicht beschweren.

All dieses braucht wohl ein Bürgermeisterkandidat wie Šlesers, um ins Amt zu kommen. Und das, obwohl eine Vielzahl von Meinungsäußerungen befragter Bürgerinnen und Bürger sich zu allererst negativ über den Šleser-Wahlkampf äußerten. Aber ja, die Gesetze der Werbung funktionieren leider genau so: Hauptsache Aufsehen erregen, auch Negativ-Werbung ist Eigenwerbung. Die Wählerschaft wird Šlesers vermutlich am Sonntag satt über die 5%-Hürde tragen, und dann wird der große "Markt der Interessenkungelei" losgehen.

Von der Gunst, "links auf Platz 1" stehen zu können
Die zweite Gruppierung, die ab nächste Woche hoffen kann, die bestimmende Kraft in Lettland zu werden, ist das "Saskanas Centrs" (SC), eine Vereinigung mehrerer linker und links-zentristisch orientierter Parteien, die nicht zum ersten Mal vor einer Wahl in den Umfragen bei stabilen Zahlen zwischen 12% und 20% liegt ("Saskana" könnte mit "Harmonie", "Einklang" oder mit "Konsens" übersetzt werden). Liegt hier der Grund der Drohungen von Bürgermeister Birks mit der blanken Faust? Aus Sicht der Nationalkonservativen sind hier die "verkappten Kommunisten" zu finden, auch die "dem lettischen Staat gegenüber Illoyalen" (weil sie z.B. allen Bürgern das "immer-und-überall nur Lettisch-Sprechen" nicht weiter amtlich vorschreiben wollen).

Hatte es seit den ersten freien Wahlen 1993 schon viele Versuche gegeben, um mal wieder eine eher linksgerichtete, auch eher die russischen Mitbürger/innen einbeziehende Politik im lettischen Parlament durchzusetzen - von Sozialisten über mehrere sozialdemokratische Abspaltungen und Splittergruppen bis zu Sowjetromantikern - dieses ist die bisher erfolgsversprechendste. Viele Jugendliche, die dem seit fast 20 Jahren stoisch wiederholten Warnruf "Rettet uns vor den Linken" nichts mehr abgewinnen können, engagieren sich hier. Mit der Gleichsetzung "links = moskauhörig" müssen die nationalkonservativen eher fürchten, unter 5% zu rutschen.


Geschickt versteht es dagegen die SC, sich auch von der Ein-Frau-Partei PVTCL ("Par cilvēka tiesībām vienotā Latvijā" - für Menschenrechte in einem einigen Lettland) der altgedienten Sowjetfunktinärin Tatjana Zdanoka abzugrenzen. Eine Amtszeit lang versuchte Zdanoka im Europaparlament bei manchem ahnungslosen Politikerkollegen Illusionen hervorzurufen, eine Unterstützung für sie selbst sei gleichbedeutend einer "Brücke des modernen Europa nach Lettland". Da könnte man - vergleichsweise - auch Egon Krenz als neuen Bundeskanzler vorschlagen. Mit Nils Ušakovs, Jānis Urbanovičs undSergejs Dolgopolovs verfügt die SC über drei anerkannte Politiker als Führungsfiguren.

Einzig verbliebenes Problem bleibt die politische Zukunft des ehemaligen Bürgermeisters von Riga und Anti-Gorbatschow-Putschunterstützers Alfreds Rubiks. Er führt die Liste der SC zu den Europawahlen an - und ist damit lebender Beweis, dass die Europawahlen in Lettland am kommenden Wochenende DOCH eine Rolle spielen. Rubiks, der wegen seiner gegen den lettischen Staat gerichteten Aktivitäten mit einer Knaststrafe belegt wurde und auch als ehemaliger Sowjetfunktionär von der aktiven politischen Teilhabe in Lettland selbst ausgeschlossen ist - ähnlich Zdanoka darf er zu den Europawahlen kandidieren (dafür gelten europaweit einheitliche Wahlrechtsbestimmungen). Interessant dazu die Überlegungen in der lettischen Presse, die vermuten, die SC schicke Rubiks nur deshalb nach Europa, um ihn innenpolitisch aus dem Feld räumen zu können (gleich = nicht mit ihm identifiziert werden zu können). Hast du einen (altstalinistischen) Opa, schick ihn nach ......

Bliebe nur noch das gemeinsame Bestreben von lettischen Sozialdemokraten (LSDSP) und Saskanas Centrs (LC), im europäischen Parlament zukünftig der (großen) Fraktion der Sozialdemokraten und Sozialisten angehören zu dürfen. Aber leider haben - einem Bericht der Neatkariga Rita Avize zufolge - dort auch schon die Diskussionen begonnen. Offen wird davon gesprochen, dass Sozialdemokraten aus Litauen und Estland die Aufnahme von Ex-Stalinisten wie Rubiks in eine gemeinsame Fraktion wohl zu verhindern wissen werden. Aber das ist dann schon eine Frage der Wahl-Folgen - auf der Europaliste der SC steht "der alte Rubiks" auf Platz 1.

Szenario für Riga - Folgen für Lettland
Allgemein wird daher vermutet - egal wieviel Wahlbeteiligung am Sonntag bei beiden Wahlen herausspringen wird - dass vor allem die Machtverhältnisse in der Hauptstadt Riga auch die lettische Politik verändern werden. Dabei ist allerdings der meist gehörte Satz: "Diesmal ist wenig vorhersehbar, trotz der üblichen Statistiken und Prognosen. Es ist Krise - und da weiß keiner, wie die Leute sich in der Wahlkabine entscheiden."
Noch hoffen diejenigen Parteien, die das Geld für Werbespots im Fernsehen und für Plakatkampagnen haben, auf die übliche Trendwende nach dem Motto "wer die größten Sprüche klopft, erzielt auch den größten Effekt." Sicher aber ist das keineswegs. Sicher ist nur, dass die Stadtverwaltung Rigas die Arbeit offenbar schon seit Monaten eingestellt hat. Es werden keine wichtigen und wegweisenden Entscheidungen mehr auf den Weg gebracht - vom herrschenden Geldmangel zu deren Realisierung mal ganz abgesehen (Ausnahme: Bürgermeister Birks hat noch mal schnell Fahrpreisermäßigungen für Rentner verkündet).
Alles wartet darauf, wer sich als neuer Bürgermeister in den gewöhnlich gar nicht so geruhsamen Amtsessel setzen darf. Werden es die von religiösen Heilsversprechen Getriebenen sein? Oder vielleicht doch die in demokratischer Wolle gewaschenen "harmonischen Linken", von denen allerdings niemand weiß, was sie noch umsetzen können, um für "Mitte-Rechts"-Parteien koalitionsfähig zu werden?

Liste aller zur Europawahl in Lettland antretenden Parteien

Liste aller in Riga zur Kommunalwahl antretenden Parteien