Acht Delegierte darf Lettland ins Europaparlament entsenden. Nach Bekanntgabe der vorläufigen Resultate der Europawahlen vom vergangenen Samstag werden dies sein:
Der Spezialist der Hartkörpter-Physik (der Ausbildung nach), "Lokomotive" der Wendezeit zur lettischen Unabhängigkeit Anfang der 90er Jahre, und bis Anfang des Jahres noch zum wiederholten Male Lettlands Ministerpräsident: Ivars Godmanis. Spricht eigenen Angaben zufolge gut Deutsch. Jahrgang 1951. Ob er eher für ein "kampferprobtes Schlachtross im Sturm" oder für die Symbolik des "merkwürdigen Cliquen an der Macht halten in Zeiten, wo eigentlich konsequente Reformen nötig wären", darüber streiten sich auch die Lettinnen und Letten. Verfügt in jedem Fall über genügend politische Kontakte, um lettischen Interessen im Europaparlament zu vertreten, und umgekehrt. Wurde mit 59.326 Stimmen (7,5%) auf der Liste der Vereinigung Latvijas Ceļš / Latvijas Pirmā Partija ins Europaparlament gewählt.
Die ausgebildete Mathematikerin, mehrfache aktive Sowjet-Funktionärin, und Euro-Lautsprecherin des Slogans "Russen sind in Lettland geknechtet und benachtteiligt": Tatjana Ždanoka. Sie scheut nicht davor zurück, Gelder für ihren Wahlkampf auch mal aus Moskau zu besorgen, spricht selbst mehrere Sprachen (nach eigenen Angaben ausser Russisch auch Lettisch, Französisch, Englisch und ein wenig Deutsch), steht aber ansonsten für die Parole: "was müssen wir in Lettland Lettisch sprechen? In Europa reicht doch Englisch!" Die deutschen GRÜNEN im Europaparlament mussten Frau Tatjana schon in der bisherigen Amtszeit ertragen (aufgenommen in die Fraktion "The Greens - European Free Aliance" wohl wegen deren Ausrichtung auf das Thema Menschenrechte), aber ob sie sich das diesmal wieder antun werden, bleibt vorerst offen. Frau Ždanoka ist Jahrgang 1950 und wird daheim (vor allem in Riga) von einem stabilen Fankreis geliebt, weil sie "eine von uns ist". Wer ansonsten in der lettischen Politik - auch innerhalb der Linken - etwas werden will, distanziert sich ausnahmslos von Ždanoka, da sie in den Augen aller, die sie dann doch lieber nicht wählen, für eine romatische Verklärung und ein "zurück zur Sowjetzeit" steht. Darf in Lettland wegen ihrer aktiven Funktionen während der Sowjetzeit nicht kandidieren - für die Europawahlen gilt diese Einschränkung nicht. Gewählt ins Europaparlament mit 76.436 Stimmen (9,66%) auf der Liste der "PCTVL - Par cilvēka tiesībām vienotā Latvijā". Diese Liste fiel bei den gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen in Riga glanzlos durch - ein weiterer Beweis, welche Symbolkraft der Name Ždanoka für einige hat.
Der Ingenieur im Maschinen- und Apperatebau und Techniker der Metallverarbeitung, bekannt aber als lebenslanger Parteifunktionär (Absolvent der Sowjet-Parteihochschule in Leningrad) und ehemaliger Bürgermeister von Riga: Alfreds Rubiks. Er wollte in den 80er Jahren in Riga eine U-Bahn bauen und löste damit massive Gegenproteste aus, unterstützte dann den Putsch gegen Gorbatschov und kann laut eigener Aussage heute noch dem Wendekommunist Gorbunovs nicht verzeihen, dass er sich damals plötzlich auf die "andere Seite" stellte. Mühte sich lange in sozialistischen Kleinparteien wieder politisch in Lettland aktiv zu werden, darf aber wie Tatjana Ždanoka wegen seiner gegen das unabhängige Lettland gerichteten Aktivitäten kein aktives Wahlrecht mehr ausüben. Sein Sohn Arturs dagegen kandidierte schon vor einiger Zeit erfolgreich für den Rigaer Stadtrat. Jahrgang 1935, spricht eigenen Angaben zufolge (ausser Russisch) leidlich Lettisch, und ewas Englisch und Deutsch. Passionierter Angler. Mühte sich im Europawahlkampf deutlich von Tatjana Ždanoka zu distanzieren, sieht seine Aufgaben im Europawahlkampf eher bei den allgemeinen sozialen Themen. In den Augen einiger politischer Beobachter wird seine Entsendung ins Europaparlament für die dortige Sozialistische Fraktion noch ähnliche Probleme mit sich bringen wie Ždanoka für die Grünen (wie will man baltischen Parteikolleg/innen aus Estland oder Litauen erklären, dass sie jetzt mit einem solchen "Sowjetsturkopf" zusammenarbeiten müssen?). Innenpolitisch ist er damit den großen Zukunftambitionen seiner Parteiliste aber nicht mehr "im Weg". Gewählt mit 154.893 Stimmen (19,57%) für die vereinigte Liste des "Saskaņas Centrs" (= 2 Sitze).
Der Absolvent der Landwirtschaftlichen Universität Lettlands, Doktor der Wirtschaftswissenschaften, ehemaliger lettischer Finanz- und Verkehrsminister: Roberts Zīle. Er spricht, eigenen Angaben zufolge, ausser Lettisch einigermaßen Englisch und liest auch deutsche Texte. Zīle ist Jahrgang 1958 und teilt mit Alfred Rubiks sein Hobby: Angeln. Bei den vergangenen Europawahlen errang seine Partei noch 4 der 9 Sitze Lettlands und schloss sich der als "europakritisch" geltenden Vereinigung "Europa der Nationen" an, er ist nun der letzte davon Verbliebene aus Lettland. Betonte zuletzt - wie so viele Politiker aus den baltischen Staaten - vor allem das Thema Sicherung der Energieversorgung. In Lettland plakatierte seine Partei fast nur das Thema "wählt die Unsrigen" (also nur Letten - keine Russen) - obwohl Zīle persönlich als einer der wenigen "Köpfe" seiner Partei gilt, dem - ausser dem "ewigen" und stark nationalistisch eingefärbten "Angst-vor-den-Russen-Thema" politische Erfahrung und Fachkompetenz nicht abgesprochen werden kann. Gewählt mit 58.998 Stimmen (7.46%) für die Liste der "Tēvzemei un Brīvībai"/LNNK.
Der Doktor der Philosophie, Linguistik-Spezialist, ehemaliger Wirtschaftsminister und jetziger lettische Parlamentsabgeordnete Arturs Krišjānis Kariņš. Ausser seiner Muttersprache Lettisch spricht er eigenen Angaben zufolge auch Englisch, Deutsch und beschäftigt sich inzwischen auch mit Arabisch. Geboren 1964 als Kind lettischer Eltern in den USA, kehrte Mitte der 90er Jahre ins Heimatland seiner Eltern zurück und betätigte sich als Unternehmer und Politiker. Teilweise Gastlektor der Sozio-Linguistik an der Universität Lettlands, als einer der Mit-Gründer der Partei "Jaunais Laiks" (Neue Zeit) angesehen. Gilt als entschiedener Vertreter eines freien Marktes und - schon aufgrund seiner Herkunft - wahlweise, je nach politischem Standpunkt - entweder als "enger Freund" oder auch "Agent" der USA in Lettland. Gewählt mit 52.725 Stimmen (6,66%) für die Liste der Jaunais Laiks, die bisher 2 Mandate im Europaparlament hatte, und sich der EPP-ED (Europäische Volkspartei / Christdemokraten) zurechnet.
Die Absolventin der lettischen Kunstakademie, Kunstwissenschaftlerin, ehemalige Botschafterin und Aussenministerin Lettlands, und "beinahe-EU-Kommissarin" (als ein Regierungswechsel doch noch jemand anders ins Amt hob): Sandra Kalniete. In mehrere Sprachen übersetzt ist inzwischen ihr Buch, in dem sie von den Strapazen der plötzlichen Verbannung ihrer Elterin nach Sibirien berichtet (Kalniete wurde 1952 in Tomsk geboren), und von ihrer Rückkehr nach Lettland. Berühmt oder (je nach politischem Standpunkt) berüchtigt ist auch ihr Auftritt auf der Buchmesse Leipzig, als viele ihren Reden eine Gleichsetzung der Verbrechen von Stalinismus und Nationalsozialismus entnehmen meinten zu müssen. In Lettland wird sie wegen der Art ihres Auftretens manchmal als etwas steif und unflexibel angesehen, ist gleichzeitig aber eines der wenigen "international bekannten Gesichter" über die Lettland bei der Wahrnehmung lettischer Interessen verfügen kann. Sie war Ende der 80er Jahre ein der Führungsfiguren der lettischen Unabhängigkeitsbewegung, galt als Präsidentschaftskandidatin, als Aussenministerin noch parteilos, dann Mitglied der "Jaunais Laiks". Nun gründete sie zusammen mit einem "alten Weggefährten", Girts Valdis Kristovskis, bisher EU-Parlamentarier und nun Fraktionsführer und Bürgermeisterkandidat im Stadtrat Riga, eine neue auf die rechte Mitte gerichtete politische Gruppierung namens Pilsoniskā savienība (zu übersetzen etwa mit "bürgerschaftliche Vereinigung"). Kalniete spricht Englisch, Französisch und Russisch, und gibt Lesen und Handarbeiten als Hobbies an. Eine ihrer Verbindungen nach Deutschland und Frankreich ist ihre Funktion als Mitglied im Aufsichtsrat der Robert-Schuman-Stiftung, dort sitzt auch Deutschlands Innenminister Wolfgang Schäuble. Kalniete ist gewählt mit 192.533 Stimmen (24,33% - 2 Sitze) für die Liste der Pilsoniskā savienība.
Die Ökonomin Inese Vaidere. Vaidere spricht ausser Lettisch auch Englisch und Deutsch, und etwas Französisch und Italienisch. Jahrgang 1953. Anfang der 90er Jahre zunächst bei der Zeitschrift "Labrīt" als Redakteurin tätig, vor 2004 dann in mehreren internationalen Ämtern tätig (u.a. Vorsitzende der Umweltkommission der HELCOM), auch Abgeordnete im Stadtrat Riga und kurzzeitig stellvertretende Bürgermeisterin. Damals Beraterin verschiedener Politiker/innen und auch der lettischen Präsidentin Vike-Freiberga. Auch ein Studienaufenthalt am Kieler Institut für Weltwirtschaft macht Inese Vaidere für Kontakte der konservativen Kreise aus Deutschland sicher zur geeigneten Ansprechpartnerin. In ihren vielen Funktionen mal mehr für Wirtschaftsbelange, mal mehr für Umweltbelange eintretend, aber sicher dafür, dass sich beides nicht allzuweit voneinander entfernt. Seit 2004 EU-Abgeordnete für die rechts-nationale "Tevzemei un brivibai", wechselte aber die Fraktion und schloss sich jetzt gleichfalls wie Kalniete der "Pilsoniskā savienība" an. Arbeitete bisher als einzige Lettin im aussenpolitischen Ausschuß der EU. - Unklar bleibt, ob sich diese beiden Abgeondneten der PS dann - wie früher die vier "Tevzemei"-Entsandten, gleichfalls der Fraktion UEN im Europaparlament anschließen werden ("Europa der Nationen" - gilt als Europa-kritisch, in Deutschland bisher keine politischen Partner). Vaidere scheint dies in ihrem privaten Blog zu favorisieren. Gewählt ebenfalls mit192.533 Stimmen (24,33%) für die Liste der "Pilsoniskā savienība".
Der lettische EU-Abgeordnete Nr. 8 ist noch nicht klar, da in Lettland von den Wählern auch bei den Europawahlen mit sogenannten "Plus- und Minuszeichen" gearbeitet werden konnte. Das heisst, jede/r Kandidat/in konnte mit Zeichen der besonderen Zu- oder Abneigung versehen werden.
Ein weiterer Platz im Europaparlament steht der Partei "Saskaņas Centrs" zu. Je nachdem, wer von beiden nun die größere Gunst der Wähler/innen auf sich gezogen hat, wird dies entweder BORISS CILEVIČS oder SERGEJS MIRSKIS sein.
In Lettland wird sogar in der Presse noch ein möglicher Platz 9 im EU-Parlament diskutiert - dieser würde vergeben, wenn der neue EU-Vertrag doch noch scheitern sollte und die alte (bisherige) Sitzverteilung beibehalten werden müsste.
Und noch kurz zur Wahlbeteiligung: teilweise steht ja in einigen deutschen Medien, "in Osteuropa" sei fast niemand zur Wahl gegangen. Für Lettland (wie auch für Estland) gilt das nicht. Zwar hat die Menschen der Kommunalwahlkampf vermutlich mehr zur Beteiligung angespornt als die Europawahl (wo ja nur Abgeordnete ins ferne Brüssel entsendet werden, aber keine Regierung gewählt wird). Aber die unten stehende Karte macht visuell sichtbar, dass lettlandweit 53,67% gewählt habe bei der Europawahl (in Riga: 58,9%). Hellblaue Bezirke stehen für über 40% Beteiligung, dunkelblaue für über 60%.
Nachtrag:
Inzwischen wurde auch der achte erfolgreiche Kandidat aus Lettland für einen Sitz im Europaparlament bekannt gegeben. Es ist Aleksandrs Mirskis (Saskaņas Centrs), der trotz Platz 3 auf der Liste seiner Partei am zweitmeisten Sympathiebekundungen (Pluszeichen auf der Wahlliste - 53.699 gegenüber 36.358 für den Kandidaten auf dem 2.Listenplatz) einheimsen konnte. Mirskis ist gegenwärtig Abgeordneter des lettischen Parlaments.
1 Kommentar:
An dieser Stelle will ich einmal DANKE für die tolle Berichterstattung sagen! In den etablierten deutschsprachigen Medien läuft Lettland ja in der Regel ganz weit hinten. Wo bekommt man sonst deutschsprachige Hinweise zu den lett. Europa- und sonstigen Wahlen?
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