Momentan ist es schwer zu entscheiden, welche politischen Schlagzeilen in Lettland das größere Aufsehen erregen: die brutalen Kürzungen im Haushalt, die durch die nationalkonservative Regierung momentan tagtäglich verkündet werden (Sparen oder Untergehen?), oder die Ankündigung eines neuen Führungstandems im Stadtrat von Riga.
Nur noch vier Parteien im Stadtrat vertreten zu haben, ist für lettische Verhältnisse sehr ungewöhnlich. Dass aber nun ein Kandidat für die Wahl eines neuen Bürgermeisters von Riga vorgesehen ist (die Wahl ist für den 1.Juli termininiert), der vor wenigen Tagen gerade mal seinen 33.Geburts- tag feiern konnte, ist mindestens genauso über- raschend. Zwar sind schnelle Karrieren ja in der nach 1991 total umgekrempelten Gesellschaft und Wirtschaft Lettlands nichts Ungewöhnliches - aber es gibt doch einiges, was Nils Ušakovs von solchen neuen Emporkömmlingen bisherigen Typs unterscheidet, und was genaueres Hinsehen lohnt.
Ušakovs auf dem Thron, Šlesers am Drücker
Offenbar kommt es in Riga tatsächlich zur Zusammenarbeit zwischen "Pirmā Partija / "Latvijas Ceļš" (Erste Partei / Lettischer Weg) und "Saskaņas Centrs" (SC - "Eintracht-/Harmoniezentrum"). Beide Parteien zusammen verfügen im neuen Stadtrat von Riga - wo mehr als die Hälfte der bisherigen Volksvertreter NICHT wiedergewählt wurden - über eine scheinbar solide Mehrheit von 38 der 60 Sitze. Scheinbar unvermeidlich schien "Bulldozer" Ainars Šlesers als neuer Chef im Stadtrat, mit agressiven Wahlkampfsprüchen und langjähigen, stets unverhohlen vorgetragenen persönlichen Ansprüchen auf einen "Chefsessel". Seine Partei bringt 12 Sitze in diese neue "Ehe" ein. Nun wird Šlesers Vize-Bürgermeister, soll speziell für Fragen der Wirtschaft zuständig sein.
"Saskaņas Centrs" wiederum vereinigt eine gemeinsamen Liste mehrerer links und pro-russisch orientierter Gruppierungen: das "Jaunais Centrs" (Neue Zentrum), die "Daugavpils pilsētas partija" (Partei der Stadt Daugavpils), die "Latvijas Sociālistiskā partija" (Lettische sozialistische Partei), die "Sociāldemokrātiskā partija" (Sozialdemokratische Partei) und die "Tautas saskaņas partija" (TSP - aus deren Reihen auch Ušakovs stammt). In den lettischen Medien wurde penibel nachgezählt, wieviele Vertreter welcher Gruppierungen nun für die SC in den Stadtrat rücken: 11 von 26 entstammen der TSP, seien also "Ušakovieši" ("Ušakovisten" - so TVNET).
Ein weiteres Argument pro Ušakovs entspringt den Feinheiten des lettischen Wahlrechts. Wählerinnen und Wähler können nicht nur Parteien und deren Listen ankreuzen, sondern auch Kandidat/innen auch durch Streichung negativ oder durch Pluszeichen positiv bewerten. Allein 62.784 Wähler/innen setzen ihr "Plusiņš" beim Namen Ušakovs - damit lag er weit vor allen anderen Kandidaten.
Kein unbeschriebenes Blatt
Ušakovs, geboren am 8.Juni 1976, verbrachte seine Kindheit hauptsächlich im Rigaer Vorort Imanta. Die Eltern zogen nach dem 2.Weltkrieg hier hin, die Mutter war Russisch-Lehrerin, der Vater Ingenieur. Beide Eltern bekamen die lettische Staatsbürgerschaft 1999, auch der Sohn verbesserte seine Lettisch-Kenntnisse auf einer Privatschule, studierte Sozialwissenschaften und Ökonomie an der Universität Lettlands, kurzzeitig auch an der Süddänischen Universität Odense.
Was Ušakovs heute nicht mehr anzusehen ist: bis zum Alter von 16 Jahren nahm er Box-Training, er galt als talentiert. Nach Beendigung seiner Ausbildung aber wandte sich der studierte Ökonom dann der Journalistik zu. Er jobbte beim russischen Fernsehsender NTV, dann beim lettischen LTV, beim Rigaer Sender TV5 als Redakteur und später Co-Produzent verschiedener Sendungen, sowie auch bei den Zeitungen "Telegraf" und "Respublika". Als Ušakovs 2005 die Führungsposition bei "Saskaņas Centrs" übernahm, leitete er die russische Nachrichtenagentur "ITAR-TASS" und war Nachrichtenredakteur beim unter Russischsprachigen in Lettland beliebten im Jahr 2002 gegründeten Sender "Pirmā Baltijas kanāla" (PBK - "Baltischer Fernsehkanal 1"), dessen Programm auf dem "Kanal 1" in Russland basiert.
Seit 2006 ist Nils Ušakovs Abgeordneter des lettischen Parlaments.
Reaktionen: keiner möchte überrascht worden sein
Noch sei es zu früh um entscheiden zu können, ob auch "Jaunais Laiks" (Neue Zeit), die Partei des gegenwärtigen Regierungschefs Valdis Dombrovskis - selbst erst vor 100 Tagen ins Amt gekommen - einen Bürgermeister namens Ušakovs unterstützen könne - so JL-Bürgermeisterkandidat Edgars Jaunups gegenüber lettischen Medien. Anders als die häufig in der deutschen Politik kurz nach Wahlen populären Äusserungen, dass gemeinsame politische Ziele wichtiger seien als Pöstchenverteilung, wird es hier anders herum gestrickt: Ein Zeichen dafür, welches "Arbeitsmodell" ein neuer Bürgermeister Ušakovs habe, so Jaunups, sei darin zu sehen, welchen Personen Ämter angeboten würden. Bisher sei nicht sichtbar, dass es auch Angebote an die Opposionsparteien im Stadtrat geben werde, so Jaunups (TVNet 15.6.).
Šlesers und Ušakovs selbst machten auf ihrer Pressekonferenz in dieser Woche klar, dass sie eher auf Konfrontationskurs gehen wollen zur bisher vorherrschenden Politik. "Die amtierende Regierung wird kein langes Leben mehr haben," so versuchten sie ihre Wunschvorstellungen in Worte zu fassen. Eine der möglichen Strategien hätte es auch sein können, eine der eher lettisch-konservativen Parteien "mit ins Boot" zu nehmen, um längerfristig mehr Partner zu haben, für die auch auf nationaler Ebene die SC als Regierungspartei akzeptabel ist. Schon mehrfach scheiterte die SC bei vergangenen Regierungsbildungen an den typischen Ängsten der nationalpatriotischen Parteien: müssen wir jetzt wieder aufgeben Lettisch zu sprechen? wird es wieder zweisprachige Straßennamen geben? Wird auf den Behörden nun problemlos wieder Russisch gesprochen, so dass die Russen wieder kein Wort der Landessprache lernen und bequem warten können, bis die (höflichen) Letten ins Russische überschwenken?
Statt auf solche Annäherungsversuche und allmählichen Abbau von (verständlichen?) Ängsten zu bauen, die endlich auch die ethnisch-politischen Grenzen einmal aufweichen helfen könnten, kommt also nun ein Zeichen der momentan gefühlten Stärke. Wie war es noch gleich? Die "Chancen der Krise". Wer den mehrfachen Ex-Minister Ainārs Šlesers kennt, der notfalls auch knapp am Bestechungsskandal vorbeigeht (siehe "Jurmalgaite"), der meint heute sagen zu können: Šlesers schreibt, Ušakovs redet.
Einschnitte, Propheten, Soldaten
Aber die Ereignisse sind ja eh schon dramatisch genug: am Tag nach der Ušakov-Äusserung zum angeblichen kurzen Leben der jetzigen Regierung tritt erstmal der Gesundheitsminister zurück. Grund: Er könne die vorgesehenen Einschnitte in die medizinische Versorgung Lettlands nicht mittragen (siehe NRA 17.6.). Regierungschef Dombrovskis dazu: "Er geht den leichten Weg, sich aus der Verantwortung zu verabschieden. Ich verstehe mich wie ein Soldat, und bin daher bestrebt ehrenhaft meine Aufgaben zu erfüllen." Dombrovskis weiterhin (LA am 17.6.): am 25. oder 26.Juni werde klar werden, ob Lettland auf der Grundlage der harten Sparmaßnahmen weitere internationale Kredite (Dombrovskis erwähnt eine in Aussicht stehende Summe von weiteren 1,2 Milliarden Euro) zugestanden werden.
Lettlands Finanzminister Einars Repše ergänzt: "Lettland kann sich das bisherige Rentenssystem einfach nicht mehr leisten" (LA 16.6.) - das sagt derselbe, der in seinen jungen Jahren als Chef der Bank von Lettland zunächst die "lettischen Rubel" und dann die lettische Währung Lats einführte. Jung-Bürgermeister Ušakovs dagegen lässt folgende Devise momentan auf seinem persönlichen Blog voranstehen: "Die Bewältigung der gegenwärtigen Krise gibt uns eine Möglichkeit, die Fehler, die in den 18 Jahren seit 1991 gemacht wurden, auszubessern. Eine solche Chance dürfen wir nicht vorbeiziehen lassen!" Die kommenden Wochen werden zeigen, ob hiermit nur persönliche Profilierungschancen oder Durchsetzung von Einzelinteressen gemeint sind, oder Zusammenarbeit möglichst vieler Parteien mit dem Ziel der schnellstmöglichen Überwindung der Krise - zum Wohle Lettlands und seiner Bürgerinnen und Bürger.
Schon heute (18.Juni 2009) wird es eine Großdemonstration der lettischen Gewerkschaften, zusammen mit anderen Organisatoren, geben. Auch in anderen größeren Städten Lettlands(Liepāja, Jelgava, Daugavpils und Valmiera) werden die Menschen auf die Straße gehen. Die verlangen vor allem, dass auch ihre Stimme Gehör und Beachtung findet.
Niemand kann in Lettland momentan einfach so sich in eine Sommerpause oder in Parlamentsferien verabschieden. Zu befürchten ist, dass nun ein Schaukampf der Koalitionsmodelle beginnt: die im Stadtrat der Hauptstadt bestimmtenden Parteien werden der Regierung zeigen wollen, dass "ohne sie nichts geht". Manche - wie einige Rentnervereinigungen - hoffen sogar auf den (vor einiger Zeit noch eher unbeliebten) Präsidenten Zatlers und erwarten von diesem sogar, dass er Parlament und Regierung entlässt und "die Macht übernimmt". Ich glaube nicht, dass sich sehr viele eine Wiederholung der Tumulte des 13.Januar wünschen. Aber dass auch in Krisenzeiten die Demokratie erhalten bleibt und nicht durch bloßen Populismus ersetzt wird, das scheint keine leichte Aufgabe zu sein!
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